Albert Ehrenstein
Mörder aus Gerechtigkeit
Albert Ehrenstein

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Pu Sung Ling

Wort zu den sonderbaren Berichten aus der Schreibkammer »Zuflucht«

Von stierhäuptigen Teufeln, gehüllt in Gras, umgürtet mit Efeu, von Schlangendämonen und Langnägeln wird man nicht müd zu erzählen. Jeder träumt auf seine Art von der Musik des Himmels – ob ihm aber Harmonie der Sphären erschallt oder Höllengeheul, hängt von seinen Vorleben ab.

Was mich trifft, ich kann mit meines Herbstes armem Leuchtkäferlicht nicht mehr kämpfen gegen die Kobolde des Alters. Ich bin nur noch ein Stäubchen im Sonnenstrahl, gut genug für das Hohngelächter des Teufels. Ich habe nicht das Genie des Kan Pao, des tiefen Durchforschers der Berichte über die Götter, ich bin eher Geist vom Geiste des Su Tung Po, der aufzuhorchen liebte, wenn man vom Überirdischen anhob. Ich überrede die Menschen, was sie derart wissen, mir aufzuschreiben, und später form ich es zu einer Erzählung. Und so haben meine Freunde aus allen Vierteln im Verlauf der Zeit mich mit einer Unmenge Geschichten gesegnet – bei meiner Gewohnheit zu sammeln, wuchs der Stoff zu einem ungeheueren Haufen. 398

Ich behaupte: menschliche Wesen stehen diesseits und jenseits festgelegter Gesetze und starrer Vorschriften, und innerhalb unserer Grenzpfähle – mitten unter uns gibt es bemerkenswertere Erscheinungen als im Lande der Leute, die ihre Haare kurz schneiden. Die Vorzeit ist vor uns aufgerollt, manche Märchen finden sich im Altertum, die ungewöhnlicher sind als das vom Stamm der fliegenden Köpfe.

Viele sind, die, mein Werk aufschlagend, in ein Gelächter ausbrechen würden, und an den Kreuzwegen die Männer wollen mir nicht lauschen. Und doch hab ich mancherlei Kenntnis von den drei Daseinsformen ausgesprochen, Felsenworte von Klippen her. Was ich sage, sollte um meinetwillen nicht mißachtet werden.

Kaum ich geboren – als der Bogen über meines Vaters Tisch hing, träumte er, daß ein kranker Mönch Buddhos, halb bedeckt vom Priestermantel, ins Zimmer trat. Auf seiner nackten Brust war sichtbar ein Stück Pflaster, rund wie ein Käsch. Und mein Vater, aus dem Schlaf erwacht, fand, daß ich, kaum geboren, ein ähnliches schwarzes Mal auf meinem Körper trug. Als Kind war ich mager, kränkelte stets, unfähig, mich im Streit des Lebens zu behaupten. Unser Heim war eisig und trostlos einsam wie ein Kloster, und ich, der ich dort mit der Pflugschar meiner Feder meines Lebens Unterhalt zusammenpflügte, war so arm wie ein Bettelmönch mit leerer Almosenschale. Oft und oft stützt ich meinen Kopf mit meiner Hand und jammerte: ›Sicher war ich in einem früheren Lebensverhängnis einer, der mit dem 399 Gesicht gegen die Wand saß.‹ Und so verwies ich dieses Lebens Mißerfolg in den Einfluß eines Schicksalsrestes, vorbestimmt von früher her. Es trieb mich hierhin und dorthin, im Strome des gerade wehenden Windes, wie eine Blume, die zur Erde sinkt. Aber die sechs Wege des Überganges, alle die Wandlungen der wandernden Seele sind wahrlich unerforschbar, und ich habe kein Recht zu weinen. Wie es auch sei: Mitternacht findet mich bei verlöschender Lampe, während der Wind draußen Trauer heult. Über meinen trostlosen Tisch gebeugt, stückle ich meine Legenden zusammen, vergebens hoffend, eine erfolgreiche Fortsetzung der »Höllenlandschaften« zu schaffen. Mit einem Humpen sporn ich meine Feder an, dennoch glückt mir dabei nur, meine angeregten Gefühle zu lüften; und wie ich so meine Einfälle zusammenstelle, bin ich wahrlich ein Gegenstand, würdig des Mitleids. Ach, ich bin bloß ein Vogel, der des Winters Frost fürchtet und keine Zuflucht im Baum findet; eine Herbstheuschrecke, die dem Mond zuzirpt, an die Tür gedrängt, sich ein wenig zu wärmen. Wo sind, wo ist einer, der mich kennt? Sie sind – schon im dunkeln Hain, allwo des Schattens Grenze verschwimmt, gehüllt in undurchdringliches Düster. 400

 

Der Mondhase holt die Füchsin

Ein gewisser Tschao aus Tschang An wohnte bei einer Familie namens Tai. Er war sehr arm und wurde eines Tages sterbenskrank. Damit er es kühler hätte, trug man ihn in die Veranda, und als er aus seinem Schlummer erwachte – stand ein schönes Mädchen vor ihm.

