Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Gegen neun Uhr am nächsten Tag fuhr Krag allein in die Ziegelei hinaus, wo er bei Tageslicht eine sorgfältige Untersuchung des ganzen Ziegelwerkes und der Umgebung vornahm.
Es gelang ihm jedoch nicht, neue, interessante Umstände zutage zu fördern, aber er sah doch seine Annahme bestätigt, daß der Wucherer nicht in der Ziegelei ermordet worden war, sondern daß man seine Leiche hinaufgebracht hatte. In welcher Absicht, ahnte der Detektiv noch nicht.
Krag hatte sich wohl gemerkt, was der Mann in dem kleinen Häuschen am vorigen Abend erzählt hatte: Die beiden, die an ihm vorbeifuhren, hatten nach dem Weg zur Villa Sand gefragt.
Der Detektiv dachte: Ein Verbrecher, der alles mit dem höchsten Grad von Schlauheit und Berechnung plant, stellt sich nicht so vor dem ersten besten Menschen bloß, den er auf der Landstraße trifft. Er mußte ja wissen, daß die Leiche in der Ziegelei einmal gefunden werden würde und daß die beiden, die im Korbwägelchen hinausfuhren, dann zur Sprache kommen mußten – wie es auch als ein sehr verdächtiger Umstand ins Gewicht fallen mußte, wenn herauskam, daß die Bewohner der Villa Sand an jenem Abend keinerlei Besuch empfangen hatten.
Der Detektiv schloß darum, daß das Paar im Korbwägelchen Bekannte in der Villa Sand hatte, und daß es ihnen wirklich an jenem Abend einen Besuch abstattete, nachdem es zuerst den Ermordeten in das Trockenhaus der Ziegelei gebracht hatte.
In der Villa Sand mußte er also erfahren können, wer die zwei mystischen Personen im Wagen waren.
Dieser Gedanke erschien dem Detektiv so einleuchtend, daß er sich sofort nach der Villa aufmachte, die auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe der Ziegelei gelegen war.
Er beschloß, zur größeren Vorsicht als Privatmann aufzutreten – als Kolporteur, Lebensversicherungsagent oder dergleichen.
Als er über den Hof ging, bemerkte er ein kleines Korbwägelchen, das in einer Ecke stand. Er konstatierte, daß zwei Menschen und eine Leiche darin Platz finden konnten.
Der Detektiv ging zum Hauseingang hinein und klopfte an. Ein Mädchen öffnete. Ob er den Besitzer des Hauses sprechen könne?
Er wurde in ein Zimmer geführt, in dem ein hochgewachsener, frischer Mann, eine typische Gutsbesitzergestalt, ihm entgegenkam. Er streckte dem Detektiv liebenswürdig die Hand entgegen und rief:
»Nein, ist das aber nett, Sie einmal zu sehen. Guten Tag, Herr Detektiv! Womit kann ich Ihnen dienen?«
Also erkannt, dachte Krag, der keinen Augenblick die Geistesgegenwart verlor. Blitzschnell hatte er einen neuen Feldzugsplan entworfen.
»Ja, das werde ich Ihnen sofort sagen,« sagte er, »wenn Sie mir eine Unterredung unter vier Augen gewähren wollen.«
Der Gutsbesitzer ging an ihm vorbei in das nächste Zimmer, und Krag benützte die Gelegenheit, um rasch eine Diamantnadel aus seiner Krawatte zu ziehen. Es war eine Nadel, die er von einem englischen Parlamentsmitglied bekommen hatte, dem er einmal in Hardanger einen großen Dienst erwiesen hatte.
