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Im Laufe des dritten Tages konnte Asbjörn Krag tatsächlich das Bett verlassen, aber erst am Morgen des vierten Tages fühlte er sich frisch genug, um seine Arbeit wieder aufzunehmen. Während der Dauer der Krankheit hatten ihn nur der Arzt und der junge Ingenieur besuchen dürfen. Krag hatte Holst als einen rührigen, zuverlässigen Mann schätzen gelernt, wie er auch den Arzt schon von einer früheren Angelegenheit her kannte. Von diesem erfuhr er, daß Ingenieur Barra sich richtig noch einmal an ihn gewandt hatte, um sich nach Krags Befinden zu erkundigen. Und man hatte ihm nach dem Wunsche des Detektivs mitgeteilt, daß es mindestens seine acht bis zehn Tage dauern müßte, bis Krag außer Bett sein würde. Aber es war dem Doktor vorgekommen, als ob Barra bei dieser Nachricht gestutzt und ihn mit einem wunderlich prüfenden Blick gemessen hätte.
»Er stutzte?« fragte Krag. »Zeigte er denn keine Spur der Befriedigung – ich möchte beinahe sagen, der Freude?«
»Im Gegenteil. Es sah aus, als wäre er unangenehm überrascht, und er ging mit einem Grinsen, ohne zu danken, kaum daß er grüßte.«
»Hm! So, so! Er wird doch nicht etwa ahnen.«
Nun war Asbjörn Krag sofort entschlossen, in die Stadt zu gehen. Er wollte absolut nicht mehr auf den Rat des Arztes hören, doch wenigstens noch einen Tag zu warten, um seine Kräfte zu sammeln.
»Nein, nein, jetzt gilt es, rasch zu handeln,« rief er. »Jede Stunde, die uns noch enteilt, kann verhängnisvoll werden.«
Sowohl der Doktor wie Holst wollten gerne an der weiteren Entwicklung der Sache teilnehmen und baten darum Krag inständig um die Erlaubnis, ihm weiter behilflich sein zu dürfen. Nach kurzer Ueberlegung ging der Detektiv darauf ein. Helfer mußte er ja doch haben, und da konnte er ebensogut zwei zuverlässige Freunde, die in die Entwicklung der Sache eingeweiht waren und vor Interesse und Spannung glühten, verwenden, wie irgendwelche Beamte der Detektivabteilung.
Nun waren sie also ihrer drei auf der Jagd nach dem Rotbärtigen zur Verhinderung seiner verbrecherischen Pläne. Asbjörn Krag selbst, der Doktor und der junge Telegrapheningenieur, alle gleich darauf erpicht, diesem kleinen gefährlichen Elektriker das Spiel zu verderben.
»Hoffentlich«, sagte der Detektiv, »ist Barra wenigstens jetzt noch in der Meinung, daß ich bettlägerig bin. Aber wir müssen jedenfalls überaus vorsichtig und behutsam auftreten.«
Er kramte eine Weile in seiner wohlausgerüsteten Garderobe, reich wie ein Maskengeschäft an den verschiedensten Verkleidungsgegenständen und -mitteln. Endlich fand er, was er brauchte, und begab sich wieder in sein Schlafzimmer. Der Doktor und der Ingenieur warteten in seinem kleinen Salon. Eine kleine halbe Stunde später erschien Krag wieder. Er war vollständig verändert und sah aus wie ein heimgekehrter begüterter Amerikaner oder ein glänzend gestellter englischer Geschäftsreisender. Sein schwarzes Haar war nun blond-gekräuselt, und er hatte sich einen kräftigen Vollbart zugelegt.