»Ich bin gekommen, deine Frau zu sein«, sagte das Mädchen, als er fragte, wer sie wäre. Hierauf erwiderte er, ein armer Mann wie er könne kein solches Glück erwarten, und da er außerdem auf dem Totenbett läge, hätte er für die Dienste einer Frau nicht viel Verwendung. Das Mädchen sagte, sie könne ihn gesund machen. Aber er bezweifelte dies – »und selbst, wenn Sie ein gutes Rezept wüßten, hätt ich doch nicht die Mittel, es anfertigen zu lassen.«

»Ich brauche keine Medizin, um dich gesund zu machen«, erwiderte das Mädchen und ging sofort daran, ihm den Rücken und den Leib mit der Hand zu reiben, was ihn wie Feuer brannte. Doch er begann sich sofort besser zu fühlen und fragte das junge Mädchen, wie es hieße, damit er, wie er sagte, ihren Namen in seine Gebete einschließen könne.

»Ich bin ein Fuchsgeist«, erwiderte sie, »und du warst, als du unter der Han-Dynastie als Tschu Sui Liang lebtest, ein Wohltäter meiner Familie. Was du für uns getan hast, ist in meinem Herzen eingegraben, und es ist mir endlich geglückt, dich zu finden und dir einigermaßen deine Güte zu vergelten.«

Tschao, der sich seiner Armut schämte, fürchtete, die 401 junge Dame könnte sich in seinem schmutzigen Zimmer das Kleid verderben. Aber sie bat ihn, sie einzulassen, und er führte sie in sein Zimmer, in dem es weder etwas zum Sitzen, noch zum Essen gab.

»Du siehst, daß tatsächlich gar nichts zum Essen da ist und ich durchaus nicht die Mittel hab, eine Frau zu erhalten.«

»Beunruhige dich darüber nicht«, rief sie, und im nächsten Augenblick gewahrte er ein mit kostbaren Kleidern bedecktes Ruhelager und sah, daß die Wände von silbergesprenkeltem Papier überzogen waren. Matten und Tische erschienen, auf denen sich alle Arten Wein und die erlesensten Speisen befanden. Hierauf erfreuten sie sich aneinander und all den guten Dingen und lebten von nun an als Mann und Frau zusammen.

Viele Leute kamen, diese seltsamen Veränderungen zu bestaunen; sie alle wurden von der jungen Dame herzlich empfangen, die ihrerseits Herrn Tschao stets begleitete, wenn er fortging oder auswärts speiste.

Eines Tages befand sich in der Gesellschaft ein zügelloser Student, der ihr sofort auffiel. Sie stellte ihn zur Rede, belegte ihn mit verschiedenen Schimpfnamen und schlug ihn dann derart auf die Schläfe, daß sein Kopf zum Fenster hinausflog, während sein Körper unbeweglich im Zimmer verblieb. Die andern baten um sein Leben, worauf Kopf und Rumpf sich wieder zusammenfügten und der Student zu sich kam.

Nach einiger Zeit wurden die Besucher zu zahlreich, 402 und wenn sie sich weigerte, sie zu empfangen, ließen sie ihren Unmut an ihrem Gatten aus.

Als sie dann später einmal bei einem Fest mit einigen Freunden zechend beisammen waren, rannte plötzlich der weiße Mondhase herein, worauf die junge Dame aufsprang und sagte:

»Der Verlängerer des Lebens ist eben um mich gekommen«, und sich dem Hasen zuwendend, fügte sie hinzu: »Geh nur voraus, ich werde dir folgen.«

Der Hase entfernte sich, und sie befahl eine Leiter zu bringen und sie gegen einen hohen Baum, der sich hinten im Hof befand, zu lehnen. Das Ende der Leiter ragte über den Wipfel des Baumes weit hinaus.

