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Passion

Ich hab mich gefangen gesetzt, wo nichts zu mir dringt, kein Brief, kein Telegramm, kein Gruß, kein Wunsch. Niemand hält mich gefangen, nur mein Herz, das verzitternd still hält – nahen Nachrichten entgegen. Ob ich im Jenseits, jenseits meiner bisherigen Grenzen Heilung finden werde? Wie der Ort heißt, weiß ich nicht mehr. Der Name entfiel mir, in schwarzen See, und kein Auffischer ist da, sie sind alle ertrunken. Ich hause im Grenzenlosen, wo nur das Gefühl regiert, Geld und Außenwert beschlagnahmt ist, die Münzer und Makler erschlagen daliegen, hartköpfige Rechner und Rechnerinnen.

O, wie unwiederbringlich dahin sind die Tage meiner Phantasien, als ich noch den griechischen Traum träumte, und an den Gestaden meines Meers meine Seele, tiefste Tänzerin, mir allein ihren Zaubertanz vortanzte. Geblieben ist von aller Herrlichkeit nur nordischer Schleier: Nebel, durch den ich nicht blicken kann in die Zukunft. Zukunft? Es stürmt meine Sehnsucht, aber die Wirklichkeit ist ein öder Lastzug, der matt vorbei rasselt, endlose Waggons. Ihr Inhalt ist unbekannt, viele Waggons, ahn ich, sind leer. Ich hör das Kreischen der Wagen, schrille Pfiffe warnen meine Neugier. Aber ich liebe die immer näher heran schäumende Lokomotive – wenn ich mich einmal auf die Schienen leg, wird sie so gut sein, mich zu zermalmen.

Ach, und doch hätt ich gern etwas erlebt. Nichts Ungefüges. Aber eine einzige Sommersprosse, Sonnensprosse hätt ich gern einem Engel abgebissen, damit ich auch daheim etwas hab, wenn ich alternd allein bin und das Leben aus ist. Doch – da fällt auch dies Luftschloß ein – Sommersprossen, die dringen nur im Sommer empor, jetzt ist ihr Leben verblaßt vor Winter. Und dann: es dürften sich viele angestellt haben um Sommersprossen, und ich bin nicht der Erste, und ich bin nicht der Letzte, und meine leere Hand bittet um keine Kleinigkeit, sie will den ganzen Sommer haben.

Ob ihr Blick noch von mir weiß? Einmal nämlich, da waren wir in meinem Traum wieder Kinder und spielten Traumspiele zusammen, blaue Tage lang, und wenn es regnete, ahnten wir nichts davon, Sonnenwind wehte, um uns prustete die Heiterkeit unserer Seelen, sich aufschwingend in farbig glühende Seifenblasen des Glücks.

Jetzt jedoch sitz ich hier, meilenfern von ihr, keine eisernen Bahnen führen von mir zu ihr, nur zarte Spinnfäden meines Gehirns, und der schwach aushauchende Duft der Tage, die vergangen sind. Doch ich möcht mich nicht vergehen, verirren in die Vergangenheit, ich hasse die rostigen Lastzüge, meine Liebe reitet den Blitz!

Die mir sonst im Weltenraum einherirrende Sehnsucht, meine imaginäre Zuneigung band sich ein einziges Mal an ein meinen Blicken wahrnehmbares Mensch-Objekt. Es gab ein blondes, rotwangiges, den Zopf mit einer Masche geschmücktes Mädchen schönen Ganges, heller Augen, dessen Anblick mich entrückte. Meine Erde erschütterte. Man kommt aus dem Gleichgewicht, wenn das Anziehende außerhalb der eigenen Macht liegt. Ich bin ein Säugling, der trinken will; aber es ist weder Brust noch Milch da.

Ach, ich hab es bis nun nicht geglaubt, nicht geahnt, es für eine betrügerische Fiktion der Poësel gehalten – jetzt aber weiß ich es gründlich. Es ist doch kein Vergnügen, ich wenigstens möchte nicht unter die Freuden des Paradieses rechnen: jenes peinvolle Stehn hinter dem bekannten Pfeiler, dies Harren und Warten auf ein Wunder, das noch im letzten Augenblick mein Leben wende, mich rette.