»Ich gehe zuerst, habe noch ein paar rasche Untersuchungen zu erledigen – wesentlich per Telephon an Hotels,« fügte er rasch hinzu. »Dann geht ihr, einer nach dem anderen, und wir treffen uns, präzise in einer Stunde, an der Ecke der Carl-Johannstraße und Ackersgasse. Wir müssen unsere Uhren vergleichen, dann kommt jeder aus einer anderen Richtung, ich aus der Carl-Johannstraße, ihr jeder aus einem anderen Teil der Ackersgasse, und wir stoßen zufällig zusammen.«
Nachdem die Uhren in Übereinstimmung gebracht waren, ging zuerst Krag, elastisch und kräftig, wieder trug er den Kopf leicht und stolz, wie ein Mann, der seiner selbst sicher ist, und niemand hätte ihm angesehen, daß er erst vor kurzer Zeit eine sichere Beute des Todes geschienen hatte. In angemessenen Zwischenräumen gingen dann zuerst der Doktor, zuletzt der Ingenieur.
Präzise zur versprochenen Stunde trafen sich die drei Bundesgenossen an der verabredeten Straßenkreuzung und begrüßten sich, die Ueberraschten spielend, auf das herzlichste.
Asbjörn Krag sprach laut und mit einem leicht merklichen fremden Akzent, so daß die Leute ihn ansahen. Sie spazierten ein Weilchen auf und ab, schienen sich dann über ein Lokal zu einigen und gingen ins Grand Café, wo sie sich in einer gemütlichen, ziemlich dunklen Ecke niederließen.
»Der Coup ist noch nicht ausgeführt,« sagte Krag mit leiser Stimme, als der Kellner ihnen die bestellten Getränke gebracht hatte, »aber nach meinen Untersuchungen zu urteilen, muß es jetzt bald losgehen.«
»Um was handelt es sich?« fragte Holst.
»Wahrscheinlich um einen Ueberfall, auf einen Eisenbahnzug, glaube ich. Barra hat viele Helfer.«
»Welchen Zug, und warum?«
»Ich kann es noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich vermute, daß die eine oder andere Wertsendung in dem Zuge befördert wird, auf die er die Hand legen will.«
»Wertsendung, Diamanten vielleicht?«
»Kaum. Es ist mir noch unmöglich gewesen, darüber Klarheit zu erlangen. Eher dürfte es die Abbezahlung einer Staatsanleihe sein oder irgendeiner anderen ausländischen Kapitalplacierung.«
»Aber wie kann Barra davon erfahren haben?« fragte Holst.
»Sie vergessen,« erwiderte Krag mit leichtem Spott, »daß der rotbärtige Ingenieur sich ja jederzeit zum Herrn über eure Telegraphenlinien machen kann. Diese Art Telegramme aufzuschnappen war jedenfalls seine ursprüngliche Absicht. Uebrigens sind da noch mehrere mystische Punkte. Vor allem seine Experimente, das elektrische Licht in ganz Christiania auszulöschen. Sollte das eine Mitteilung an seine Mitverbündeten sein, oder? Nun ja, wir werden schon darauf kommen. Barra ist natürlich aus dem Elektrizitäts-Etablissement verschwunden, wo er seinen Experimentierraum hatte. Seine hauptsächlichsten Apparate hat er mitgenommen. Vorläufig wohnt er in einem Hotel.«
»Hotel? Wirklich?«
»Im Continental. Er ist jetzt ein feiner Herr geworden. Tritt im Zobelpelz auf. Vorläufig handelt es sich darum, jeden seiner Schritte zu bewachen, und dann wollen wir ihm eine kleine Falle stellen. Darum müßt Ihr beide inzwischen auf das Hotel aufpassen.«
»Jawohl. Das soll geschehen.«
»Er pflegt bis gegen ein Uhr in seinem Zimmer zu bleiben. Jetzt ist er dort. Ihr müßt hingehen und den Eingang bewachen, aber ohne Aufsehen zu erregen. Ihr werdet dort schon von mir hören.«
Krag trank sein Glas aus und verließ rasch das Lokal. Kurz darauf hatten die beiden anderen gegenüber dem Continental bei der Straßenbahnhaltestelle vor dem Nationaltheater Posten gefaßt. Sie taten, als ob sie auf einen bestimmten Wagen warteten, der ewig nicht kam, aber drüben an den Fenstern des Hotelcafés hinter der Gardine hätten sie ein Paar scharfe Augen sehen können, die sie lange und aufmerksam beobachteten.
