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Professor Arvidson setzte sich in einen Stuhl neben Torben.
Der junge Baron machte keine Einwendungen, nur zog eine Grimasse des Unbehagens über sein Gesicht. Er schloß die Augen halb unter dem breiten Rand des Hutes und schien sich nur aus Müdigkeit in die Gesellschaft des Professors zu finden.
»Sowohl der Förster wie ich meinten bestimmt, Schritte vor uns im Walde zu hören.«
»Ganz recht. Und ich hörte Stimmen hinter mir.«
»Wußten Sie, daß ich es war?«
»Nein, ich konnte ja nicht wissen, daß Sie hier sind.«
Plötzlich wurde Arvidson von einer Ahnung ergriffen, und er sagte: »Sie glaubten vielleicht, es sei ein anderer?«
Darauf antwortete Torben nicht gleich. Vielleicht wollte er sich seine Antwort erst überlegen. Kurz darauf sagte er: »Sie erinnern sich wohl, daß die Nacht wunderbar schön war, und der Mond schien so herrlich. Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich hier, um alle Stätten meiner Jugend wiederzusehen. Was kümmerte es mich, ob auch andere Menschen unterwegs waren, um die schöne Nacht zu genießen? Ich wollte allein sein und darum beschleunigte ich meine Schritte. Außerdem habe ich seit meiner frühesten Jugend immer für diesen Waldpfad geschwärmt, besonders bei Mondschein.«
»Nur wundert es mich, wie Sie ungesehen ins Schloß gelangen konnten?«
Torben lachte kurz und spöttisch auf.
»Ich wollte ungesehen bleiben,« sagte er, »muß ich Sie von neuem daran erinnern, daß ich meine ganze Kindheit an diesem Ort verlebt habe? Ich kenne das Schloß in- und auswendig. Wenn auch alle Türen verriegelt und verschlossen sind, kann ich mir dennoch Eingang verschaffen – auch ohne Schlüssel. Es belustigte mich noch einmal, den jungen Sohn zu spielen, der nachts auf verbotene Abenteuer ausgeht und in aller Heimlichkeit zurückkehrt. Oh, was hatte diese Nacht für eine Stimmung von Wehmut und Vergangenheit ...«
Er lügt, dachte Arvidson.
Torben fuhr fort. Er war erregt geworden, als ob seine eigenen Worte ihn ergriffen hätten: »Und der Gang durch die öden Zimmer und Gänge des Schlosses! Es war, als schritte man durch längst entschwundene Zeiten, mit einem bezaubernden Duft von Staub und verblichenen Tapeten. Ich zündete nicht ein einziges Licht an, ich konnte ja alle Wege im Traum finden. Außerdem genoß ich den herrlichen Mondschein, der durch die Fenster strömte. Ich sage Ihnen, es war unvergeßlich, wie ich durch mein altes, jetzt so ödes Haus ging und mich ganz allein mit den alten Möbeln und dem märchenhaften Mondschein fühlte ...«
»Sie gingen durch die drei verschlossenen Zimmer, zu denen Sie also doch die Schlüssel besitzen?«
»Ja, ich habe es stets geliebt, mich in alten Rumpelkammern aufzuhalten und in alten Dingen herumzustöbern, die einer vergangenen Zeit angehören.«
»Wußten Sie, daß Sie verfolgt wurden?«
»Nein.«
»Der Förster, der Verwalter und ich standen unten im Garten und beobachteten aufmerksam die drei Fenster.«
»Wie konnte ich annehmen, daß jemand Interesse daran haben würde, sich in meine nächtliche Schwärmerei zu mischen?«
»Dann traten Sie ans Fenster. Sie sahen sehr alt aus. Ich hätte darauf geschworen, daß es ein weißhaariger, gebückter Greis sei, der oben stand.«
Arvidson beobachtete, daß Torben die Hand nervös um den Griff seines Spazierstockes preßte.