»Bitte nehmen Sie Platz,« sagte der Gutsbesitzer; »ich hoffe, es ist doch nicht mit einem meiner Leute etwas vorgefallen? Oder handelt es sich vielleicht um den toten Mann unten in der Ziegelei?«
»Nein, keineswegs,« erwiderte der Detektiv, indem er dem Gutsbesitzer gegenüber Platz nahm, »es handelt sich überhaupt um kein Verbrechen.«
»Ihnen soll der Teufel glauben,« erwiderte der Gutsbesitzer, indem er laut auflachte, »Sie haben es faustdick hinter den Ohren.«
Krag zuckte zusammen. Sollte er ahnen? ... Im nächsten Augenblick schob er den Gedanken wieder von sich. Das war ja gar nicht möglich.
Er zog die Diamantnadel hervor.
»Mein Besuch bei Ihnen betrifft diese Nadel,« sagte er; »es ist eine sehr kostbare Nadel.«
Der Gutsbesitzer sah sie bewundernd an.
»Ist sie gestohlen worden?« fragte er.
»Nein, sie ist verloren.«
»Am Morgen des Zwölften fand man die Nadel hier unten auf dem Wege gerade vor dem kleinen Häuschen. Sie hat einen Wert von mindestens 500 Kronen. Die Nadel wurde vom Finder der Polizei übergeben. Wir haben nach dem Besitzer annonciert, aber es war uns nicht möglich, ihn ausfindig zu machen. Wir haben nun gedacht, daß es ein Fremder sein könnte, und haben genauere Untersuchungen vorgenommen. Der Mann, der das kleine Häuschen dort unten bewohnt, erzählt, daß am Abend vorher, also am Elften, draußen ein Wagen hielt, in dem ein junger Herr und eine Dame saßen. Sie fragten ihn nach dem Weg in die Villa Sand. Nun hat sich die Polizei gedacht, daß vielleicht diese Leute die Nadel verloren haben, und darum hat mich der Polizeichef hierhergeschickt, um nachzufragen, wer die beiden waren, die Ihnen am Elften abends einen Besuch abgestattet haben.«
Der Gutsbesitzer, der die Erklärung des Detektivs mit großem Interesse angehört hatte, erwiderte:
»Ein junger Herr und eine Dame, sagen Sie? Nein, das muß ein Mißverständnis sein. Ich habe in den letzten paar Monaten nie abends den Besuch eines Herrn und einer Dame gehabt. Es war wohl ein Brautpaar? Nein, wissen Sie, ich kenne überhaupt kein Brautpaar.«
Der Detektiv überlegte.
»Das ist aber doch seltsam,« sagte er, »sie fragten ausdrücklich nach dem Weg zur Villa Sand.«
»Ja, freilich, das klingt ganz mystisch,« warf der Gutsbesitzer ein.
»Sie kamen in einem Korbwägelchen gefahren.«
»In einem Korbwägelchen?«
Der Gutsbesitzer war aufgestanden.
»War das am Elften?« fragte er.
»Ganz richtig.«
»Am Abend, so gegen neun Uhr?«
Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Der Detektiv hatte den Eindruck, daß ein Gedanke ihn beschäftigt. Er hörte ihn in sich hineinmurmeln: »Lieber Gott, kann der eine so kostbare Nadel haben?«
»Wer?« fragte der Detektiv rasch und scharf.
Der Gutsbesitzer sah ihn an.
»Ich meine den Sekretär,« sagte er, »Sekretär Ström, der zum Umgangskreis meiner Familie gehört. Er war an einem Nachmittage vor ungefähr vierzehn Tagen bei mir. Gegen sechs Uhr bat er mich, ihm ein Pferd und das Korbwägelchen zu leihen. Er wollte ein bißchen spazierenfahren.«
»Allein?« fragte Krag.
