Sven Elvestad
Der kleine Blaue
Sven Elvestad

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II.

Hausuntersuchung

Schon eine Stunde nach dieser Anzeige im Sicherheitsbureau war Asbjörn Krag in voller Tätigkeit.

Zuerst stattete er einen Besuch bei der Bank ab, wo er wußte, daß Jaerven seine Papiere deponiert und sein Geld stehen hatte. Unter vier Augen hatte er ein Gespräch mit dem Bankdirektor und fand seine Annahme von der ausgezeichneten ökonomischen Stellung des Agenten Jaerven bestätigt. Er hatte ein großes Vermögen und nur sichere Papiere liegen. Ein paar Wechsel waren verfallen, einer vor sechs, einer vor sieben Tagen. Aber die Bank hatte die Wechsel ruhig liegen lassen, da man durch die Witwe wußte, daß Jaerven verreist war.

Krag fragte:

»Finden Sie es nicht seltsam, Herr Direktor, daß Jaerven solange von seinen Geschäften wegbleibt, ohne etwas zu sagen oder irgendwelchen Bescheid zu geben?«

Der Bankdirektor erwiderte vorsichtig, er finde auch, daß auffallend lange Zeit vergangen sei, und er habe schon angefangen, sich darüber zu wundern.

»War Jaerven Donnerstag hier in der Bank?« fragte Krag.

Er bekam zur Antwort, daß Jaerven oft in der Bank war, um Geschäfte der einen oder andern Art abzuschließen; die Bücher ergaben, daß Jaerven Mittwoch in der Bank gewesen war, aber Donnerstag nicht. Der Hauptkassierer erinnerte sich außerdem bestimmt, daß er Jaerven seit Mittwoch, dem Elften, vormittags, in der Bank nicht mehr gesehen hatte. Er hatte damals fünftausend Kronen auf sein Konto eingelegt. Der Kassierer hatte den Eindruck, daß Jaerven es nicht liebte, größere Geldsummen bar zu Hause liegen zu haben. Sowie er über solche disponierte, übergab er sie darum der Obhut der Bank. Schließlich erklärte der Direktor, daß Jaervens Geschäfte mit der Bank in jeder Hinsicht normal und korrekt waren; aber man merkte, daß er über sehr viel Geld disponierte und oft recht lebhafte Geldtransaktionen hatte. Worin diese bestanden, dafür hatte die Bank sich nie interessiert.

Das waren alle Aufklärungen, die Krag dort erhalten konnte. Viel schien es nicht, aber Krag notierte sich jeden kleinen Umstand gewissenhaft und genau.

Nach seinem Besuch in der Bank fuhr Krag in die Straße, in der Jaerven wohnte. Er war zuerst im Laden der Witwe und ersuchte sie, ihn in das erste Stockwerk zu führen. Die Witwe war sofort bereit. Sie übergab dem Kommis das Geschäft und ging mit. Unterdessen prägte sich Krag die ganze Umgebung ein, er konstatierte, daß alle, die von oder zu dem Agenten kamen, aus dem Zimmer der Witwe gesehen werden konnten; er zählte die Stufen der Treppe und bemerkte mit besonderem Interesse, daß gegenüber dem Hause eine Gaslaterne stand; ihr Licht mußte abends gerade in das Schlafzimmer des Agenten fallen. Zuerst betraten der Detektiv und seine Begleiterin die Küche. Da standen einige Tassen und Kochgeschirre herum. Sonst war es klar zu sehen, daß die Küche schon längere Zeit außer Gebrauch sein mußte. Aus der ziemlich großen Küche führten zu beiden Seiten Türen in die Wohnungen. Die Türe rechts stand offen; hier hatte die Witwe ihre Lagerräume. Links war die Wohnung des Agenten. Einen anderen Eingang als durch die Küche gab es nicht. Der Detektiv dachte mit einem Schauder an diesen reichen Mann, der sich alle Annehmlichkeiten des Lebens versagte, um noch mehr Geld aufzuhäufen, und dessen einzige Freude immer nur darin bestanden hatte, diese freudlosen Reichtümer zu mehren.

Er rüttelte heftig an der Tür und pochte mit den Knöcheln an die eichenen Planken. Immer stärker, dann lauschte er. Aber drinnen war kein Laut zu hören.

