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Die Hausfrau öffnete die Tür nicht, sondern riß sie auf, sowie sie nur Asbjörn Krags Stimme draußen hörte. Und als sie ihn sah, strahlte ihr Gesicht förmlich vor Freude, und sie rief aus tiefstem Herzen: »Gott sei Dank, da sind Sie ja wohlbehalten!«
Der Detektiv sah sie mit gerunzelten Brauen an.
»Nanu,« rief er. »Jetzt haben Sie sicher trotz aller Ermahnungen wieder eine Dummheit angestellt.«
»Ich?« fragte die Hausfrau erstaunt. »Ich habe doch überhaupt nicht das mindeste getan.«
»Warum sind Sie denn so froh, mich wohlbehalten zu sehen?«
»Ich dachte, ich glaubte,« begann die Hausfrau zu stammeln.
»Ich bin sicher,« brach Krag barsch ab, »daß jemand dagewesen ist und nach mir gefragt hat.«
»Nein, es ist gar niemand dagewesen, niemand hat gefragt,« beteuerte die Wirtin.
Krag setzte sich und dachte einen Augenblick nach. Der junge Telegrapheningenieur stutzte, als er das Gesicht des Detektivs betrachtete. Noch nie hatte er ihn so brutal gesehen.
»Aber Sie haben doch meine Botschaft bekommen?« fragte Krag, an die Frau gewendet.
»Das schon,« erwiderte sie, »und darum bin ich eben so froh, Sie zu sehen. Ich weiß ja von früher her, daß es immer Ernst ist, wenn Sie Ihre Revolver holen lassen.«
»Ja so, meine Revolver. Wie sah denn der Bote aus?«
»Der Bote,« erwiderte die Frau im höchsten Grade erstaunt. »Das war doch natürlich dieser Wachmann.«
»So, dieser Wachmann? Wirklich? Sie sind eine Gans, Sie können gehen.«
Die unglückliche Frau zog sich eiligst durch die Tür zurück.
Krag sprang ärgerlich auf.
»Jetzt hat sie mir durch diese Dummheit das Ganze verdorben,« sagte er.
»Sie haben Ihre Revolver also nicht holen lassen?« fragte der Telegrapheningenieur.
»Nein, keineswegs.«
»Aber wer war dann der Wachmann?«
»Natürlich einer von Barras Helfershelfern, wenn er es nicht selber war. Barra hat auf jeden Fall mit größter Leichtigkeit herausgebracht, daß ich nicht krank bin. Jetzt handelt es sich nur darum, ob er nicht zuviel von dem ahnt, was ich inzwischen entdeckt habe.«
Im selben Augenblick läutete die Wohnungsglocke.
»Das ist der Doktor,« sagte Holst, »aber der Rotbärtige ist mit.«
»Natürlich,« erwiderte Asbjörn Krag. »Eigentlich hätte ich jetzt simulieren sollen, aber das hat also keinen Zweck.«
Man hörte zwei verschiedene Männerstimmen aus dem Vorzimmer.
Holst und der Detektiv nickten einander verständnisvoll zu.
Man hörte den Doktor sehr laut sprechen.
Der Telegrapheningenieur sagte sich, daß er das tat, um Asbjörn Krag zu warnen.
Einen Augenblick darauf wurde die Türe geöffnet und die Portieren zurückgeschlagen.
Ingenieur Barra trat zuerst ein. Hinter ihm kam der Arzt, der einen erschreckten Ausruf ausstieß, als er sah, daß Asbjörn Krag nicht zu Bett lag, sondern frisch und munter an seinem Arbeitstisch saß.
Barra schien nicht im geringsten überrascht. Keine Miene zuckte in seinem schlaffen Guttaperchagesicht.
Asbjörn Krag stand auf und ging Barra entgegen.
»Es freut mich, daß Sie gekommen sind,« sagte er. »Sie haben vielleicht erwartet, mich krank und bettlägerig zu finden.«
Barra sah ihn an. Er trug starke Brillengläser, die seine Augen seltsam und groß machten.
»Nein,« erwiderte er trocken.
»Sie bedienen sich einfacher Mittel,« fuhr Krag fort. »Dieser Wachmann war doch gar zu gewöhnlich für einen so genialen Mann wie Sie.«
»Die einfachsten Mittel sind noch immer die wirksamsten,« erwiderte Barra.
