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Zu Shan Tong, im Distrikt Tsian des Bezirks Tsang Kiu, lebte ein verheirateter Magister namens Jao. Sein Weib hieß Fang. Er stammte aus alter Gelehrtenfamilie – schon bei der Geburt war sein Magen voll Tusche und Schreibpinseln. Seine Eltern starben jung; er hatte keine Geschwister. Die Leute sagten: Ja, der Magister Jao hat umfassende literarische Fähigkeiten, Kenntnisse mancherlei Art. Im Staatsverfassungswesen gründlich bewandert, besitzt er einen vorzüglichen, edlen Charakter; ist treu, aufrichtig und ehrlich; kurz, ein trefflicher Mann. Von geradezu altertümlicher Geradheit, schmeichelt er niemand.
Darum gewann er während seines langen Lebens nur wenige Freunde und Helfer. Er lebte dahin in äußerster Armut. Las und schrieb, obwohl er kaum das Papier sehen konnte: seine Augen waren blind vom vielen Weinen, sein Reis mit Tränen gesalzen. Ging er zu einem seiner Nachbarn, Geld borgen – waren auch sie blind, taten, als ob sie ihn nicht sähen. Niemand empfand Mitleid mit seiner Lage, niemand half ihm.
Frau Fang gebar dem Magister Jao zwei seiner Ansicht nach ungeratene Söhne: Wu Ta und Wu Sung. 8 Die merkten früh, daß ihr Vater von den Sternen und Wissenschaften weder reichlich noch überhaupt leben konnte, hielten nichts vom Schrifttum, verachteten alle bebrillte, über jeden Stein der Wirklichkeit stolpernde Gelehrsamkeit und liefen noch jung aus dem Hungerhaus auf und davon, um nicht auch zu verhungern oder sich totzuarbeiten. Sie waren wohl kleine Faulpelze, aber keine Tunichtgute, sondern im Herzen brave Kinder: jeder von ihnen wäre sofort mit irgendwelchen Reichtümern, wenn er sie nur erworben hätte, heimgekehrt – nicht nur, um den Eltern zu zeigen, was er zustande gebracht. So aber blieb, als die Söhne spurlos verschwunden waren, dem Vater als Trost seiner Seele nur eine Tochter übrig – Munglan. Als sie acht bis neun Jahre alt war, unterrichtete der Magister sie in den Anfangsgründen des Lesens und Schreibens, ihre Mutter lehrte sie weibliche Handarbeiten. Von Natur mit allen Vorzügen und trefflichsten Anlagen freigebig ausgestattet, konnte sie, da sie gewandt und fleißig war, schon nach zweijährigem Unterricht die künstlichsten Stickereien verfertigen, Bücher lesen und verstehen und sich nach den herrschenden Gebräuchen benehmen. Überdies war sie mit einer solchen Schönheit des Körpers geschmückt, daß der Mond vor ihr erbleichte, die Fische zu Boden sanken und die Vögel aus der Luft niederfielen.
Vater und Tochter unterhielten sich nur über Dichtkunst und Literatur. So genoß das Mädchen täglich einen Unterricht, wie ihn selbst die Söhne reicher Leute selten erhalten. Allein die guten Menschen litten 9 immer Mangel an Nahrung und Kleidern, mußten Hunger und Kälte erdulden. Die Tochter verdiente wohl durch ihre Stickereien hie und da etwas Geld, doch kaum hinlänglich, Holz und Reis für wenige Tage zu kaufen. Zudem beschäftigte sich der Magister nur mit Dichtkunst und literarischen Arbeiten – Dingen, die nichts eintrugen. Durch Handarbeit oder Handel Brot zu erwerben, verstand er nicht. Als er wieder einmal, umzingelt von abertausend Sorgen, traurig dasaß, kam seine Frau herbei, klagte:
»Wir haben heute den letzten Tag im Jahr; alle Leute bereiten sich vor, zum Beginn des neuen Jahres einander Glück zu wünschen. Wir allein sind arm, leiden Frost, haben keine warmen Kleider, kein Holz, den Ofen zu heizen. Wir haben keinen Reis; an Fische, Gemüse, Fleisch und Wein ist nicht zu denken. Wenn wir auch alles durchsuchen, es findet sich nichts mehr vor. Morgen ist der erste Tag des neuen Jahres; wir müssen daher heute noch unsere Rechnungen zusammenstellen und in Ordnung bringen. Vielleicht wird doch einer unserer Freunde uns Geld borgen oder ein Verwandter uns etwas geben!«
Der Magister: »Jahres Ende, weißer Schnee. Ich hätte beinahe vergessen, daß wir heute den letzten Tag des Jahres haben; ja, wir sind in arger Verlegenheit. Alles ganz recht – wäre nur etwas Geld aufzutreiben, damit ich den Vorfahren ein kleines Opfer darbringen kann.«