Die junge Dame stieg zuerst hinauf und Tschao dicht hinter ihr. Dann rief sie, daß jeder, der sie zu begleiten wünsche, sich beeilen möge. Keiner wagte es, mit Ausnahme eines Dieners, der zum Haus gehörte und Tschao folgte.

Und so stiegen sie aufwärts, hinauf, empor, empor – bis sie in den Wolken verschwanden und nicht mehr gesehen wurden.

Als die Zuschauer die Leiter näher betrachteten, fanden sie, daß es nur ein alter Türrahmen war, dessen Füllung eingeschlagen war. Und als sie in Herrn Tschaos Zimmer gingen, war es wieder das alte, schmutzige und unmöblierte Zimmer wie einst. Sie nahmen sich vor, den Diener, wenn er zurückkehrte, nach allem zu fragen – aber er kam nie. 403

 

Studium in der Unterwelt

Herr Tai aus An Tsching führte in seiner Jugend ein zügelloses Leben, bis er, mitternachts betrunken heimkehrend, unterwegs seinen toten Vetter Tschi traf. Da er in seiner Trunkenheit völlig vergessen hatte, daß sein Vetter tot war, fragte er ihn: »Was treibst denn du?« »Ich bin ein bereits entleibter Geist«, erwiderte Tschi, »weißt du das nicht?« Tai verwirrte diese Antwort ein wenig, aber da er viel Reiswein getrunken hatte, fürchtete er sich nicht und fragte seinen Vetter, womit er sich in der Unterwelt die Zeit vertreibe? »Ich bin am Hof des großen Königs als Schreiber tätig«, sagte Tschi. »Dann mußt du alles über das uns Menschen bevorstehende Glück und Unglück wissen«, rief Tai. »Das gehört zu meinen Pflichten«, antwortete der Vetter, »selbstverständlich weiß ich all das. Aber ich sehe solch eine Unmenge von Entscheidungen, daß ich, außer die mich und meine Familie betreffenden, nichts weiter beachte. So sah ich vor drei Tagen deinen Namen auf der Liste.« Ängstlich fragte Tai, was über ihn dort stand; der Vetter zögerte nicht mit der Auskunft: »Ich will dir die Wahrheit nicht verheimlichen, dein Name war für eine finstere – furchtbare Hölle vorgemerkt.« Tai, der sich schrecklich beunruhigt fühlte, ward sofort nüchtern und bat seinen Vetter, ihm in irgendeiner Weise zu helfen. »Du mußt versuchen«, riet Tschi, »etwas Verdienstvolles zu tun, geeignet, deine Strafe zu mildern; aber das Register deiner Sünden ist so dick wie dein Daumen, und nichts außer den 404 allerverdienstvollsten Handlungen könnte dir vielleicht noch helfen. Was kann ein kleiner Schreiber wie ich für dich tun? Hättest du jeden Tag eine gute Tat verrichtet, besäßest du ein Jahr und noch länger Zeit, aber jetzt ist es zu spät. Doch besser dich wenigstens von jetzt ab, vielleicht besteht für dich doch noch die Möglichkeit, zu entkommen.« Tai warf sich seinem Vetter zu Füßen und bat ihn, zu helfen; doch als er wieder aufblickte, war Tschi verschwunden. Betrübt schlich er heim und ging daran, sein Herz zu erforschen und sein Betragen zu ändern.

Aber ein Nachbar hatte Tai seit langem in Verdacht, daß Tai der Nachbarin zu eindringliche Aufmerksamkeit schenkte, und infolgedessen suchte er Tai auf den Feldern, verleitete ihn, einen versiegten Brunnen zu besichtigen und stieß ihn dann hinein. Der Brunnen war sehr tief, und der Mann nahm an, daß Tai zumindest ohnmächtig war; um Mitternacht jedoch kam Tai wieder zu sich und begann um Hilfe zu schreien, aber niemand hörte ihn. Am nächsten Tag kam der Nachbar, fürchtend, Tai könnte wieder das Bewußtsein erlangt haben, zum Brunnen und lauschte in die Tiefe. Als er um Hilfe schreien hörte, begann er eine Menge Steine hinabzuwerfen. Tai flüchtete in eine seitlich gelegene Höhle und wagte nicht, sich weiter bemerkbar zu machen. Aber sein Feind wußte, daß Tai nicht tot war und füllte deshalb den Brunnen bis an den Rand mit Erde.