»Nun wohl, da es also Ihnen gelungen und mir mißlungen ist, habe ich nichts mehr mit Ihnen zu reden.«
»Das weiß ich,« sagte Barra. »Und hätten Sie nur mit mir zu reden gehabt, so wäre ich nicht hergekommen. Die Sache ist die, daß ich gern ein Gespräch mit Ihnen haben möchte.«
»Ich stehe zur Verfügung,« erwiderte Krag, und indem er sich an den jungen Telegrapheningenieur und den Arzt wendete, fuhr er fort:
»Lassen Sie uns einen Augenblick allein!«
Die beiden verließen das Zimmer, und Krag schloß die Türe hinter ihnen.
»Kann niemand unsere Unterredung hören?« fragte Barra.
»Auf Ehrenwort – niemand.«
»Gut. Ich glaube Ihnen.«
Barra setzte sich.
»Ich bin voll Bewunderung für Sie,« sagte er.
Der Polizist lächelte.
»Wollen Sie mir nur das sagen?«
»Nein,« erwiderte Barra, »ich wollte Sie unter anderem fragen, ob Sie denn glauben, daß ich wirklich solch ein ganz gewöhnlicher Verbrecher bin?«
Krag wartete zwei Sekunden, bevor er antwortete. Er ahnte eine Falle. Plötzlich rief er laut:
»Ja, das glaube ich.«
»Daß ich ein ganz gewöhnlicher, kommuner Verbrecher bin?«
»Nein, das nicht, aber daß Sie ein genialer Verbrecher sind. Sie befassen sich nicht mit Diebstählen unter einigen Hunderttausend.«
»Wenn ich Ihnen jetzt sage,« fuhr er fort, »daß ich das Geld mit einem idealen Ziel vor Augen sammle – zum Beispiel in der Absicht, eine große Erfindung ins Leben hinauszutragen –, werden Sie mir dann glauben?«
»Nein,« erwiderte Krag, »dann würde ich glauben, daß Sie versuchen, sich interessant zu machen.«
Barra zuckte die Achseln.
»Ich höre zu meiner Freude, daß Sie ganz ahnungslos sind,« sagte er.
Ein unmerkliches Lächeln huschte über das Gesicht des Polizisten. Barra fuhr fort:
»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen.«
»Und das wäre?«
»Daß Sie mich in Frieden lassen. Ich arbeite doch für ein ideales Ziel.«
»Welches Ziel?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich schlage Ihnen also vor, daß Sie mich in Frieden lassen, dafür verspreche ich Ihnen, daß bei der Ausführung meiner Pläne kein Menschenleben zugrunde gehen wird. Gehen Sie darauf ein?«
»Ihr Vorschlag ist von vornherein abgelehnt,« erwiderte Krag, »meine Stellung als Polizist verbietet mir, darauf einzugehen.«
»Ich könnte Ihnen näher erklären, was ich meine.«
»Ist nicht nötig.«
Barra erhob sich.
»Gut,« sagte er, »wir können also nicht einig werden.«
»Um so schlimmer für Sie.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine,« sagte Barra, und seine Stimme bekam einen harten Klang, »ich meine, daß es jetzt erst Ihr Leben gilt.«
»Mein Leben?« erwiderte Asbjörn Krag, »glauben Sie, daß ich je dieser Sache übertriebene Aufmerksamkeit zugewendet habe?«
»Sehr möglich,« gab Barra mit einer kurzen Verbeugung zurück. »Aber ich kann Ihnen versichern, daß Ihr Leben noch nie so bedroht war, wie von dem Augenblick an, in dem ich dieses Zimmer verlasse.«
»Ich habe Sie so allmählich kennengelernt, Ingenieur Barra,« erwiderte der Polizist. »Darum zweifle ich auch nicht an dem Ernst Ihrer Drohung.«
»Sie ist auch ganz bedeutend ernst. Sie sind ein Kind des Todes.«
»Aber sehen Sie denn nicht ein, daß ich Sie sofort arretieren lassen kann?«
»Gewiß, Herr Detektiv. Aber das würde eine höchst unerquickliche Affäre für die Polizei werden. Haben Sie Beweise, so gebe ich mich gern gutwillig in Ihre Hände,« fügte er mit einer ironischen Verbeugung hinzu.
»Gutwillig,« erwiderte Krag ebenso spöttisch. »Das wäre zuviel verlangt. Immerhin sind Sie gerade in der Höhle des Löwen.«
Barra wies auf das Fenster und bat Krag, einen Augenblick zur »Höhle« hinauszusehen.
Krag trat an das Fenster, öffnete es und blickte hinaus.