Bemerkte die Tochter, daß sie noch einige Käsch vom Erlös ihrer Stickereien übrig habe und sie dies Kleingeld nicht besser verwenden könnte, als Weihrauch 10 zu kaufen, den Ahnen der Familie zum Brandopfer: »Ich hab auch einen Vers gemacht, der euch die Drachen der Sorge vertreiben wird, wenn ich ihn hersag: Feuerung, Reis, Öl, Essig, Tee werden sich finden im Haus anderer Leute; wir leiden willig; gern nehm ich die Nadel, eine Pflaumenblüte zu sticken.«
Schmerzlich rief der Vater: »Kind! Wir haben schon hin und her gedacht und konnten nichts ausfindig machen. Da ist jedoch noch ein Bruder deiner Mutter vorhanden, Wang Kai Wei, der uns für kurze Zeit Geld leihen könnte – nur für die notwendigsten Lebensbedürfnisse und eine kleine Feier. Im neuen Jahr wollen wir dann weitersehn.«
Tochter: »O Vater, die Welt ist sehr gleichgültig und kalt für fremdes Unglück. Die Leute haben allzu verschiedene Ansichten! Wie würden sie uns etwas borgen! Das Beste, was wir tun können, ist geduldig in unserem Haus ausharren und still leiden. Wozu sollen wir den Leuten unser Elend erzählen, da sie uns doch nicht anhören, noch helfen wollen?!«
Sprach die Mutter: »Die Leute sind gefühllos, und es ist gar nicht leicht, ihnen unser Elend zu schildern und wirkliche Hilfe zu erlangen. Aber es bleibt uns nichts übrig, als eine kleine Anleihe zu machen, damit wir uns fürs Neujahr mit dem Unentbehrlichsten versehen können. Wir haben einen einzigen Blutsverwandten, der nicht wie ein zufälliger Nachbar unsere Bitte ablehnen kann. Ich habe alle Hoffnung, daß uns der gern etwas geben wird.«
Munglan: »Mutter, siehst du nicht, daß der ganze Himmel von Schneewolken überzogen ist? Und der 11 Vater hat nur ein einziges Kleid auf dem Leib! Es weht ein wilder Nordwind; wie kann da der liebe Vater durch den tiefen Schnee zum Haus am See?!«
Die Mutter ärgerte sich still über den Einwand – aber der Magister sah ein: es gab keinen anderen Ausweg; er schickte sich zum Fortgehen an, so schwer es ihm auch fiel. Er drückte sich die Pelzmütze auf den Kopf und verließ bekümmert das Haus. Kaum aus dem Tor, bedrängte ihn Schneetreiben. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er im Schneesturm Schritt für Schritt vorwärts kommen. Er legte die Hände auf den Rücken, gebeugt lief er wie ein Hund dahin auf der Straße und sah vor sich, wie die Reichen, die Vornehmen und Beamten, während man schöne Gedichte über den Winter vorliest, sich schläfrig um den Ofen drängen und heißen Reiswein trinken, dicht in warme Pelze gehüllt und bis an Lebens Ende nicht ahnend, wie weh Kälte tut. Erst jetzt beneidete er sie aus ganzem Herzen, da er grundlos Hunger und Kälte ausstehen mußte und nicht einmal einige Tropfen warmer Suppe oder gewärmten Wassers hatte, seinem verfrorenen Körper aufzuhelfen. Dann dachte er sich wieder, daß er diese Beschwerden gern ertrüge, wenn er nur von dem Verwandten seiner Frau etwas erhalten könnte. Falls der seiner Frau und dem Kind ein wenig hülfe – könnten sie ihr Leben immerhin noch weiterfristen.
Unter solchen Gedanken hatte er den Weg in einem halben Tag zurückgelegt; wundfüßig, frostbeulig kam er vor das Haus seines Schwagers und stieß auf einen brummigen Torhüter. Der Magister nannte nun 12 seinen Namen, forschte, ob sein Schwager zu Haus und zu sprechen sei.
»Jawohl! Der Herr ist in seiner Schreibstube, wo er die Rechnungen abschließt.«
Magister Jao: »Ich ersuche dich, Türhüter, deinem Herrn zu sagen, daß ich hier bin, ihn zu sehen und in wichtigen Angelegenheiten zu sprechen wünsche.« Der Türhüter: »Sehr wohl!« Und meldete seinem Herrn, daß Herr Magister Jao vor der Tür des Hauses warte, den Herrn zu sehen und zu sprechen wünsche und dringlichst bitte, ihn zu empfangen. Der Beamte Wang Kai Wei ahnte als reicher Verwandter, daß er am letzten Tag des Jahres keine Zeit haben würde. Doch fragte er immerhin zur Vorsicht den Diener, weshalb Jao gekommen? Übrigens dachte er sich schon, was der Magister wollte.