Punkt ein Uhr sahen endlich die beiden Spione den Rotbärtigen herausspazieren. Er war außerordentlich elegant angezogen, mit einem Anflug berechneter Stutzerhaftigkeit in Kleidung und Auftreten.
Er sah sich weder nach rechts noch nach links um, sondern ging ganz ruhig und bestimmt die Storthingsgasse hinunter. Die beiden folgten langsam und vorsichtig nach. Nur nicht aus den Augen verlieren, hatte Krag gesagt.
»Die Jagd geht prächtig,« rief der Doktor vergnügt. »Er hat uns nicht gesehen.«
Ein Stück unterhalb der Tordenskjoldgasse stand eine Droschke und wartete. Plötzlich sprang der Rotbärtige hinein. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, und die Droschke rollte rasch fort.
Das Ganze ging mit solcher Schnelligkeit vor sich, daß die beiden Herren wie gelähmt stehenblieben.
Der junge Telegrapheningenieur fand zuerst die Sprache wieder.
»Na! Das ist ja eine nette Geschichte. Wo zum Teufel hat er den Wagen hergekriegt?«
»Vorausbestellt! Stand natürlich da und wartete auf ihn,« erwiderte der Doktor in hoffnungslosem Aerger. »Er wußte von uns und nahm darum keinen Wagen beim Standplatz, wo wir ihn leicht hätten verfolgen können. Jetzt ist es unmöglich.«
»Was sollen wir also tun?«
»Es mit Gemütsruhe nehmen und wieder vor dem Hotel warten. Wir sind eben doch nur Amateure, mein lieber Holst, und sehr leicht naszuführen.«
In recht herabgestimmter Laune begannen die beiden Herren das Hotel so unauffällig als möglich zu umkreisen. Eine gute Stunde verstrich. Da sahen sie plötzlich den Wagen des Rotbärtigen in voller Karriere vom Storthing herankommen. Sie erkannten ihn sofort an dem Kutscher, einem rechten alten Wagenlenkertypus, bärtig, krummrückig und wettergebräunt. Der Wagen fuhr vor dem Hotel vor, und Ingenieur Barra stieg aus. Portier und Pikkolos kamen herangestürzt, als guter Beweis, daß der Rotbärtige ein besonders geschätzter Hotelgast sein mußte.
Die beiden Spione sahen, wie Barra den Kutscher bezahlte und, von den beflissenen Dienern gefolgt, in das Hotel verschwand. Dann gingen sie ein Stück den Munkedamsweg hinunter. Aber bald wurden sie von dem Wagen eingeholt, den Barra benützt hatte.
Der Kutscher rief sie an: »Nanu? Wollen Sie nicht fahren? Steigen Sie nur ein!«
»Nein, danke, das wollen wir durchaus nicht,« rief der Doktor etwas ärgerlich.
»Warum nicht, Doktor? Es würde Ihnen gut tun! Ihnen beiden, meine Herren!«
Der Doktor fuhr zusammen. Das war ja Asbjörn Krags Stimme. Und wahrhaftig – da stand er ja in Gestalt des Kutschers und öffnete ihnen den Wagenschlag. Seine scharfen Augen funkelten spitzbübisch unter den aufgeklebten, weißbuschigen Brauen.
»Rasch einsteigen,« flüsterte der Detektiv. Im Nu waren der Doktor und der Ingenieur in dem Wagen und Asbjörn Krag, der die Zügel wie ein geübter Kutscher führte, knallte mit der Peitsche: »Hoppla!«
Vor einem kleinen Hotel am unteren Ende der Rathausgasse blieb der Wagen stehen. Der Doktor und der Telegrapheningenieur stiegen rasch aus und gingen in das Hotel, in dessen Salon sie sitzenblieben und Asbjörn Krags Kommen abwarteten. Nach kurzer Zeit erschien er auch, diesmal in seiner früheren Verkleidung als heimgekehrter Amerikaner.
