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Vor einigen Jahren lag in einer der Straßen in der Nähe des Johannishügels ein kleines zweistöckiges Holzhaus. Das war vor der Zeit der Bauwut. Das Haus ist später niedergerissen worden, um einer der großen Mietskasernen Platz zu machen. Damals standen noch nicht viele Häuser in der Straße, die schlecht gehalten und nur teilweise gepflastert war. Das erwähnte Haus bemerkte man sofort, weil es ein bißchen vorstand, mit rotbrauner Farbe überschmiert war und mitten an der Fassade ein Schild hatte, das ganz jämmerlich in seinen Angeln quiekte, wenn der Wind sich hinein verfing. Auf dem Schild stand:
A. Jonson,
Kolonial- und Fettwarenhandlung.
Es war ein Geschäft, das sich nicht sehr imponierend ausnahm; hinter dem Ladentisch stand eine alternde, dicke Frau. Es war die Witwe von »A. Jonson«, der vor mehreren Jahren gestorben war. Sie führte den kleinen Laden jetzt allein und hatte sich durch Sparsamkeit und Betriebsamkeit so viel zurückgelegt, daß sie das Haus kaufen konnte, in dem sie wohnte. An den Laden stieß eine Wohnung, bestehend aus einem größeren und einem kleineren Zimmer und einer kleinen Küche. Zunächst dem Laden und durch eine Tür damit verbunden, lag das kleinere Zimmer, das die Witwe bewohnte. Mitten in die Tür war ein rundes Loch ausgeschnitten und eine Glasscheibe eingesetzt, durch die die Witwe, so oft sie nur wollte, den Laden überblicken konnte, und auch die Straße davor.
Um in das erste Stockwerk des Hauses zu gelangen, mußte man in den Hof hinausgehen. Von dort führte eine Treppe in die obere Wohnung. Es waren eigentlich zwei Wohnungen im ersten Stock, im ganzen vier Zimmer, aber nur eine Küche. Die Küche lag in der Mitte. Die zwei Zimmer rechts benützte die Witwe als Lagerräume. Hier lagen die Paraffintonnen und die Fässer mit grüner Seife und ähnliche Dinge, die sie nicht gut unten im Laden unter all den Eßwaren haben konnte. Aber die zwei Zimmer links hatte sie vermietet. Zu dem erwähnten Zeitpunkt bewohnte sie ein älterer graubärtiger Mann. Er hatte eine gelbe Messingplatte an die Tür genagelt, und darauf stand folgendes eingraviert:
Agent Jaerven,
Umsatz von Wertpapieren.
Als dieser Agent Jaerven einzog, ahnte die Witwe nicht, wer er war oder was für eine Art von Geschäft er betrieb. Er erlegte den Zins im vorhinein, aber handelte so viel herunter, als er nur konnte. Möbel hatte er nicht viel, ein altes massives Sofa, einen großen, runden Tisch, ehemals poliert, aber ziemlich abgenützt, einige wenige Stühle, eine Kommode, ein eisernes Bett und vor den Fenstern unscheinbare rotgemusterte Gardinen. Mitten in alle diese überaus fadenscheinige Herrlichkeit schleppte man ein Ungeheuer von einer eisernen Kasse, die obendrein mit einem eigenen Sperrmechanismus versehen war. Gerade, daß sechs kräftige Packer das Ding die Treppe hinauftragen konnten, die unter der Last krachte. Die Witwe hatte damals den Agenten gefragt, was er denn eigentlich betrieb, aber hatte ausweichende Antworten bekommen.