Es ist geschehn, nichts ist dazwischen getreten, ich hab es gesehn, mit eigenen Augen gesehn, wie das Mädchen, das ich liebte, liebe! einem fremden Mann zu eigen gegeben ward.

Ich hab es über mich gebracht und bin hingegangen. Nicht etwa, um mich an meinem Unglück zu weiden, unter den Sturzbächen des Leids zu erschauern, keineswegs! Ich war eitel genug, anzunehmen, zu träumen, zu wähnen, zu hoffen, irgendwas würde sich ereignen, es würde all dem Fürchterlichen noch ein für mich seliges Ende bereitet werden. Nein, nichts kam, nichts geschah. Nach einer von rhetorischen Schönheiten gewiß strotzenden Rede ging die Dame meines Herzens in den Besitz eines Nadelfabrikanten über.

Und ich war unter den Gratulierenden. Aber den schäumenden Rossen, die sie davontrugen, dürfte sie mehr Gefühl entgegengebracht haben als mir, dem sie die Hand drückte.

Wann und wie ich mich nach Hause fand – weiß ich nicht. Vielleicht war der junge Mann, der, als die Elektrische plötzlich stehn blieb, gedankenlos ausstieg und, seine Glacéhandschuhe nicht achtend, Seite an Seite mit einem Kondukteur und einem Schusterbuben durch kräftiges Anstemmen den Wagen in Bewegung zu setzen versuchte, vielleicht war das ich. Weiß Gott, über welche Hemmung ich mir damit hinweghelfen wollte … Vielleicht – ach was! Vielleicht? Wahrhaftig: ich möcht nicht ich sein!

Es scheinen einige Tage vorübergegangen zu sein. Wenigstens entsinn ich mich, mich wiederholt aus dem Bett erhoben zu haben, Kleider wurden von mir angelegt, die Hausmeisterin hat mir auf der Stiege des öfteren »Guten Morgen« gesagt, etwas später werden Kellner denselben Wunsch geäußert haben. Auch sonst dürfte meine Zeit programmgemäß verlaufen sein – ich meine damit nicht mein Programm, sondern die ehernen Aufstellungen unbegreiflicher Mächte, die da über meinem Haupt die Sonne steigen und fallen lassen, wie Kinder einen Drachen. Ich selbst hab kein Programm, keine Zukunft und will keine, im Gegenteil: ich möcht mich zur Wehr setzen gegen dieses grauenvolle Weiterhasten, wenn ich nur wüßt wo, legt ich Protest ein gegen das empörende Vorwärtsschreiten der Zeit und beantragte meine Rückversetzung in die Tage der Kindheit. Und doch, selbst wenn dies höhernorts veranlaßt würde, ich weiß: es wär nicht anders gekommen.

Eine mir bekannte Partei bewohnte »Ihr« Haus. Im ersten Stock haben lange Jahre Schulkollegen von mir gehaust, Söhne eines geschickt arrivierenden, mit einem Würdebart gesegneten Oberbeamten. Ich habe die leichtlebigen Burschen ab und zu sympathisch gefunden, im Vertrauen auf einen sicher vorhandenen guten Kern mich über diverse Laxheiten der früh ins Eitle, Protzige und Arrogante umgebogenen Jünglinge gutmütig hinweggesetzt. Sie schienen korrekt dem Prinzip zu huldigen: »Fertigwerden, damit man etwas verdient!« Gehörten überhaupt zu jener Sorte spielend leicht lernender Schüler und Wunderkinder, aus denen das ironische Schicksal die Bankbeamten formt. Ich war schwerblütiger, träumte in den Tag und sogar in die Nacht, besaß manche Tugenden des heiligen Don Quixote, und während jene sich bereits aalglatt hindurchwanden und die ersten schönen Krawatten siegtrunken erbeuteten und Runde für Runde ihres kleinen, profitlichen Rennens zurücklegten, stand ich ruhig, höchstens über ihre letzten Endes so vergeblichen Anstrengungen die dichterisch lange Mähne schüttelnd, am Start. »Dies ist ein gutgemachtes Handikap«, dacht ich. »Legt nur immerhin hinter euren Staubschützern, Windschützern und Schweißsparern Kilometer auf Kilometer zurück. Eure raumgreifende Eile ist und wirkt nur Schein, in Wahrheit bewegt ihr euch am Ort. Ich aber, wenn ich Ernst mach, bin ich am Ziel.« Dies wußt ich, und setzte mich schonungsvoll nieder, während sie Runde um Runde ihrer fiktiven Meilen fraßen, mit Defekten an der Börse spielten, glücklich auf die Butterseite fielen und fette Bräute oder andere Häuseradministrationen angelten. Zuerst von Versen geschaukelt, dann von fehlenden Beistrichen verfolgt, dereinst vielleicht eine fleischgewordene Restauflage – rannt ich am Leben vorbei, rannte es sogar um, wenn es mir begegnen wollte. Stieß es bereitwillig auf mich, sagt ich entsetzt: »O, dies ist es nicht, was ich suchte«, schielte flüchtig auf das arme Ding »Leben« durch das Monokel des Geistes und suchte das Weite.