»Wir sind ganz Bewunderung!« rief der Doktor. »Wie haben Sie das nur zustande gebracht?«
»Ach, ganz einfach,« erklärte Krag. »Ich habe mir die Equipierung und den Wagen meines Freundes Elias ausgeborgt. Sowie es dem Portier des Hotels bei meiner Spionage klar geworden war, daß er es mit Asbjörn Krag zu tun hatte, stand er mir natürlich augenblicklich ganz zu Diensten. Jeden Tag gegen ein Uhr pflegte er für Barra um einen Wagen zu telephonieren, aber die Haltestelle des Wagens variierte, je nachdem, ob der Rotbärtige die Umgegend des Hotels sicher fand oder nicht. Als ich heute bei Elias die Telephonbotschaft bekam, mit meinem Wagen in der Tordenskjoldgasse zu sein, könnt' Ihr Euch denken, daß ich mich pünktlich einfand.«
»Ausgezeichnet,« nickte der Doktor. »Und was haben Sie nun – mit Verlaub – Neues entdeckt?«
»Ja,« begann Krag nachdenklich, »ich bin dem Ziel näher gekommen, aber ich habe noch ein gutes Stück bis hin. Einige Fäden habe ich schon in die Hand bekommen. Zuerst fuhren wir zum Bahnhof, wo Barra sich etwa eine Viertelstunde aufhielt. Wonach er hier schnüffelte, weiß ich noch nicht recht, aber natürlich hängt es mit seinen Plänen zusammen. So daß es sich bestätigt, daß es sich um etwas mit den Eisenbahnzügen handelt. Vom Bahnhof schickte er ein Telegramm ab, dessen Inhalt ich später telephonisch in Erfahrung gebracht habe. Das Telegramm war an einen Herrn Braekke, poste restante, Fredrikshald, adressiert und lautete: ›Haltet das Automobil für morgen klar. Barra.‹ – Das kann entweder ein wirkliches Automobil bedeuten, oder es ist eine verabredete Form für eine andere wichtige Mitteilung, ich bin eher geneigt, das erstere anzunehmen – Telegraph, Eisenbahn, Automobil, Dampfschiff vielleicht, das paßt alles zusammen.
»Dann fuhren wir«, erzählte der Detektiv weiter, »zum Hauptpostamt, wo Barra einige Briefe abholte. Wieder im Wagen, ich wollte eben fahren, stoppte er mich und sagte, er habe noch ein Telegramm zu besorgen. Er hielt sich etwa zwanzig Minuten auf dem Telegraphenamt auf, also das muß eine längere Botschaft gewesen sein. Dann fuhren wir direkt ins Hotel, und das übrige wißt Ihr.«
»Was soll jetzt geschehen?« fragte der Doktor.
»Zuerst gehe ich auf das Telegraphenamt.«
»Um Barras Telegramm aufzuhalten?«
»Im Gegenteil. Das soll nur abgesandt werden. Aber ich will nur den Inhalt erfahren. Bleiben Sie inzwischen nur hier sitzen, ich werde vielleicht sehr bald Ihre Hilfe brauchen, meine Herren.«
Krag ging. Im Telegraphenamt war man zuerst ungeneigt, ihm das betreffende Telegramm zu referieren, aber als Krag seine Arrestorder für Barra vorwies und mitteilte, daß es von äußerster Wichtigkeit sowohl für die Voruntersuchung, wie für den späteren Verlauf der Angelegenheit sei, daß der Inhalt des Telegramms sofort zur Kenntnis der Behörde gelange, wurde ihm die Kopie vorgelegt.