Der alte Mann war ein tadelloser Mieter, er bezahlte präzise und betrug sich in jeder Hinsicht ordentlich. Einmal die Woche kam eine Frau und wusch seine Wäsche. Er bereitete sein Frühstück selbst, die anderen Mahlzeiten nahm er stets in der Stadt ein. Mit der Genauigkeit eines Uhrwerks verlief sein Tag. Um sieben Uhr morgens stand er auf, und um acht Uhr hörte ihn die Witwe immer die Treppe hinunterstolpern. Er blieb dann drei Stunden fort. Zwischen elf und ein Uhr hielt er sich immer in seiner Wohnung auf, und um diese Zeit konnte es oft vorkommen, daß Besuche zu ihm kamen. Viele merkwürdige Besuche übrigens. Es waren Damen und Herren, besser gekleidete und bescheidener gekleidete. Hie und da konnte es vorkommen, daß ein Wagen drüben an der Ecke hielt und ein Herr ausstieg, sich vorsichtig umsah und dann die Treppe zu Agent Jaerven hinaufschlich. Es geschah auch, aber sehr selten, daß die Witwe laute Stimmen aus dem Zimmer des Agenten hörte und Schläge auf den Tisch.
Die Witwe merkte bald, daß es wichtige Geschäfte waren, die der Agent hatte – ja, Geldgeschäfte. Aber was kümmerte sie das, wenn sie nur ihren Zins zu rechter Zeit bekam und er sich sonst in jeder Hinsicht tadellos betrug.
Der Agent zog zu Johanni ein, und etwa zwei Jahre vergingen, bevor das geschah, was nun erzählt werden soll. Es war an einem der ersten Frühlingstage des Jahres, und die Leute, die über die Straße gingen, drehten das Gesicht der Sonne zu, um zu fühlen, wie sie schon wärmte, und um auch recht zu sehen, wie hell es schon geworden war. Der Schnee war während des Tauwetters der letzten Tage aufgegangen. Es rieselte durch die Dachrinnen, und die Gassen waren aufgeweicht und schmutzig.
*
Damals war Asbjörn Krag noch aktives Mitglied des Christianiaer Detektivkorps und stand durch die Art, wie er die ihm gestellten Aufgaben löste, hoch in der Gunst seiner Vorgesetzten.
Als er sich eines Morgens im Kontor des Chefs einfand, fand er diesen in ungeduldiger Erwartung.
»Ich habe da gerade eine Sache bekommen, die wohl etwas für Sie sein wird,« sagte er. »Diese Dame hier,« – er wies auf eine ältere, korpulente Frau, die auf dem schwarzen Ledersofa des Kontors Platz genommen hatte – »diese Dame hat mir eben mitgeteilt, daß einer ihrer Mieter in ganz merkwürdiger Weise verschwunden ist.«
Krag, dessen Interesse augenblicklich erwachte, setzte sich an den grünen Tisch des Chefs.
Er war darauf bedacht, mit dem Rücken gegen das Licht zu sitzen. Es war dies eine Gewohnheit, die er in den Verhörlokalen angenommen hatte; das Tageslicht fiel dann dem, der verhört wurde, ins Gesicht, und er konnte so jeden kleinen Wechsel im Mienenspiel beobachten.
»Darf ich Sie bitten, Ihre Erzählung zu wiederholen,« sagte der Polizeichef. »Es ist notwendig, daß dieser Herr sie aus Ihrem eigenen Munde hört.«
Die Dame erhob sich in ihrer ganzen Fülle und trat näher. Die Mantille raschelte um sie. Krag bemerkte, daß sie sehr nervös und erregt war. Sie sprach auch mit leicht zitternder Stimme.
»Ich habe mir schon mehrere Tage gedacht, daß ich mich an die Polizei wenden müßte,« sagte sie, »aber habe es immer wieder aufgeschoben, weil ich hoffte, daß er zurückkommen würde. Aber nun sehe ich, daß etwas geschehen muß!«
»Von was, oder richtiger, von wem sprechen Sie?« fragte Asbjörn Krag.
»Vom Agenten Jaerven, der zwei Zimmer in meinem Hause bewohnt.«
Asbjörn Krag griff nach seinem kleinen Notizbuch und notierte den Namen. Er wechselte einen Blick mit dem Polizeichef.
»Agent Jaerven ist also verschwunden?« fragte Krag.
»Ja,« erwiderte die Dame, »und ich habe so eine Ahnung, daß ihm etwas passiert ist.«
»Wann war er zuletzt zu Hause?«
»Donnerstag abends, den Zwölften. Heute haben wir den Zweiundzwanzigsten. Also vor zehn Tagen.«
Krag nickte und notierte.