In der Höhle herrschte so pechschwarze Finsternis wie in der Unterwelt, und da es Tai unmöglich war, etwas Eß- oder Trinkbares zu finden, gab er alle 405 Hoffnung auf, am Leben zu bleiben. Er kroch auf allen vieren in der Höhle vorwärts, ward vordringend aber vom Wasser gehemmt und kehrte nach einigen Schritten an seinen alten Platz zurück. Zuerst fühlte er Hunger, doch nach und nach verlor sich dieses Gefühl; aber als er bedachte, daß er auf dem Grunde des Brunnens kaum irgendeine gute Tat vollbringen konnte, rief er laut den Namen Buddhos. Bald darauf sah er eine Anzahl von Irrlichtern über das Wasser hin und her huschen und die Dunkelheit der Höhle erhellen. Er betete: »Oh, Irrlichter, ich habe gehört, daß ihr die Geister Verfolgter und Verunglückter seid. Ich habe nicht lang zu leben, noch Hoffnung zu entkommen. So gönnt mir einige Worte mit euch, die Eintönigkeit meiner Lage zu lindern.«

Hierauf kamen die Irrlichter über das Wasser zu ihm herangeschwirrt, jedes von ihnen schien ein Zwerg, halb so groß wie sonst Männer sind. Tai fragte sie, woher sie kämen? Ein Irrlicht huschte: »Das hier ist eine alte Kohlenmine. Der Besitzer zerstörte beim Graben nach Kohle einige Gräber, sofort ersäufte Herr Lung Fei die Mine, wobei dreiundvierzig Arbeiter ertranken. Wir sind die Schatten jener Kohlenkulis.« Es wisse nicht genau, wisperte das Irrlicht, wer Herr Lung Fei wäre, vielleicht ein Geheimschreiber beim Stadtgott, der nachher aus Mitleid mit dem Unglück der unschuldigen Arbeiter es sich zur Gewohnheit gemacht hätte, ihnen jeden dritten oder vierten Tag ein wenig Haferschleim zu senden. »Aber das kalte Wasser«, flüsterte das Irrlicht, »durchweicht unsere Knochen, und es besteht wenig Aussicht 406 auf ein trockenes Grab. Ich bitte Sie, Herr, wenn Sie in einigen Tagen zur Oberwelt zurückkehren, unsere vermodernden Gebeine aufzufischen und sie in irgendeinem Friedhof zu bestatten. Sie werden damit grenzenlose Dankbarkeit im unterirdischen Reich hervorrufen.« Tai versprach ihren Wunsch zu erfüllen, wenn es ihm gelänge, von hier zu entrinnen. »Doch wie darf ich hoffen, je wieder das Tageslicht zu erblicken?!« Dann begann er die Irrlichter zu lehren, Gebete herzusagen, und machte für sie aus Schlammbrocken Gebetkügelchen, damit sie die Zahl der ausgestoßenen Anrufungen feststellen könnten. Er wußte nicht zu sagen, ob es Tag oder Nacht war; er schlief, wenn er müde war, und wenn er erwachte, setzte er sich auf. Plötzlich bemerkte er in der Ferne Licht von Lampen, worüber die Geister sich freuten. »Das ist Herr Lung Fei mit unserer Nahrung«, sagten sie und luden Tai ein, mit ihnen zu kommen; als er klagte, er könne des Wassers wegen nicht, trugen sie ihn hinüber. Nachdem sie über eine Viertelmeile beinah sich bald da, bald dorthin gewendet hatten, erreichte er einen Platz, über den allein zu schreiten ihn die Irrlichter baten. Und dann hatte er das Gefühl, Stufen zu ersteigen: die führten zu einem kerzenerleuchteten Raum. Da Tai das Licht nicht gleich bemerkt hatte, war er überaus erfreut, sowie er es gewahrte, und trat ein. Aber als er einen alten Mann mit Gelehrtenrock und Kappe an dem Ehrenplatz eines Tisches sitzen sah, hielt er inne und wagte nicht weiterzugehen. Doch der uralte Greis hatte ihn bereits entdeckt und fragte, wieso denn Tai – ein lebender Mensch! 407 hierher habe gelangen können? Tai warf sich ihm zu Füßen und erzählte ihm alles. Worauf der alte Mann rief: »Mein Urenkel!«, Tai aufzustehen bat, ihm einen Sitz anbot und ihm erklärte, sein eigener Name sei Tai Ch'ien gewesen, nun aber sei er als Lung Fei bekannt. Er erzählte ferner, in vergangenen Tagen hätte ein unwürdiger Enkel von ihm namens Tang sich mit einigen Schurken verbündet und einen Brunnen in der Nähe seines Grabes gegraben, wodurch der Frieden seiner ewigen Nacht gestört worden wäre. Deshalb also hätte er den Ort mit Salzwasser überflutet, wobei leider Unschuldige ertrunken wären. Dann fragte er Tai nach dem Befinden der Familie.

