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Einige Zeit war vergangen, und über das unheimliche Ereignis war es nach und nach still geworden. Die Oeffentlichkeit und besonders Mildes Freunde waren anfangs ganz verstört gewesen, weil so unverhohlen von Mord gesprochen wurde; da aber die Polizei tiefstes Geheimnis bewahrte, schien nach und nach die Auffassung vorherrschend zu werden, daß Baron von Milde sich in einem Anfall von Geistesgestörtheit das Leben genommen habe. Wo immer aber sein Name genannt wurde, senkte sich Schweigen auf die Gemüter; das unheimliche Rätsel machte die Menschen stumm. Das vornehme Konsortium zum Ankauf von van Dycks berühmtem Gemälde mußte seine entscheidende Sitzung ohne Milde halten. Man hatte ja Milde zum Vorsitzenden des Komitees gewählt; an seine Statt trat Kommerzienrat Guggenheim.
Der junge Torben Milde, zur Zeit bei einer Gesandtschaft in Südamerika, hatte sogleich telegraphiert, daß er mit dem ersten Dampfer nach Europa fahren werde. Sein Vater aber wurde noch vor seiner Ankunft in dem Familienbegräbnis auf Marienburg beigesetzt.
Torben war das einzige Kind, und solange er nicht eingetroffen war, wurde keine Bestimmung über die Hinterlassenschaft des Verstorbenen getroffen; die Baronin wollte nichts unternehmen, bevor der Sohn da war. Sie überließ das große Rittergut vorläufig den Verwaltern und zog zu ihren schwedischen Verwandten auf das Gut der Löwenadler, wo sie Linderung ihres Schmerzes und Vergessen suchte.
Der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht. Der August setzte mit tüchtiger Wärme ein, und die Stadt Kopenhagen bekam jenes Gepräge von Hundstagen und Faulenzerei, das sie in den Sommermonaten zu haben und das keineswegs unangenehm zu sein pflegt. Die Leute ruhen aus und geben sich einem behaglichen Müßiggang hin, die vergnügten Scharen der Reisenden füllen die Stadt und ihre Lokale, und in den vornehmen Stadtteilen herrscht fast provinzielle Ruhe.
Zwischen denen, die es vorgezogen hatten, in der Stadt zu bleiben, war auch Professor Sune Arvidson. Er hatte sich damit entschuldigt, daß seine Arbeit ihn in Kopenhagen festhielte, und er glaubte selbst halb daran; wenn er aber ganz ehrlich sein wollte, mußte er sich gestehen, daß die verfluchte Mordgeschichte ihn hier festhielt. Es war, als ob diese Sache seinen Instinkt als Arzt nicht loslassen wollte. Sie griff tief in sein Dasein ein. Er fühlte sich eng damit verbunden. Sie jetzt verlassen, bedeutete dasselbe für ihn, als ob er ein wissenschaftliches Problem ungelöst im Stich lassen wollte.
Außerdem reizte ihn das Rätselhafte der Sache. Bisher hatten kriminalistische Probleme ihn nicht angezogen. Allerdings hatte er als Gerichtsarzt allerhand Gelegenheit gehabt, sich damit zu beschäftigen, die meisten Fälle aber waren ihm langweilig erschienen. Er war bisher der Ansicht, daß die Lösung eines jeden kriminalistischen Problems allein von ausdauernder, polizeimäßiger Arbeit und guten technischen Hilfsmitteln abhängig sei, aber keine größere Genialität erforderte. Jetzt aber mußte er einräumen, daß man hier einem Problem gegenüberstand, an dem die ganze Technik der Polizei abprallte, einem Rätsel, das sich plötzlich in einem ganz alltäglichen Milieu entwickelt hatte, ohne irgendwelche Verbindung oder Leitfäden, ganz abgesondert und scheinbar unlösbar in einer feindlichen Dunkelheit.
Und so verblieb denn der Professor in der Stadt, ohne sich von dieser Affäre losreißen zu können, unablässig über die Möglichkeiten derselben grübelnd. Er war häufiger Gast bei der Polizei, aber auch dort konnte er keine befriedigende Erklärung finden. Die Polizei stand noch auf derselben Stelle, wie an jenem Tage, als man Knud Hansen verhaftet hatte, und konnte nicht weiterkommen. Auf der Polizei waren zwei Anschauungen vertreten: Die einen meinten, daß der Arrestant lüge, die anderen, daß er die Wahrheit spräche. Man hatte ihn wieder und wieder in Verhör gehabt, doch blieb er bei seiner Aussage. Die Polizei hatte einen mächtigen Apparat in Bewegung gesetzt, um dem mystischen Helmer Stamsund auf die Spur zu kommen. Einigermaßen konnte man dem Wege dieses Menschen folgen, von dem Morgen, als er in »Rydbergs Keller« mit Knud Aage zusammentraf, bis zum Mordabend. Viele hatten diese beiden gesehen und mit ihnen in Cafes und Tanzlokalen gesprochen. Was der Mann sich aber vorher und nachher vorgenommen hatte, das war unmöglich festzustellen; vor und nach seinem Auftreten herrschte das leere Nichts. Außerdem konnte man nicht erfahren, wo der Mann gewohnt hatte. Man forschte in allen Hotels und Pensionen der Stadt nach, nirgends aber war er bekannt. Man wußte nur, daß er eine Zeitlang ganz plötzlich an Spieltischen, bei Trinkgelagen oder in Tanzsälen aufgetaucht, eine kurze Weile geblieben und dann wieder verschwunden war. Woher er kam und wohin er ging aber wußte niemand.