»Und Sie wissen bestimmt, daß er Donnerstag abends zu Hause war?«
»Ganz bestimmt.«
»Können Sie mir auf den Glockenschlag sagen, wann er fortging?«
»Es war so ums Dunkelwerden. Ich denke, es wird gegen acht Uhr gewesen sein.«
»Pflegte der Agent oft – vielleicht jeden Abend, um diese Zeit auszugehen?«
»Nein, durchaus nicht. Darum fiel es mir eben auf, daß er ausging. Er ging auch den vorigen Tag um acht Uhr fort, und das war noch nicht vorgekommen, soweit ich zurückdenken kann. Aber damals redete ich mit ihm, und da sagte er mir, daß er wohl bis halb zwölf fortbleiben würde.«
»War er damals anders als sonst?«
»Nein. Er sah aus wie gewöhnlich und sprach auch ganz ruhig. – Sonst kam Jaerven immer gegen sechs Uhr von seinen Nachmittagsausgängen zurück,« setzte die Dame ihre Erzählung fort. »Er schloß sich dann in seinem Zimmer ein und empfing nicht gerne Besuch. Gegen acht Uhr war er meistens in der Küche draußen und bereitete sein Abendbrot, und gleich nachdem er gegessen hatte, legte er sich nieder. So verliefen seine Abende immer; ich kann mich nicht erinnern, daß es anders gewesen wäre. Darum war ich auch so erstaunt, als ich sah, daß er diesen Abend ausging und den Abend darauf wieder. Ich weiß noch, daß ich ganz laut zu mir selbst sagte: ›Nein, jetzt ist aber Jaerven komisch! Was in aller Welt macht er noch so spät in der Stadt!‹«
Krag notierte wieder etwas in sein Notizbuch.
Dann fragte er:
»Nun, und hat der Agent schon früher am Tage irgend etwas getan, was Ihnen seltsam vorkam?«
»Nichts Besonderes,« erwiderte die Witwe, »er hat sich nur auch schon am Vormittag eingesperrt. Sonst pflegte er immer zwischen elf und ein Uhr Besuche zu empfangen; aber an diesem Tage wollte er niemand vorlassen. Er hatte die Tür von innen zugesperrt. Ich hörte ihn mit schweren Schritten drinnen auf und ab gehen. Und das war auch etwas, was er sonst nie zu tun pflegte. Wenigstens ist es mir nie früher aufgefallen.«
»Was waren denn das für Leute, die an jenem Vormittage zu ihm hinein wollten?«
Die Witwe warf einen prüfenden Blick auf den Detektiv.
»Ich weiß nicht,« erwiderte sie zögernd.
Asbjörn Krag lächelte.
»Genieren Sie sich doch nicht,« sagte er. »Ich kann Ihnen sagen, daß wir hier bei der Polizei mehr vom Agenten Jaerven wissen, als Sie, obwohl er zwei Jahre bei Ihnen gewohnt hat.«
»Ich kümmere mich nicht um anderer Leute Angelegenheiten,« gab die Witwe schlagfertig zurück.
»Na, na! Also: Was für Art Leute waren das, die den Alten besuchten?«
»Ich denke, es werden Leute gewesen sein, die sich von ihm Geld ausleihen wollten.«
»Richtig,« erwiderte der Detektiv. »Sie werden doch die ganze Zeit gewußt haben, daß Agent Jaerven Geld auf Zinsen auslieh. Dagegen ist natürlich nichts zu sagen. Aber die Sache ist die, daß er oft zu hohe Zinsen nahm, und deshalb kennen wir ihn hier so gut. Sie verstehen?«
»Ja, ich habe mir ja auch so meine Gedanken darüber gemacht,« antwortete die Witwe.