»Wirklich,« flüsterte er, »das muß der Mondschein gewesen sein, der macht ja alle Menschen totenähnlich.«
»Wir sahen von unten,« fuhr der Professor fort, »daß Sie in einem Buch lasen und blätterten. Es war wohl eine Familienbibel?«
»Nein, es war eine alte Chronik,« antwortete Torben.
»Warum aber ließen Sie uns nicht herein, als Sie uns kommen hörten?«
»Weshalb sollte ich mich in meiner Einsamkeit stören lassen? Ich war ja in meinem eigenen Hause!«
»Erkannten Sie unsere Stimmen nicht?«
»Die Stimme des Försters meinte ich zu erkennen.«
»Es war schade um die schöne Tür, die zerschossen wurde,« sagte der Professor nachdenklich. »Wie kamen Sie heraus?«
»Ebenso, wie ich hereingekommen war. Ich kenne ja das alte Schloß. Ich wollte keine Menschen treffen. Die Tür kann repariert werden. Das ist nicht so wichtig. Wichtiger war es für mich, meinen Traum zu Ende zu träumen.«
Damit lehnte Torben sich in den Stuhl zurück und starrte geistesabwesend vor sich hin. Kurz darauf sagte er: »Ich weiß wohl, daß Sie mir aus Interesse folgen, aber sie sind so sehr in das Unheimliche dieser ganzen Sache vertieft, daß Ihnen selbst die täglichsten Vorgänge unnatürlich erscheinen. Für mich liegt es anders. Ich habe die Tragödie nicht miterlebt, die halb unwirklich vor mir steht. Darum ist es mir Bedürfnis, vor dem Gegenwärtigen in dem Vergangenen Vergessen zu suchen. Eine Nacht lang bin ich in Erinnerungen untergetaucht und habe von neuem glückliche Zeiten durchlebt. Das Mystische, das Ihre überhitzte Phantasie darin sehen will, besteht gar nicht. Nennen Sie es Sentimentalität, oder wie Sie sonst wollen, die stille Wanderung durch ferne Jahre aber hat jedenfalls meinen Nerven wohlgetan.«
Torbens Nerven? Der Arzt betrachtete ihn ernst. Dieses verheerte Gesicht sprach nicht von beruhigten Nerven, es verriet furchtbare Grübeleien, schlaflose Nächte, grauenhafte Geschehnisse. Das Unglück selbst schien aus seinen Zügen zu sprechen. Plötzlich fühlte der Arzt eine Woge von Mitleid in sich aufsteigen.
Der andere antwortete nicht.
»Sie sind sehr einsam, Torben.«
Er antwortete noch immer nicht.
»Sie wissen, daß ich Ihr Freund bin,« fuhr der Arzt fort, »vergessen Sie das nicht. Ich weiß, was Sie in diesem Augenblick denken.«
»Was denke ich denn?«
»Sie denken: wie selig wäre ich, könnte ich die Maske von Ruhe und Härte ablegen und zu Arvidson sagen: Lieber Freund, helfen Sie mir!«
Plötzlich drehte Torben sich zu dem Arzt um und streckte ihm beide Hände entgegen: »Ja,« rief er heftig, »helfen Sie mir!«
Im selben Augenblick kam der Förster aus seinem Haus. Professor Arvidson erhob sich. Torben blieb sitzen, noch zusammengefallener als vorher.
»Herr Baron,« sagte der Förster, »es ist ein Zimmer für Sie bereit, wenn Sie zu ruhen wünschen.«
Bevor Torben aber noch antworten konnte, wurde die Aufmerksamkeit der drei Männer auf einen Radfahrer gelenkt, der in starker Fahrt durch die Allee kam.
Christensen, der Verwalter, stieg vom Rad, staubig und außer Atem.
»Er ist wieder da,« rief er.
»Wer?« fragte der Förster.
»Der Alte, das Gespenst, der Mann am Fenster.«
Der Förster und Arvidson sahen sich an.