Der Detektiv trat in das Treppenhaus und öffnete das Fenster, das von dort auf die Straße ging. Draußen, wo die Leute in einem unregelmäßigen Strom vorbeitrieben, hatte die Promenade noch ganz das Gepräge der Vorstadt. Krag blies ein paarmal scharf in seine Polizeipfeife, und es dauerte nicht lange, so kamen ein paar Schutzleute gelaufen. Sie sahen sich zuerst um, dann entdeckten sie den Detektiv, der an dem offenen Fenster stand und winkte.

»Kommen Sie einen Augenblick herauf!« rief er.

Eine Minute später waren die Schutzleute zur Stelle. Sie waren beide starke robuste Männer und grüßten Krag mit einer Ehrerbietung, die zeigte, in welch hohem Ansehen der begabte Detektiv stand.

»Wir müssen diese Tür öffnen,« sagte Krag und wies auf den Eingang zu den Zimmern des Agenten Jaerven.

Zuerst wurden alle Schlüssel, die vorhanden waren, probiert. Aber keiner paßte. Das vorsichtige Mißtrauen des Agenten hatte sich auch darin geäußert, daß er sich ein ganz besonders sicheres und starkes Türschloß angeschafft hatte.

»Es wird das beste sein, die Türe einzudrücken,« sagte der eine der Schutzleute, indem er seinen breiten Rücken an die Türfüllung stemmte.

Der Detektiv nickte zustimmend.

»Nur wegsprengen,« sagte er, »hier muß rasch gehandelt werden.«

Der andere Schutzmann half mit, und es gelang ihnen bald, das Schloß zu sprengen. Die Tür ging auf, aber ein gutes Stück der Füllung fiel heraus.

Asbjörn Krag betrat das Zimmer zuerst. Die Witwe hielt sich ängstlich im Hintergrund, so als fürchtete sie, etwas Grauenvolles zu sehen. Die Schutzleute blieben an der Tür stehen und warteten.

Krag sah sich um.

Das war also das Kontor des Agenten. Drüben am Fenster stand der Tisch, an dem er zu arbeiten pflegte. Auf dem Tisch stand ein Tintenfaß, aus dem die Feder hervorragte, ferner ein paar Tassen und ein Teller mit einigen Brotrinden. Einige unbeschriebene Papiere und ein kleines blau gebundenes Büchlein. Das war alles. Krag blätterte das Büchlein durch, aber schien nichts von Interesse darin zu finden.

Die Witwe stand noch immer in der geöffneten Tür und neben ihr die beiden Schutzleute.

»Jaervens Schlafzimmer ist dort drinnen?« fragte Krag und wies auf eine geschlossene Tür rechts.

Die Witwe nickte.

»Oeffnen Sie sie!« befahl Krag.

Zögernd ging die Witwe zur Schlafzimmertür hin, um aufzuschließen. Es war, als erwartete sie dort drinnen etwas Schreckliches zu sehen. Sie öffnete die Tür leise und vorsichtig und zog sich dann schleunigst zurück.

»Erwarten Sie vielleicht die Leiche des Wucherers zu finden?« fragte Krag, indem er der Witwe einen raschen Blick zuwarf. Aber sie erwiderte nichts, sondern zog sich nur noch weiter zurück.

Nun trat Krag rasch in das kleine Schlafgemach. Er öffnete vor allem das Fenster, um frische Luft einzulassen, und begann dann die wenigen Gegenstände zu untersuchen, die sich in dem Zimmer befanden.

In der einen Ecke stand eine alte solide eiserne Kasse, die war natürlich versperrt. Wenn der Detektiv einen Augenblick das Verschwinden des Agenten Jaerven mit einem kühnen Einbruchsdiebstahl in Verbindung gebracht hatte, so war er auf jeden Fall jetzt gründlich enttäuscht. Der eiserne Geldschrank zeigte keine Spuren, geöffnet worden zu sein, die Schlösser und alles übrige war in der schönsten soliden Ordnung. Im übrigen empfing der Detektiv nicht den Eindruck, daß der Agent die Wohnung in besonderer Eile verlassen hatte; aber die Sachen waren auch nicht so geordnet, als ob er bei seinem Fortgehen auf eine längere Abwesenheit vorbereitet gewesen wäre. Der Detektiv mußte mit einem Seufzer gestehen, daß die Wohnung nicht den geringsten Anhaltspunkt zu einer Lösung des Rätsels bot. Vorläufig konnte er auch die Kasse nicht öffnen, da er ja nicht wußte, ob der verschwundene Wucherer tot oder am Leben war.