»Schön, schön! Sie wissen also nicht, warum er an jenem Donnerstag seine Kunden nicht einlassen wollte?«
»Nein, ich habe keine Ahnung. Ich hörte nur, daß Leute oben waren und an der Tür rüttelten; aber als er nicht aufmachte, gingen sie wieder. Sie werden wohl geglaubt haben, daß er nicht zu Hause ist. Er verhielt sich auch ganz still, solange jemand draußen war. Das ist mir auch aufgefallen. Hingegen habe ich mir seine Kunden nicht genauer angeschaut, ich war ja so gewohnt, sie kommen und gehen zu sehen. Nur einer von ihnen ist mir aufgefallen. Es war ein großer, dicker Mann, der rüttelte stärker als die anderen an der Klinke, und als niemand aufmachte, da fluchte und schimpfte er auf den Alten. Er stieß auch ziemlich kräftig mit dem Fuß an die Tür, bevor er ging. Gegen halb drei Uhr pflegte ich zu dem Agenten hinauszukommen, um zu fragen, ob ich bei ihm etwas behilflich sein könne, Einkäufe zu besorgen, oder dergleichen. Auch mir machte er nicht auf, er antwortete nicht einmal auf meine Frage. Den ganzen Nachmittag blieb er eingesperrt, und erst um acht Uhr ging er aus. Seither habe ich ihn nicht gesehen und auch nicht das allermindeste von ihm gehört. Der Zins ist seit sechs Tagen fällig, und den hat er doch sonst immer sozusagen auf die Minute bezahlt. In den letzten Tagen haben mir alle möglichen Leute, die ihn sprechen wollten, die Türe förmlich eingerannt. Ich glaube, es ist ihm ein Unglück zugestoßen.«
»Was für eine Art von Unglück?« fragte der Detektiv ernst.
»Ich weiß nicht, er war den letzten Tag so sonderbar.«
»Nun?«
»Wenn er sich das Leben genommen hätte?«
Ein beinahe unmerkliches Lächeln huschte über Asbjörn Krags Gesicht.
»Eine solche Handlung sieht Jaerven nicht ähnlich,« sagte er. »Ich beobachte ihn schon seit mehreren Jahren; er hat keine Verwandten, keine Freunde, aber er ist ein sehr reicher Mann. Soweit ich weiß, hat er keine Verluste irgendwelcher Art erlitten. Es scheint mir deshalb ganz unglaublich, daß er Hand an sich ... nun, wir werden schon sehen.«
Die Witwe knöpfte ihre Mantille zu und machte sich zum Gehen bereit.
Krag hielt sie auf .
»Noch eines,« sagte er. »Pflegte Jaerven viele Briefe zu bekommen?«
»Ja freilich, fast jeden Morgen kam der Briefträger und brachte ihm Post. Auch an jenem Donnerstag, wo er verschwand, kamen Briefe. Später mußte der Briefträger alle Postsachen bei mir abgeben.«
»Danke, es ist gut. Wir werden uns mit der Sache befassen. Vor allem ist es notwendig, eine Untersuchung der Zimmer Jaervens vorzunehmen. Vorläufig müssen Sie alles unberührt lassen.«
Die dicke Witwe ging, und Asbjörn Krag blieb mit dem Polizeichef allein.
»Was glauben Sie?« fragte dieser.
»Ich glaube noch nichts,« erwiderte Krag; »aber es ist ja klar, daß da irgend etwas los sein muß. Es ist ja ganz ausgeschlossen, daß Jaerven aus freiem Willen seine zahlreichen verwickelten Geschäfte im Stich gelassen hat. Ein Selbstmord ist auch höchst unwahrscheinlich.«
Der Polizeichef war ernst geworden. Er erhob sich von seinem Platz und schritt ein paarmal im Zimmer auf und ab.
»Agent Jaerven war ja ein Wucherer,« fuhr Krag fort, »darüber sind wir doch einig.«
»Ja,« warf der Chef hin, »aber es war ganz unmöglich, ihm etwas nachzuweisen.«
»Ich weiß, er war ein grausamer und hartherziger Wucherer. Einer der ganz Gefährlichen. Einer von jenen, die mit allerhand Papieren operieren.«
Der Polizeichef blieb stehen und sah seinen Beamten an.
»Was meinen Sie?« fragte er.
»Ein solcher Mann, wie Jaerven,« erwiderte Krag mit Nachdruck, »kann seines Lebens nie sicher sein.«