»Herr, das kann ich Euch nicht sagen, denn er hat sich darüber nicht ausgesprochen. Ich kann mir jedoch recht gut denken, was der Magister wünscht. Er sieht arm und bemitleidenswert aus, trägt ein abgetragenes blaues Fetzenwams, auf dem Kopf eine schlechte alte Mütze. Seine Schuhe sind altersschwach und zerrissen. Überall stehen ihm die Knochen so weit hervor, daß er wie ein Geripp ausschaut; man hat Erbarmen, wenn man ihn sieht.«
Der Beamte befahl hartherzig: »Da die Sachen so stehen, schick ihn nur fort. Was soll ich ihn hereinkommen und mir durch langes Geschwätz die Zeit stehlen lassen? Sag ihm nur«, fuhr er zornig den Diener an, »daß ich in meinem Büro bin und noch mit dem Abschluß meiner Rechnungen zu tun hab; ich 13 hätte keine Zeit, mich mit ihm zu unterhalten; ich sei gar nicht zu Haus. Was kann mir denn der Gutes zu sagen haben anläßlich des neuen Jahrs?«
Der Türsteher sah den Grimm seines Herrn, stotterte: »Sehr wohl«, lief hastig aus dem Zimmer. Heimlich murrte er, betrübt über den Geiz seines Herrn: »Das ist sein eigener Verwandter, dem man die Armut am Gesicht ansieht. Weil er aber kam, ihn um Hilfe anzuflehen, will er ihn nicht einmal sprechen und ihm keinen Käsch geben. Wer weiß, wie es in einigen Jahren mit beiden steht! Mein Herr hat vielleicht in zehn Jahren gar nichts mehr, und der Magister wird wohl nicht sein ganzes Leben lang arm bleiben.«
Aber sagen mußte er dem armen Jao: »Herr Magister, ich ersuch Euch, später wieder zu erscheinen, mein Herr ist vom Amt noch nicht zurück. Ihr dürft, Herr, im neuen Jahr wiederkommen; da könnt Ihr meinen Herrn wohl eher sprechen!«
Der Magister merkte wohl, wie die Sachen standen, und wurde ärgerlich, weil man ihn belog. »Du hast ja eben noch gesagt, er sei zu Haus und brüte über Rechnungen? Wie kannst du dann jetzt sagen, er sei noch nicht aus dem Amt zurück?!«
Der Diener blieb dabei: »Mein Herr ist wirklich nicht zu Haus; was ich Euch zuerst sagte, war falsch.«
»Ach ja!« seufzte der Magister. »Er ist freilich für mich nicht zu Haus; ich versteh dich wohl. Er denkt sich, daß ich heute nur gekommen bin, ihn um Geld zu bitten; deshalb läßt er mich nicht vor. Aber, da ich nun einmal da bin, denk ich nicht daran, unverrichteterdinge abzuziehen! Ich muß ihn sehen, 14 koste es, was es wolle. Er ist mein nächster Verwandter und schuldig, mir die Güte zu erweisen, die Verwandten gebührt. Ist er auch nicht zu Haus, wie er dich sagen ließ, so kann er mir doch nicht verwehren, sein Haus zu betreten!«
Damit rannte er keuchend durch die Tür ins Haus, ohne daß sich der Diener große Mühe gegeben hätte, ihn zurückzuhalten. Jao lief geradeswegs in die Studierstube seines Verwandten, so daß der sich nicht mehr verbergen konnte. Nach kurzem Gruß und einer angedeuteten Verbeugung hielt er den Beamten, der entwischen wollte, beim Kleid fest:
»Lieber Wang Kai Wei, bleib doch hier und hör mich an! Jao hat eine Bitte an dich!«
Den Beamten übermannte die Wut: »Pack dich, Jao, du bist ein Kerl, der nur überall in der Welt Streit anfangen will. Warum bringst du mich in solche Verlegenheit! Du bist doch ein Magister, hast die Bücher der Weisen gelesen, kennst Literatur und Sitte und dürftest daher ahnen, was für einen Tag wir heute haben. Ein Amtsgeschäft hast du auf keinen Fall mit mir abzumachen. Die Gelehrten haben heute weder eine Versammlung, noch finden Prüfungen statt. Was willst du also mit deinem rohen Betragen sagen?«
Jao, heiser vor Ärger: »Schickst du mich so fort, wo ich verhungere, so hilflos und verlassen bin, daß ich ein Verbrechen begehen könnte?! Übrigens bin ich heute nicht allein zu dem Zweck hergekommen, bei dir eine Anleihe auf zunehmen – sondern ich will mich ja auch mit dir in einer gerichtlichen Sache 15 beraten, in einer Sache der Gerechtigkeit, Wahrheit: sieh, obgleich du dich hier in deiner Studierstube befindest, gabst du doch vor, im Amt zu sein!«