»Ja, allein. Er sagte ausdrücklich, er wolle allein fahren.«
»Und wann kam er denn wieder?«
»Gegen neun Uhr, vielleicht war es auch schon halb zehn. Es war auf jeden Fall sehr dunkel geworden, und ich erinnere mich noch, daß ich ihn ein bißchen neckte, weil er gar so spät kam.«
»Aber die Dame?«
»Nein, eine Dame war nicht dabei. Er fuhr allein fort und kam allein zurück.«
»Hat er nicht erzählt, wo er gewesen ist?«
»Nein, er ist immer so eigen. Er wollte irgendwohin, sagte er nur. Aber ich verstehe nicht,« fügte der Gutsbesitzer hinzu, indem er einen Blick auf die Nadel warf, »wie mein Freund, der Sekretär, eine so kostbare Nadel besitzen kann.«
Der Detektiv stand auf.
»Das kann man ja freilich nicht wissen,« sagte er, »aber ich werde ihn auf jeden Fall fragen. Wo wohnt er denn?«
Der Gutsbesitzer gab ihm die Adresse des Sekretärs an.
Krag dachte nach.
Er wußte im Augenblick nicht, wie er die Sache anpacken sollte.
War der Sekretär derselbe, der an jenem Abend an dem Mann in dem kleinen Häuschen vorbeigefahren war? Aber die Dame? Was war aus ihr geworden? Der Sekretär kam ja allein in dem Korbwägelchen zurück.
Der Detektiv mußte gestehen, daß er immer auf neue Beweise für die Schlauheit dieses genialen Mörders stieß, je tiefer er in die Sache eindrang.
Sollte es ihm glücken, ihn zu entlarven, dann mußte er mit äußerster Behutsamkeit vorgehen. Durch einen einzigen Fehlgriff konnte er alle seine Chancen verderben.
Gleichzeitig mußte er sich doch sagen, daß jetzt nicht viele Stunden vergehen konnten, bis diese furchtbare Sache an einem entscheidenden Punkt angelangt war.
Nach einer Stunde befand der Detektiv sich wieder unten in der Stadt. Er untersuchte zuerst, wer und was dieser Sekretär Ström, von dem der Gutsbesitzer gesprochen hatte, eigentlich war.
Er war Sekretär in einem öffentlichen Amt.
Der Detektiv erfuhr ferner, daß Ström vor zwei Jahren von einem Aufenthalt im Auslande heimgekehrt war. Zweiundzwanzig Jahre alt, war er nach Berlin gereist. Hier daheim, hatte er damals eine kleine Geschichte gehabt, die seine Reise notwendig machte. Sobald er heimkam, erhielt er durch einflußreiche Freunde eine Anstellung in diesem öffentlichen Amt. Er stand in dem Ruf, recht pflichtgetreu und sehr begabt zu sein, er beschäftigte sich sogar mit nationalökonomischen Abhandlungen, und es hieß, daß er im Auslande viele interessante Beziehungen angeknüpft hatte. Was Krag von allen Mitteilungen über den Sekretär am wichtigsten erschien, war dies: Ström stand seit einiger Zeit in Verbindung mit einer bekannten Varietédame, die augenblicklich das Christiania, das sich amüsiert, auf den Kopf stellte. Man hatte ihn oft in ihrer Gesellschaft im Café soupieren sehen; sie hatten zusammen Ausflüge gemacht und, im ganzen genommen, den Leuten viel Stoff zum Klatsch gegeben.
Der Sekretär bewohnte eine hübsche Junggesellenwohnung in der Parkstraße; eine Witwe führte ihm das Haus.
Bevor Krag sich in die Wohnung des Sekretärs begab, warf er einen Blick in den Telephonkatalog, aber der Name des Sekretärs stand nicht darin.
Der Detektiv überlegte einige Augenblicke: Er entwarf seinen Plan.
Dann fuhr er nach Hause, in seine Privatwohnung und öffnete den großen, grünen Schrank, der die verschiedensten Umkleidungseffekten enthielt, und zog eine Tracht heraus, so ähnlich wie die, welche die Telephonarbeiter tragen – blauen Kittel mit einem Lederriemen um den Leib und verschiedene Werkzeuge, die man in den Riemen stecken konnte.