Wie oft hab ich sie gesehn? Das erste Mal, als ich in dem Haus, wo sie droben im zweiten Stock wohnte, bei den Kameraden im ersten Stock Domino spielte und sie errötend und mit einem kleinen Knicks zu uns ins Zimmer trat und fragte, ob wir nicht wüßten, wo ihr kleiner Bruder sei. Ich war damals im Untergymnasium, sie in der Bürgerschul – wir standen im gleichen Alter, das war das Tragische.

Seit jenem ersten Mal konnt ich sie nie sehen, ohne zu erröten. Darüber wieder ärgerte ich mich stets in diesen tiefen Knabentrotz, ich grüßte sie nicht, obwohl sich unsere Eltern kannten, ja ich konnt ihr nicht begegnen, ohne den Versuch zu machen, ihr irgendwas anzutun. Holte ich die Freunde zur Schul ab – mein Herz klopfte vor freudiger Furcht, das Mädchen zu sehn; traf ich sie aber einmal auf enger Stiege, dann wich ich ihr nicht aus und warf ihr so böse Blicke zu, daß ich mich noch heute wundre, wieso das leicht geschreckte Kind darüber nie in Ohnmacht fiel. Es blieb so. Spielte sie in ihrem Hof mit andern Mädchen und kam ich vorbei, stets waren Steinchen oder Schneeballen zur Hand, die ihr auf nicht eben zarte Weise meine Liebe – meinen Haß, wie ich damals meinte – sinnfällig ausdrückten. Später ward es nicht besser. Ich ward älter und progressiv gescheiter – ihr gegenüber schwand mir die Besinnung. Kam sie mir auf der Straße entgegen: in ihrem Gang war mehr Musik als die Mappe, die sie in der Hand trug und auf der dies Wort geschrieben stand, beim besten Willen sämtlicher Komponisten der Erde enthalten konnte. Sah ich sie von weitem, so war ich stets von den trefflichsten Vorsätzen erfüllt, es war ausgemacht, ich würde mit einer artigen Gebärde den Hut lüften, das nächste Mal dieser Bewegung eine kleine Verbeugung hinzufügen, sozusagen als Revanche für ihren Knicks vor Jahren … damals, als ich sie zum erstenmal sah und dessen sie sich hoffentlich erinnerte … wie gesagt, ich würde oft höflich grüßen, worauf einer allmählichen Anbahnung beglückend nähern Verkehrs nichts im Weg stünde. Dies war der Schlachtplan. Kam sie aber näher, sah ich, was nicht zu schildern ist, die klaren, blauen Augen – nein, ich will nicht daran denken, will mir nicht ihre Frohgestalt zurückrufen, das Haar … die unbeschreiblich feinen Hände nicht vor mir sehn, ich weiß es zu wohl, ich würde mich dann schuldlos fühlen, denn es konnte gar nicht anders sein: man mußte wehrlos werden, wenn man sie sah. Und wenn nur meinen grußbereiten Arm Lähmung befiel und nie die andern ähnlich verzaubert wurden, so kam dies daher, daß die andern sie nicht liebten, sondern – und das konnte ich nicht fassen – dies Mädchen in ihnen Sensationen natürlicherer Art hervorrief.