Nun war Tai Nachkomme eines der fünf Brüder, von deren Ältestem ein Mann namens Tang stammte. Und ein einflußreicher Mann des Ortes hatte Tang verleitet, eine Kohlengrube in der Nähe des Familiengrabes zu erschließen. Aber Wasser kam, und alle Arbeiter ertranken, worauf die Verwandten der Dahingeschiedenen Schadenersatzansprüche zu stellen begannen; Tang und sein Freund verarmten, und Tangs Nachkommen gerieten in äußerste Not. Tai stammte von einem der Brüder des Tang ab, und als er diese Geschichte seiner Vorfahren hörte, sprach er mit dem alten Mann darüber. »Was konntest du anders, als unglücklich sein«, rief Lung Fei, »mit so einem unkindlichen Ahnherrn? Aber da du einmal hergekommen bist, darfst du auf keinen Fall deine Studien vernachlässigen.« Der alte Mann versah Tai mit Nahrung und Wein und breitete dann einen im alten Stil abgefaßten Band mit literarischen Abhandlungen vor 408 ihm aus, und bat ihn, diesen sehr sorgfältig zu studieren. Er gab ihm auch Themen zur Ausarbeitung und korrigierte seine Aufsätze, als wenn er sein Lehrer gewesen wäre. Die armdicke Kerze brannte immerzu, ohne geputzt werden zu müssen, wurde niemals kleiner. Wenn Tai müde war, ging er schlafen, aber nie wußte er, ob es Tag war oder Nacht. Der alte Mann besuchte ihn dann und wann und ließ einen Knaben zur Bedienung seines Urenkels zurück. Es schien, als ob schon mehrere Jahre so dahingegangen wären, doch Tai fühlte sich in keiner Weise beunruhigt. Er hatte kein anderes Buch als den Band mit Abhandlungen – hundert im ganzen – die er mehr als viertausendmal durchlas. Eines Tages sagte der alte Mann zu ihm: »Die Zeit deiner Sühne ist beinah um, du wirst bald wieder in die Welt oben zur rückkehren können. Aber mein Grab steht in der Nähe der Kohlenmine, der rauhe Wind spielt mit meinem Gebein.« Tai versprach alles gutzumachen, worauf der alte Mann Geister zusammenrief und ihnen auftrug, Tai an den Ort zurückzuführen, wo sie ihn gefunden hatten. Die Geister bückten sich nun nacheinander und baten Tai, sie ja nicht zu vergessen, während er selbst es sich gar nicht vorstellen konnte, wie er wieder nach oben gelangen sollte?

Inzwischen hatte Tais Familie ihn überall gesucht und seine Mutter die Behörden von seinem Verschwinden in Kenntnis gesetzt, wodurch aber nur eine große Zahl unschuldiger Bürger ins Unglück verwickelt wurde, ohne daß man irgendeine Spur des Vermißten fand. 409

Es verstrichen drei bis vier Jahre. Bei der Behörde wechselten die Beamten, was zur Folge hatte, daß die Suche nur lässig betrieben wurde, und daß Tais Frau, die sich allein nicht glücklich fühlte, einen andern Mann heiratete. Eben um diese Zeit ging ein Bürger daran, den alten Brunnen wieder instand zu setzen, und fand Tais Körper in der Höhle auf dem Grund des Brunnens. Als er ihn berührte, merkte er, daß Tai nicht tot war, und verständigte sogleich die Familie. Tai wurde nach Hause geschafft und erholte sich innerhalb eines Tages so weit, daß er erzählen konnte, was ihm widerfahren war.