Krag wartete noch eine halbe Stunde, um ganz sicher zu sein, daß der Sekretär sich in sein Kontor begeben hatte. Dann warf er noch eine Rolle Kupferdraht über die Schulter und wanderte von dannen.
Er fand mit Leichtigkeit die Hausnummer und ging durch den Haupteingang hinein. Der Sekretär sollte im dritten Stock wohnen.
Auf der Stiege begegnete er ihm selbst.
Er erkannte ihn sofort nach der Beschreibung.
Krag dachte bei sich, daß der Mann doch nicht so besonders pflichtgetreu sein konnte; es war jetzt weit über die Kontorzeit.
Der Sekretär war sehr elegant gekleidet. Er trug ein Pincenez. Der Detektiv sah ihm einen Augenblick in die Augen und stutzte: Selten hatte er so kalte und fühllose Augen gesehen. Es waren Steinaugen. Der Polizist konnte sich nicht eines gewissen Schauders erwehren, als er an ihm vorbeiging.
Im dritten Stockwerk klingelte er. Das Namenschild des Sekretärs hing an der Tür.
Eine ältere, schwarz gekleidete Dame machte auf, und Krag drängte sich rasch an ihr vorbei in die Wohnung, indem er sagte:
»Es ist wegen des Telephons ...«
Die Dame war sehr erstaunt.
»Wir haben ja gar kein Telephon hier im Hause,« sagte sie.
Krag antwortete ganz ruhig:
»Deshalb komme ich ja eben. Der Herr Sekretär hat ein Telephon bestellt. Er will so einen eleganten, kleinen Tischapparat haben. Ich habe ihn eben jetzt im Stiegenhaus gesprochen.«
Die Frau war sichtlich etwas verwirrt.
»Er hat mir aber nicht das mindeste davon gesagt,« murmelte sie.
»Nein?« erwiderte Krag vollständig gleichgültig, indem er eine Tür öffnete. »Ist dies sein Zimmer?«
»Nein, das ist der Salon. Dort drinnen ist sein Arbeitszimmer. Da will er wohl das Telephon haben?«
»Natürlich,« erwiderte der verkleidete Detektiv und ging in das Arbeitszimmer. Seine Augen wanderten ruhelos suchend hin und her.
Die Frau folgte ihm. Sie war offenbar von recht redseliger Natur und begann sich nun darüber zu verbreiten, wie angenehm es doch sei, daß sie jetzt ein Telephon bekämen.
Krag konstatierte, daß das Arbeitszimmer des Sekretärs sehr abgesondert lag; es bildete den Abschluß der Junggesellenwohnung.
Der Detektiv sagte:
»Ich sehe, daß hier ein Teppich gelegen ist.«
»Ja,« erwiderte die Frau, »aber der ist schon lange weg.«
»Wie lange?« fragte Krag.
»Daran kann ich mich wirklich nicht erinnern.«
»Glauben Sie, daß es vierzehn Tage her sein kann?«
»Ja, so ungefähr,« erwiderte sie.
»Hat er denn den Teppich verkauft?«
»Ja.«
»Wem denn?«
»Es kam ein Junge mit einem Schiebekarren und holte ihn ab. Er war von einem Kaufmann. Syver Syversen stand auf dem Karren.«
Krag stöberte noch eine Weile im Zimmer herum, unter dem Vorwand, daß er nachsehen müsse, wo die Telephondrähte am besten zu legen wären. Dabei fand er Gelegenheit, jedes Fleckchen in der Wohnung zu untersuchen. Er kam auch in die Garderobe. Da entdeckte er einen Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit in ganz besonderem Grade erregte. Er schob ihn rasch unter seinen Kittel, ohne daß die Witwe etwas davon merkte.
Plötzlich sagte er:
»Jetzt muß ich aber gehen. Ich muß mir noch Werkzeug holen. Bitte sagen Sie dem Herrn Sekretär, daß das Telephon in einigen Tagen fertig sein wird.«