Ein einziges Mal setzte ich es durch, sie zu grüßen. Sie dankte mir. »Guten Tag«, sagte sie. Man findet diese Antwort banal und nicht des Merkens würdig? Es war das erste und letzte Wort, das sie an mich richtete, das einzige, das mir allein gehörte. Ich hab es mir aufgehoben.

Denn einige Zeit nachher, wie klug und berechnend ich auch meine Schritte an ihrem Haus vorüberlenkte, ich konnte sie nie treffen, und bald darauf hieß es, sie sei kränklich und da habe man sie nach Ägypten geschickt, wo ihr Onkel Arzt war … wie bei mir sofort feststand: Leibarzt eines Paschas von neun Roßschweifen – unter sieben hätt ich es bei einem Onkel meiner Angebeteten entschieden nicht getan. Tatsache ist, daß ich, der damals an der Matura würgte, der Einzige in der Klasse war, der eine Ahnung besaß, wo Tell el Amarna liegt. Mein Interesse für Dinge ägyptischer Herkunft war in jenen Monaten sehr groß, ausgeschlossen von dieser Anteilnahme waren lediglich Memphis-Zigaretten und die ägyptische Augenkrankheit. Ich hätt es nicht über mich gebracht, meine Sehnsucht nach Mariane durch Surrogate zu stillen: zu entweihen, die aus dem Land ihres Weilens stammten.

Diese Liebhaberei ist erst später gekommen … sozusagen als Abfindung … Der ebenso vorübergehende wie verhängnisvolle Aufenthalt Marias in Ägypten hat mich – und nicht nur was Zigaretten anlangt – zum Ägyptologen gemacht. Lächerlicherweise! Denn gerade in diesem Erdstrich spielten sich die Vorgänge ab, die mich seelisch arm und einsam machten, mich von jeder menschlichen Beziehung loslösten.

Ich bezweifle sehr, daß Herr Charles Leimbiegler, seines Zeichens Spinnadelfabrikant, viel von jener sonderbaren Lähmung des Armes zu spüren hatte, der ich zum Opfer fiel. Von Schneeballen ganz abgesehn, Marterwerkzeuge, die in Heluan übrigens kaum zu haben gewesen sein dürften. Seine Art Liebe war nie so intensiv, daß er sie mit Haß verwechseln oder gar durch sinnfällige Anwendung von Steinchen hätte zum Ausdruck bringen können. Sondern vielmehr: durch ehrerbietigste Entblößung einer schallenden Glatze wie auch durch biedermännische Bemerkungen über die wechselreiche Beschaffenheit der Witterung gewann er ihr Herz – bis die gemeinsame und durch verschiedene Zeremonien einigermaßen gestörte Anwesenheit in einem Gotteshaus im beiderseitigen Interesse gelegen erschien. Vorher sah ich sie nur noch einmal. Als ich eines Tages beim Fenster stand und sie unten vorüber ging, da erschauerte sie plötzlich, nicht so sehr unter der übergroßen Glut meines Blickes, wie ich anfangs wähnte – eine Haftel ihres Kleides war aufgegangen, ihr Bräutigam legte Hand an ihre Schulter und behob den Schaden. Damals, im Augenblick dieser rohen Berührung, zu der ich wenigstens nie den Mut besessen hätte, war ich nah dran, mich zu entfernen. Was mich vor dem Selbstmord bewahrte, weiß ich nicht. Vielleicht jene kindliche Hoffnung auf ein Wunder. Ich bin mit wenigem zufrieden. Nicht um Schmerzen zu erdulden, ging ich zur Trauung. Als ich ihr gratulierte, stand ich ihr nah. Als ich ihr gratulierte, hielt ich das einzige Mal ihre Hand in meiner. So ein Wüstling bin ich. Wenn das Mädchen, das ich liebe, sich in Ägypten verlobt, werd ich Ägyptologe. So ein Wüstling bin ich. Arm, wild wüstend in der eigenen Wüste.


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