»Ja,« rief er gleichgültig. »Vor dem Tore sehe ich einen Wagen und ein paar Herren, die auf und ab gehen und warten. – Ja, was denn?« fügte er hinzu und war wie der Blitz an seinem Schreibtisch, denn Barra hatte den Augenblick benützt, den Krag zum Fenster hinaussah und hatte mit einer blitzschnellen Bewegung ein Kästchen, das darauf stand, geöffnet.
Barra lachte jetzt laut: »Ich wollte Sie nur von Ihren Revolvern wegkriegen! Sehen Sie! Jetzt haben Sie sich schon wieder überlisten lassen: gleich sind Sie zum Fenster hingekrochen. Ich überliste Sie glücklicherweise immer!«
»Glauben Sie?« Krag runzelte die Stirn, er fühlte, wie er sich über die Frechheit des andern ärgerte. »Sie vergessen, Herr Barra, daß Sie ganz und gar in meiner Gewalt sind. Ich habe zwei kräftige Freunde im Nebenzimmer.«
»Pst!« Barra hob den Finger. »Können Sie, Herr Detektiv, den Lärm im Stiegenhaus hören?«
»Ja. Man repariert das Eisengeländer. Es ist schon längere Zeit schadhaft.«
»Nun eben! Aber das sind meine Leute, die aufpassen, ob jemand wagt, Hand an mich zu legen. Das sind drei muskulöse Männer, müssen Sie wissen. Und es ist nur ein Revolverschuß nötig, so sind die Kerle hier drinnen! Verlassen Sie sich darauf, Herr Detektiv!«
Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf das Waffenkästchen auf Krags Schreibtisch.
Krag bedachte sich einen Augenblick. Dann ging er rasch auf die Türe des Nebenzimmers zu und öffnete sie.
»Bitte sehr, meine Herren,« sagte er zu Holst und dem Doktor dort drinnen, »kommen Sie nur herein. Ich habe ihm nichts mehr zu sagen und wünsche auch nichts mehr von ihm zu hören.«
Als die beiden Herren kamen, verbeugte sich der Rotbärtige vor dem Polizisten und ging auf die Türe zu.
»Vergessen Sie nicht, Ihre Handwerker mitzunehmen!« rief Krag ihm nach.
»Nein,« erwiderte Barra, »ich werde schon nichts vergessen. Wenn ich gehe, ist ihre Gegenwart auch ganz überflüssig.«
»Vermutlich,« bemerkte Krag trocken.
Noch einmal wendete sich Barra in der Türe um und sagte:
»Wann immer Sie sich an einer Angelegenheit, die sich um hunderttausend Kronen dreht, beteiligen wollen, wenden Sie sich nur an mich! Ja – trotz alledem, Herr Detektiv.«
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Die andern horchten einen Augenblick seinen raschen Schritten die Treppe hinunter. Gleichzeitig hörten die Schläge auf das Eisengeländer auf.
»Seine Helfer sind also auch fort,« rief Krag und fügte hinzu: »Wir sind von Feinden umschwärmt gewesen, meine Herren, dieser Rotbärtige ist doch mächtiger, als wir armen Diener der Gerechtigkeit glauben.«
»Was wollte er?« fragte der Arzt.
»Er wollte ein Abkommen mit mir treffen. Er bat mich, ihn in Frieden zu lassen.«
»Was Sie zurückwiesen?«
»Selbstverständlich.«
»Es kam mir vor, daß er ein Honorar nannte?«
»Ja,« lächelte Krag, »jedenfalls nicht unter hunderttausend Kronen.«
»Was wollen Sie, daß wir tun?« fragte der Arzt.
»Gehen Sie zum Ostbahnhof,« erwiderte Krag, »und erwarten Sie mich dort. Ich komme gleich nach. Wir müssen die Lokomotiven durchgehen. Ich bin sicher, daß Ingenieur Barra sich daran zu schaffen gemacht hat.«
Der Arzt und der Ingenieur verließen Krag, um sich zum Ostbahnhof zu begeben. Hier warteten sie über eine halbe Stunde, bis Krag kam.
»Sie sehen angegriffen aus,« sagte der Doktor, als Krag in den Wartesaal trat.
»Wir leben doch auch in einer ernsten Zeit,« erwiderte dieser lächelnd.