Im Schlafzimmer stand außer der Kasse und dem Bett eine alte abgestoßene Kommode. Der Detektiv versuchte, die Laden herauszuziehen; aber sie waren alle zugesperrt. Während er noch damit beschäftigt war, entdeckte sein Blick auf dem Fußboden, gerade unter der Kommode, ein Kuvert. Es war an den Agenten Jaerven adressiert, und eine Fünföremarke war daraufgeklebt. Das Kuvert trug den Poststempel vom Elften. – Also dem Tage, bevor Agent Jaerven verschwand, dachte Krag. Er untersuchte das Kuvert mit Interesse genauer. Darin lag ein kleiner zusammengefalteter Bogen. Der Detektiv zog ihn heraus und las folgendes:

Christiania, den 11. April.

Treffen Sie mich heute abend in der Höhle und nehmen Sie den »kleinen Blauen« mit.

Der Brief hatte keine Unterschrift.

Krag steckte ihn vorläufig in die Tasche, um ihn später näher zu untersuchen. Und nachdem er sich vergewissert hatte, daß vorläufig nichts weiteres von Interesse zu finden war, verließ er die Wohnung mit der Witwe und den beiden Schutzleuten. Er bat den einen Schutzmann, dafür zu sorgen, ein provisorisches Schloß an der aufgebrochenen Tür anzubringen, damit niemand Unberufener Eingang finden konnte.

Bevor sich der Detektiv von der Witwe verabschiedete, fragte er:

»Erinnern Sie sich, welchen Anzug der Verschwundene anhatte, als Sie ihn zum letztenmal sahen?«

»Daran erinnere ich mich ganz genau,« gab die Witwe zurück; »er hatte seinen dicken braunen Rock an, den er Winter und Sommer immer trug. Auf dem Kopf hatte er seinen breitkrempigen grauen Hut. Der war so alt, daß ihm die Krempe ganz schlaff über die Ohren hing.«

Der Detektiv überlegte.

»Jaerven verschwand Donnerstag, den Zwölften,« murmelte er, »heute schreiben wir den Zweiundzwanzigsten. In der Zwischenzeit haben wir drei heftige Regengüsse gehabt, den Siebzehnten, Achtzehnten und Neunzehnten. Der Agent kann sich unmöglich in der Stadt aufhalten, sonst wäre er doch nach Hause gegangen oder hätte seinen Regenmantel und seinen Regenschirm holen lassen, die sich unberührt oben im Zimmer vorfanden.

Und seine Geschäfte, seine verfallenen Wechsel,« fuhr Krag in seinen Betrachtungen fort. »Ich kann mir nicht denken, daß er sie mit freiem Willen verlassen hat.«

»Glauben Sie, daß er zurückkommt?« fragte jetzt die Witwe beunruhigt.

»Nein,« erwiderte der Detektiv, »das glaube ich nicht.«

Damit ging er.

Auf dem nächsten Standplatz nahm er eine Droschke und fuhr zu einer Zeitungsexpedition.

Hier schrieb er folgende Annonce, die er vorläufig täglich zu bringen auftrug, bis er Bescheid gab:

Aufgepaßt!

Der Herr, der Donnerstag vormittag, den Zwölften dieses, sich vergebens bemühte, den Agenten Jaerven in seinem Kontor zu sprechen, möge die Liebenswürdigkeit haben, seine Adresse in einem Brief an die Expedition bekanntzugeben unter der Chiffre »Von höchster Wichtigkeit«.

*

Asbjörn Krag suchte nun den Chef des Sicherheitsbureaus auf, um mit ihm zu besprechen, was weiter zu tun sei.

Der Chef war jedoch nicht zugegen, so daß Krag eine halbe Stunde im Kontor sitzen und auf ihn warten mußte.

Unterdessen grübelte er wieder über die Sache nach, und er war bald mit sich einig, daß hier ein düsteres und unheimliches Verbrechen vorliegen mußte. Gleichzeitig sagte er sich selbst, daß die Entdeckung des Verbrechens besondere Schwierigkeiten bieten würde. Vorläufig fehlte noch jeder Anhaltspunkt.


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