Krag, der ein langes Telegramm von besonderem Inhalt erwartet hatte, war nicht wenig erstaunt, zu sehen, daß die Depesche nur ein einziges Wort enthielt.
»Donnerstag« – stand da und war mit der Unterschrift Barra nach Fredrikshavn, Dänemark, adressiert.
»Sind außerdem keine anderen Telegramme von Herrn Barra aufgegeben worden?« fragte der Detektiv. – Die Antwort lautete verneinend.
»Ist etwa ein Bote aus dem Hotel Continental mit einem vielleicht nicht unterschriebenen Telegramm dagewesen, seitdem Barra da war?« fragte er weiter.
»Absolut nicht,« wurde ihm erwidert.
»Das ist doch sonderbar! Er hat sich doch gute zwanzig Minuten hier aufgehalten. Ist das niemandem aufgefallen?« fragte der Detektiv.
Der Beamte, der Barras Telegramm expediert hatte, trat nun vor:
»Doch,« sagte er, »mir ist der Mann aufgefallen, da es gerade ziemlich leer in der Halle war. Er schrieb so lange, daß ich äußerst erstaunt war, schließlich ein Telegramm aus einem einzigen Wort bestehend zu bekommen.«
»Er schrieb lange?« Und von einer Eingebung ergriffen, erkundigte sich Krag nach dem Abteil, wo er gesessen hatte. Dieses wurde ihm sogleich gezeigt. Krag begab sich hin und untersuchte das Pult, sowie alle Papiere genau. Dann kam er rasch in das Bureau zurück und fragte, ob er einen Spiegel haben könne. Ein kleiner, viereckiger Wandspiegel wurde heruntergenommen. Da es in der Halle wieder leer war, begleiteten mehrere der Telegraphisten Krag zu dem Abteil, sehr aufgeregt darüber, daß sie es offenbar mit einem gefährlichen Verbrecher zu tun gehabt hatten. Alle waren sich jetzt ganz klar darüber, daß der kleine, rotbärtige Herr ihnen gleich einen verdächtigen Eindruck gemacht hatte.
Unterdessen hatte Krag das zum Pult gehörige Löschpapier genommen und es vor den Spiegel gehalten. Er konnte ganz deutlich darin lesen: Donnerstag, Barra.
Dann drehte er das Löschpapier um und starrte eine Zeitlang aufmerksam in den Spiegel.
Plötzlich ließ er den Spiegel sinken, legte ihn weg, steckte das Löschpapier in die Tasche und verließ mit einem knappen Gruß eiligst das Telegraphenamt.
»Haben Sie bemerkt, wie blaß er war?« sagte einer der Telegraphisten. »Das wird eine ernste Geschichte!«
Asbjörn Krag eilte unterdessen dem Hotel in der Kirchengasse zu, höchst befriedigt von dem, was er dem unschuldigen Löschpapier entlockt hatte. Bei sich selbst dachte er, daß auch der schlaue, geniale Barra hier vermutlich an einer Bagatelle gescheitert war, einem kleinen, gedankenlosen Fehlgriff.
»Heute ist Dienstag,« sagte der Detektiv im Hotelsalon zu seinen zwei wartenden Freunden. »Donnerstag will Barra seinen Plan zur Ausführung kommen lassen. Und da brauche ich in besonderem Grade Euren Beistand.«
»Wir sind ungeheuer gespannt,« sagte der Arzt, »mehr zu erfahren. Daß wir Ihnen die ganze Zeit zur ausschließlichen Verfügung stehen, wissen Sie.«
Asbjörn Krag zündete eine seiner dunklen Havannas an und setzte sich in der Sofaecke bequem zurecht.