Während er unten im Brunnen gewesen, hatte der Nachbar – der ihn in die Tiefe gestoßen – sein eigenes Weib totgeschlagen; und da sein Schwiegervater ein Verfahren gegen ihn einleiten ließ, wurde er für länger als ein Jahr eingekerkert; inzwischen wurde der Fall untersucht. Als er endlich freigelassen wurde, war er nur mehr ein Sack voll Knochen. Hörend, Tai sei wieder ins Leben zurückgekommen, erschrak er heftig und floh. Die Familie versuchte Tai zu überreden, ihn verfolgen zu lassen, doch der wollte nicht, erklärte vielmehr, was ihm zugestoßen, sei die richtige Strafe für sein eigenes schlechtes Betragen gewesen und hätte nichts mit dem Nachbarn zu tun. Hierauf wagte jener Nachbar zurückzukehren. Und als das Wasser im Brunnen ausgetrocknet war, mietete Tai Männer, welche hinabstiegen, die Knochen sammelten, die er in Särge legte und im Friedhof begrub. Er suchte dann Lung Feis Namen in den Ahnentafeln und opferte alle Arten von köstlichen Dingen 410 auf seinem Grab. Mit der Zeit erfuhr der Literaturkanzler, der überdies mit Tais Aufsätzen sehr zufrieden war, diese sonderbare Geschichte. Tai bestand nacheinander seine Prüfungen, und als er den Grad seines Meisters erreicht hatte, reiste er heim und begrub von neuem Lung Feis Gebeine auf der östlichen Ebene und kehrte regelmäßig im Frühling dahin zurück, um seine Verehrung zu bezeugen.

 

Die gute Nase

Als die Studenten beim Tempel vorbeikamen, bemerkten sie einen alten, blinden Priester, der in der Vorhalle saß und damit beschäftigt war, an Kranke Wundermedizinen und ärztliche Ratschläge zu verkaufen.

»Ah!« rief Sung, »da ist ein ungewöhnlicher Mann, der in der Kritik dichterischer Komposition sehr bewandert ist –« und sogleich holte er die Abhandlung, die sie eben gelesen hatten, um den alten Priester nach seiner Meinung über ihren Wert zu fragen. Sie trafen ihren Freund aus Yü Hang und begaben sich zu dritt zu dem Priester.

Wang sprach ihn mit »Professor« an, worauf der Priester, der einen Kranken vor sich zu haben glaubte, ihn fragte, woran er litte. Wang erklärte ihm nun, um was es sich handle. Der Priester lächelte und sagte:

»Wie kommen Sie auf diesen Einfall? Wie kann ein Blinder den Wert Ihrer Arbeiten beurteilen?« 411

Wang bat ihn, er möge die Ohren an Stelle der Augen gebrauchen; aber der Priester meinte abwehrend, daß er kaum die Geduld haben würde, die drei Abschnitte, die sicher mehr als zweitausend Worte lang wären, über sich ergehen zu lassen. »Immerhin«, fügte er hinzu, »wenn Sie sie verbrennen wollen, will ich sehn, was meine Nase dazu sagen wird.«

Wang war einverstanden und verbrannte den ersten Teil seiner Arbeit. Der alte Priester beschnüffelte den Rauch und erklärte, die Sache wäre gar nicht so schlecht, und meinte schließlich, Wang dürfte die Prüfung bestehen.

Der junge Student aus Yü Hang wollte nicht glauben, daß der alte Priester tatsächlich auf diese Weise etwas beurteilen könne, und verbrannte, um ihn auf die Probe zu stellen, die Abhandlung eines alten Meisters.

Kaum hatte der Priester deren Rauch verspürt, so rief er entzückt aus: »Wunderbar! Außerordentlich! Das gefällt mir ungemein! Oh! Das ist vom Geist des Genies und der Wahrheit erfüllt.«

Der Student aus Yü Hang, der darüber gar nicht genug staunen konnte, verbrannte nun auch eine seiner eigenen Arbeiten, worauf der Priester sagte:

»Ich hatte von dem Guten kaum gekostet, warum setzt man mir so schnell etwas anderes vor?«

»Der erste Teil«, erwiderte der junge Mann aus Yü Hang, »stammte von einem Freunde, das übrige ist meine eigene Arbeit.«

Kaum hatte er das gesagt, als der alte Priester heftig zu niesen und zu husten begann und flehte, man möge 412 ihm nicht mehr davon vorsetzen, da ihm sonst sicher totenübel würde.

Der Student aus Yü Hang wurde sehr verlegen und schlich beschämt davon.

In einigen Tagen aber wurde das Prüfungsergebnis bekannt, und sein Name befand sich unter jenen, welche die Prüfung mit Erfolg bestanden hatten – Wangs Namen hingegen stand nicht auf der Liste.

Wang suchte gleich den alten Priester auf, erzählte ihm das Ergebnis; der Alte seufzte:

»Ich bin blind, und ich fürchte, die Prüfenden sind es auch – doch ich habe wenigstens eine gute Nase, was man von denen nicht gerade behaupten kann. Und überdies hab ich nur über Ihre Arbeit gesprochen, keineswegs aber über das Schicksal.« 413



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