»Wie das?«
»Sechsunddreißig Stunden wird mir jetzt ununterbrochen nach dem Leben getrachtet werden.«
»Ist das möglich?«
»Ja,« erwiderte Krag, »darüber bin ich mir ganz klar. Sie wissen doch, Holst,« fügte er hinzu, »daß ich in meiner Wohnung Gas habe.«
»Das weiß ich sehr gut,« erwiderte der Ingenieur, »und Sie haben mir ja immer gesagt, wie praktisch das ist.«
»Jawohl, aber jetzt habe ich dafür gesorgt, daß die Leitung abgesperrt wird, so daß in den nächsten drei Tagen kein Gas in meine Wohnung kommen kann.«
»Aber warum in aller Welt haben Sie das getan?«
»Weil ich keine Gasvergiftung wünsche,« erwiderte Krag ernst. »Es ist übrigens nicht der einzige Mechanismus, dem ich entronnen bin. Sehen Sie hier,« fuhr er fort, »betrachten Sie einmal diesen Revolver!«
Der Detektiv zeigte den Herren einen Revolver, dessen Mechanismus auseinandergenommen war.
»Den fand ich in meinem Waffenkästchen,« sagte er. »Er gleicht einem meiner eigenen Revolver auf ein Haar, aber ich entdeckte doch sofort, daß es nicht der meine war. Ich sah, daß Ingenieur Barra sich an dem Waffenkästchen zu tun gemacht hatte, natürlich hat er ihn ausgetauscht. Da mir nichts Gutes schwante, untersuchte ich den Revolver sehr genau und vorsichtig, und es zeigte sich, daß sein Magazin mit einem gewaltigen Stück Sprengstoff gefüllt war. Der Revolver war nicht geladen, aber im selben Augenblick, in dem ich versucht hätte, ihn zu laden, würde der Höllenmechanismus gewirkt haben, und dann hätten Sie mich höchstwahrscheinlich nicht hier gesehen, meine Herren.«
»Aber das ist doch entsetzlich,« murmelte der Arzt, »das ist ...«
Er wurde von einem kleinen, schwarzäugigen Judenjungen unterbrochen, der Apfelsinen auf einem Brett feilbot.
»Apfelsinen, Apfelsinen! Frische, saftige Apfelsinen.« rief der Junge.
Krag wollte ihn zuerst abweisen, dann überlegte er es sich und kaufte darauf dem Jungen eine Apfelsine ab, der gleich darauf durch die Türe verschwand.
»Das ist nicht die einzige Gefahr, der ich entgangen bin,« sprach Krag weiter. »Als ich aus meiner Wohnung auf die Straße trat, fielen plötzlich drei Ziegelsteine vom Dach und zerschellten auf dem Trottoir – eine halbe Elle vor mir. Noch ein Schritt, und ich wäre sicher erschlagen worden. Sehen Sie sich jetzt zum Beispiel diese Apfelsine an, die mir von diesem kleinen, schwarzäugigen Halunken gebracht wurde.«
Er riß die Apfelsine auseinander und reichte dem Arzt die eine Hälfte.
»Riechen Sie mal,« sagte er, »ich wette, daß auch dies eine Falle ist.«
Der Doktor schnüffelte lange an der Apfelsine.
»Zyankali,« murmelte der Arzt und erbleichte. »Eines der gefährlichsten Gifte, die es gibt. Es ist erst vor wenigen Minuten eingespritzt worden. Das ist doch das Teuflischste, was mir je untergekommen ist.«
Die drei Männer, von einigen Maschinisten der Eisenbahn begleitet, untersuchten nun alle vorhandenen Lokomotiven. Namentlich wurde die Schnellzugslokomotive Nummer 72 sorgsam geprüft. Schließlich wurde sogar eine Probefahrt veranstaltet, aber man fand nicht den geringsten Fehler an dem Mechanismus.
Asbjörn Krag wendete sich an den Stationsvorstand und fragte, ob mit einem der nach Süden gehenden Züge eine größere Wertsendung abgeschickt werden sollte.
Der Stationsvorstand erwiderte, er habe noch keine diesbezügliche Mitteilung erhalten. Wenn Gold mit den Zügen geschickt wurde, bekam das Personal der Eisenbahn Kenntnis. Dies geschah, damit das Geheimnis der Wertsendung sich nicht verbreitete.
Da auf dem Bahnhof also nichts mehr zu entdecken war, verließen ihn die Herren. Draußen nahmen sie eine Droschke. Asbjörn Krag wurde vor dem Polizeiamt abgesetzt, die beiden anderen fuhren weiter, jeder zu sich nach Hause, da vorläufig – wie Krag sagte – nichts anderes zu tun war, als den Donnerstag abzuwarten und zu sehen, was er an mystischen und verhängnisvollen Begebenheiten bringen konnte.