»Es bestätigt sich diesmal, wie schon so oft,« begann er langsam, während er den Zigarrenrauch in großen Ringen von sich blies, »daß der sorgsamst berechnete Plan versagt, weil der Betreffende eine Bagatelle übersehen oder halb unbewußt einen ganz kleinen Fehlgriff begangen hat. Gerade diese kleinen Fehler werden zu den großen Löchern. In diese Spalten dringen wir Detektive ein und erweitern sie, bis sie zu dem Abgrund werden, in den der Verbrecher kopfüber stürzt.«
»Ingenieur Barra hat also solch eine kleine Spalte? Sie haben sie in seinem Plan gefunden?« fragte der Doktor gespannt.
»Ja, und hier ist sie,« erwiderte Krag mit einem Lächeln, indem er das Löschpapier hervorzog.
Die beiden anderen studierten es genau, ohne etwas Besonderes zu entdecken. Das Löschpapier schien noch wenig gebraucht, war ihre hauptsächlichste Beobachtung.
»Ja, Gott sei Dank,« sagte der Detektiv. »Eben darum druckt es besser ab, und Barra hätte die Folgen dieses Abdrucks bedenken müssen.«
»Aha, ich verstehe,« rief der Arzt, sprang rasch auf und hielt das Löschpapier vor den Salonspiegel.
»Das ist ja die Kopie eines Telegramms nach Fredrikshavn,« rief der Doktor. »Donnerstag, Barra, steht da. Was soll das bedeuten?«
»Wollen Sie die Güte haben, das Löschpapier umzudrehen?« sagte Krag.
»Ah,« rief der Arzt, »das ist ja ein ganzer Brief!«
»Richtig. Seien Sie so freundlich, ihn auf ein Papier aufzuzeichnen, die Worte und die Linien, die Sie herausbringen können.«
»Ab und zu ist es ganz unleserlich,« sagte Holst, »andere Stellen fehlen total.«
»Ja, ja, sie haben eine miserable Tinte im Telegraphenamt. Aber schreiben Sie nur.«
Als die Abschrift ausgeführt war, sah sie so aus:
... und mit Hil ... 000 Kronen könn ... die Erfindung ... führt werden ... Ic ... age alles bei dieser ... on ... ie müssen die Ve ... ung für die Schienen und die Lan ... se übern ... Wenn je ... er seine Pflicht... muß der C ... gelingen. Wir treffen uns wie vereinbart.
»Ausgezeichnet,« sagte Krag, als er das Abgeschriebene durchgelesen hatte.
»Das ist nicht schwer zu vervollständigen. Der letzte Teil der Mitteilung, den wir hier haben, lautet: ›Und mit Hilfe von soundsoviel Tausend Kronen können die Erfindungen ausgeführt werden. Ich wage alles bei dieser Spekulation. Sie müssen die Verantwortung für die Schienen und die Landstraße übernehmen.‹ Der Rest ist ganz deutlich, da die Tinte am Schluß des Schreibens noch nicht so trocken war wie im Anfang.«
»Ich muß gestehen,« sagte der Doktor, »daß ich noch nicht recht verstehe.«
»Nun ja, Sie wissen ja auch noch nicht alles, was ich weiß. Vom Telegraphenamt ging ich in die Zentralbank und erfuhr von einem zuverlässigen Freund, den ich dort habe, daß mit den Schnellzügen der Südbahn häufig große Sendungen Goldgeld kommen und gehen, als Ein- und Abzahlungen der großen Institute der verschiedenen Länder. Diese Sendungen werden natürlich so geheim als möglich gehalten. Man kündigt sie telegraphisch an und sendet immer einen Wächter mit, der sich die ganze Zeit in dem rückwärtigsten Wagen aufhält, wo die Goldkörbe untergebracht sind. Wir können davon ausgehen, daß Donnerstag eine solche große Goldsendung abgeschickt werden wird, und daß Barra davon erfahren hat.«
»Aha,« rief der Telegrapheningenieur. »Das hat er unten in dem Küstendorf aufgeschnappt.«
»Gewiß. Oder wir gehen jedenfalls davon aus, daß es der Fall ist. Doch ist Barra offenbar ein großer Schurke, der gegebenenfalls vor nichts zurückscheut. Schon gar nicht, wenn es sich um seine Sonderstellung als Gelehrter und Erfinder handelt. Dann sind Menschen und Institutionen für ihn nicht mehr wert, als die toten Zahlen, mit denen er kaltblütig rechnet. Jetzt beschäftigt er sich mit großen Erfindungen, in denen er eine neue Epoche für die Wissenschaft und Reichtum und Ehre für sich selbst sieht. Das beweisen seine Experimente in dem Küstendorf, sein Handhaben der Elektrizitätskräfte hier in der Stadt ganz deutlich.