Professor Sune Arvidson konnte es nicht lassen, nach diesem Mann Ausschau zu halten, obgleich er sich selbst sagen konnte, daß es ziemlich nutzlos sei. Nach den vorliegenden Beschreibungen hatte er sich ein ganz klares Bild von ihm geschaffen, er stand so lebendig vor seinem inneren Blick, als ob er ihm bereits leibhaftig begegnet sei. Sune Arvidson kam in dieser Zeit viel herum, er gelangte an Orte, wo er seine Füße noch niemals hingesetzt hatte, und er wunderte sich, wie groß und neu die Stadt für ihn wurde und wie mannigfach die Menschentypen waren, denen er begegnete. In der Tiefe seiner Seele lebte die Ueberzeugung, daß der Fremde sich noch immer in Kopenhagen aufhielt, und daß man hier in der Stadt und nirgends anders des Rätsels Lösung finden würde. Wenn er an den warmen, hellen Sommerabenden herumschlenderte, wurde er bisweilen von einem seltsam unheimlichen Gefühl ergriffen, indem er bei sich dachte: Vielleicht sitzt er dort zwischen den Palmen des Cafes, auf dem Fußsteig oder wandert unter den farbigen Lampions im Tivoli zwischen der frohen, unbekümmerten Menge – Baron von Mildes Mörder?
*
Am Abend des 16. August kam Torben Milde nach Kopenhagen. Durch einen ausführlichen Brief, den Sune Arvidson ihm nach Antwerpen gesandt hatte, war er bereits über die wichtigsten Punkte unterrichtet. Während die beiden Herren im Hotel Angleterre zu Abend aßen, berichtete Sune Arvidson über alle Ermittlungen, die man bisher festgestellt hatte. Auch für Torben war es ein vollkommenes Rätsel, wie sein Vater von Mörderhand fallen konnte. Arvidson brachte das Gespräch von neuem auf die mystischen Hunderttausend in englischen Pfunden, Torben aber schüttelte nur den Kopf. Seinen Kummer über den Tod des Vaters schien er bereits überwunden zu haben, oder vielleicht war er ihm überhaupt nicht so nah gegangen; er war ja nicht mehr ganz jung, und hatte viele Jahre außerhalb des Vaterhauses verbracht. Er gehörte zu jenen korrekt-kühlen, etwas gefühllosen modernen Typen, denen man nur schwer näherkommen kann. Während des Gespräches machte er kein Hehl daraus, daß er seine Studien im Auslande nur ungern unterbrochen habe, um sich der Verwaltung des großen Rittergutes zu opfern.
Gegen zwölf Uhr verließen die beiden Herren das Restaurant, um dem Hause auf dem St. Annaplatz einen Besuch abzustatten. Dort war verschiedenes zu ordnen, und Torben wollte bereits am nächsten Morgen zu seiner Mutter nach Schweden weiterreisen. Es hatte angefangen zu regnen, ein feiner, feuchter Regen, die beiden Herren aber nahmen keinen Wagen, sondern schlugen die Rockkragen hoch. Schwere Wolken zogen über den Himmel, die Straßen waren ungewöhnlich dunkel, und der Regen machte die Pflastersteine blank und die Straßen öde und menschenleer.
In der Nähe von Mildes Wohnung fiel dem Professor eine geschlossene Autodroschke auf, die neben dem Fußsteig wartete, nicht, weil daran etwas Besonderes war, sondern weil er sich nun einmal daran gewöhnt hatte, alles mit einer gewissen Neugierde zu beobachten. Der Motor war nicht abgestellt, sondern arbeitete weiter, es war, als ob der Wagen auf dem Sprung stünde.
Als sie zum Hause kamen, sah Arvidson, daß in Mildes Wohnung Licht war, mattrotes Lampenlicht, das durch die Fenster sickerte. »In dem Arbeitszimmer Ihres Vaters ist Licht,« sagte er erstaunt.
»Das wird Alexander sein,« meinte Torben.
»Zu dieser Zeit? Das ist doch merkwürdig.«
Er wollte die Tür schleunigst mit seinem Schlüssel aufschließen, im selben Augenblick aber wurde sie von innen geöffnet, und ein Mann trat heraus in die Dunkelheit.