Er wollte seiner Sache erst ganz sicher sein und hat sie hier in dem fernen Norwegen ausprobiert, wo er glaubte, daß seine Intelligenz leicht alle besiegen würde, die es wagten, sich ihm in den Weg zu stellen. Er steht, kurz gesagt, knapp am Ziele. Jetzt handelt es sich nur darum, das nötige Geld zu beschaffen. Was ist da natürlicher, als daß er mit allen seinen Kräften einen kühnen Coup wagt, den er bis auf die kleinste Kleinigkeit berechnet zu haben glaubt, um sich dieses elende Gold zu erwerben. Jetzt werden Sie natürlich fragen, in welcher Verbindung das Fredrikshavner Telegramm mit dieser Sache steht. Hier kann nach meiner Wahrscheinlichkeitsberechnung nur eine Kombination möglich sein. Ich denke mir Barras Plan als eine Entgleisung des Wagens, in dem das Gold ist. Aber von der Entgleisungsstelle müssen die Werte doch rasch weitergebracht werden. Darum das Telegramm nach Fredrikshald: Haltet das Automobil für Donnerstag parat. Das Gold soll offenbar von der Entgleisungsstelle per Automobil nach – ja, wohin gebracht werden? Hier gibt uns das Fredrikshavner Telegramm die Antwort. Kommt es Ihnen nicht wahrscheinlich vor, daß das Wort ›Donnerstag‹ sagt, daß sein Mithelfer an diesem Tage dort unten an einer vereinbarten Stelle z. B. mit einem kleinen Dampfboot warten soll. Barra könnte doch nicht gut einen norwegischen Dampfer benützen. Da wäre das Risiko zu groß. Bis dahin ist, glaube ich, meine Kombination des Sachverhalts unangreifbar.«
»Absolut!« rief der Doktor, begeistert über die Klarheit, mit der Asbjörn Krag seine scharfsinnigen Anschauungen dargelegt hatte. »Aber nun ist noch eines unaufgeklärt: wo soll diese Entgleisung herbeigeführt werden?«
»Richtig. Vorläufig kann man nur annehmen, daß es ein Punkt in der Nähe der See sein muß. Viel spricht für einen Ort in der Nähe von Moß, genügend weit von Christiania in verhältnismäßig ödem Landdistrikt. Gegen den ganzen Zug und seine vielen Passagiere wagt Barra offenbar kein Attentat. Darum hat er sich einen sinnreichen Apparat ausgesonnen, den letzten Wagen mit dem Bankdiener und dem Gold plötzlich abzukoppeln. Uebernehmen Sie die Verantwortung für die Schienen, das heißt, daß sein Mechanismus korrekt wirken wird.«
»Ausgezeichnet!« rief der Doktor.
»Nun kommen wir«, fuhr der Detektiv fort, »zu dem Punkt, der mir noch dunkel ist. Ich habe Ihnen schon erzählt, daß Barra sich bei unserer Wagenfahrt über eine Viertelstunde auf dem Bahnhof aufgehalten hat.«
»Jawohl.«
»Ich habe nun erfahren, daß er dort ausschließlich Interesse für die Lokomotive Nummer 72 gezeigt hat, die neue, große Schnellzugsmaschine. Als Eisenbahningenieur hatte er unbehindert Zugang, die Maschinen zu besichtigen. Niemand beachtete übrigens, was er oben auf dieser großen Lokomotive tat. Aber dann begab er sich zu dem diensttuenden Maschineningenieur und sagte, daß er mit dieser Lokomotive Nummer 72 nie fahren würde. Der Beamte fragte ihn erstaunt, was denn damit los sei? ›Sehen Sie doch selbst‹, antwortete Barra und wies auf den Zylinder. Und wirklich – bei näherer Untersuchung fand der Ingenieur einen großen Fehler daran, der zu einer furchtbaren Katastrophe hätte führen können. Alle Nachforschungen, wie dieser Fehler entstanden sein kann, führten zu keinem Resultat. Das Ganze war völlig mystisch. Unterdessen war Barra verschwunden.«
»Natürlich war er es, der – –,« begann der Telegrapheningenieur.
»Aber warum?« unterbrach der Detektiv. »Das verstehe ich eben nicht. Soll ein Attentat gegen die Lokomotive selbst gerichtet werden oder nicht – und warum dann noch auf einen Fehler aufmerksam machen? Will er ihn selbst reparieren wie im Elektrizitätswerk? Nummer 72 fährt immer die Nachtschnellzüge. Aber soviel weiß ich, an der Spitze des Kontinentalzuges Donnerstag abend wird eine andere Lokomotive stehen! Da wird sich der gute Mann verrechnet haben!«
»Ich finde nur,« rief der Doktor, »daß die Sache doch schon spruchreif ist. Darum begreife ich nicht, warum in aller Welt Sie ihn nicht arretieren.«
»Wenn wir jetzt zur Arretierung schritten,« erwiderte lächelnd der Polizist, »dann hätten wir das ganze Spiel verloren. Wir haben nicht die geringsten Beweise für die Verbrechen, deren wir ihn für fähig halten. Hier handelt es sich nicht nur darum, diese zu verhindern, sondern auch tatsächlich eine ganze Bande gefährlicher und desperater Schurken zu fassen. Leute, die zur Zerstörung der Gesellschaft kein Mittel scheuen, um ihr Ziel zu erreichen.«
»Sie meinen, daß wir sie alle fassen werden?«
»Nun eben – und zwar dadurch, daß wir dem rotbärtigen Ingenieur freie Hand lassen, bis er uns am Donnerstag, das heißt in zwei Tagen, als reife Frucht in den Schoß fällt.«
»Aber – nehmen Sie an, daß etwas Unvorhergesehenes geschieht und Sie die Katastrophe nicht mehr verhindern können!«
»Ich riskiere es. Ich habe in meinem Polizeidienst schon waghalsigere Spiele gespielt als dieses. Die Spannung ist auch meine Triebfeder, um schließlich zu siegen. Diese Wartezeit hat nur eine wirkliche Gefahr.«
»Und worin besteht sie?«
»Daß Ingenieur Barra den Schwindel mit meiner Krankheit durchschaut und deshalb vielleicht umsattelt.«
»Das ist doch ausgeschlossen.«
»Barra ist offenbar sehr mißtrauisch. Wir müssen noch irgend etwas tun, um ihn in seinem Glauben an meine gegenwärtige Hilflosigkeit zu bestärken.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, daß Sie, Doktor, mit einer Botschaft von mir zu Herrn Barra gehen sollen.«
Der Doktor zuckte zusammen.
»Warten Sie nur: Sie ersuchen ihn, zu einer Unterredung, in die Sie eingewilligt haben, zu mir zu kommen.«
»Dann entdeckt er natürlich sofort den Betrug,« wendete der Doktor ein.
»Ueberlassen Sie diese Komödie nur ruhig mir,« erwiderte Asbjörn Krag. »Also adieu, bis Sie mit dem Ungeheuer anrücken. Holst begleitet mich.«
Der Arzt begab sich in das Hotel des Rotbärtigen. Krag ließ einen Wagen holen und fuhr mit dem jungen Telegrapheningenieur nach Haus, um den Besuch vorzubereiten.