Wang Kai Wei: »Bestie, laß dir nichts träumen! Es gibt sehr viel Arme in dieser Welt; aber wenn schamlose Bettler Hilfe suchen, bleibt ihr Gequak eitles Windblasen.«
Magister: »Du bist sehr hartherzig, Vetter! Doch du kannst nicht wissen, ob nicht auch ein Tag aufgehen könnte, wo ich zu dir in der gelben Jacke, mit dem goldgestickten Gürtel des Hofes kommen werde. Da wollen wir dann sehen, ob du dich nicht beeilen wirst, die Verwandtschaft anzuerkennen. Wie wirst du es dann wagen können, mir vors Gesicht zu treten?«
Wang Kai Wei: »Ich trete dir schon jetzt vors Gesicht! Du willst Mandarin werden? Wirst im Jenseits Mandarin! Allein in diesem Leben sei dem Wasser des gelben Totenflusses gleich, das still steht.«
Jao: »Wang Kai Wei! Wang Kai Wei! Sieh dich vor und erhebe dich nicht zu sehr. Du mußt nicht glauben, daß du ein gar so gewaltiger Mensch bist; du könntest es einmal bereuen müssen. Des Himmels offene Augen werden sehen, ob du immer so reich, üppig und grausam bleiben wirst und ich das ganze Leben hindurch so jammervoll arm wie jetzt.«
Jao stampfte vor Zorn mit den Füßen auf, stürzte weg, ohne dem Beamten einen Abschiedsgruß hinzuwerfen. Der Mandarin war froh, daß der lästige Bettler fort war, ließ in aller Ruhe der fetten Freuden Mahl zurichten und feierte in Lust und Rausch das neue Jahr froh auf dem Familienthron. 16
Mittlerweile ängstigten sich Frau und Tochter Jaos. »Mutter!« schrie Munglan, »warum fliegen die Krähen in solchen Haufen auf die Bäume und krächzen so laut?«
Die Mutter unruhig: »Liebes Kind, sie schreien wirklich recht auffallend! Was wird mit deinem Vater geschehen? Ich wünschte, daß Jao diesen Gang unternehme; wir hatten keinen Ausweg mehr. Wo er nur so lange bleiben mag? Zankt sich etwa Wang Kai Wei mit ihm? Ist er vielleicht in den Schnee gefallen? Oder hat er gar das Geld verloren? Ich will doch hinaussehen!«
Sie öffnete schaudernd die Tür und blickte umher – nichts als weiße blendende Schneefläche, die rings alle Straßen bedeckte. Vergebens strengte sie ihre Augen an, sie konnte niemand erspähen, Angst fiel auf sie.
Magister Jao lief inzwischen voll Erbitterung im Schnee umher. »Wie ärgerlich! Wie hat mich dieser Wang erzürnt! Er will mir nicht nur kein Geld leihen, sondern behandelt mich obendrein mit solcher Verachtung! Das ist unerträglich. Doch jetzt ist es geschehn und läßt sich nicht ändern. Das ist vorbei. Am meisten schmerzt mich, daß er so die Verwandtschaft mit meiner Frau verleugnet und mich schmählich beleidigte. O Wang, Wang! Wie schnell wirst du mich als deinen liebsten Verwandten anerkennen, wenn sich Magister Jao Namen und Verdienste erworben hat! Ja, dann wirst du den armen Gelehrten untertänigst als Herrn Jao begrüßen! O Himmel! 17 Jetzt ist es Abend geworden! O Wind und Schnee! Wie kann ich mit leeren Händen heimkehren? Frau und Kind erwarten mich, ihre Sehnsucht ahnt nicht, daß ich noch ärmer nach Haus komm. Es ist zu Ende. Ich kann ihnen und mir nicht mehr helfen. Ich will mir nur noch einen guten Ort suchen, wo ich schnell sterben kann!«
Er lief in den nahen Wald. Dann schlich er wieder zurück in den Garten des Wang Kai Wei – dort wollte er sterben, den hartherzigen Schwager noch im Tode beschämen und schädigen: ihn durch den Selbstmord vor der Tür um Amt und Würden bringen. Laut schluchzend löste er das Tuch von seinen Lenden, sich aufzuhängen. Allein er hatte den Baum nicht genau betrachtet und sah nun, daß er unter einer Tanne stand, so umfangreich, daß er ihren Stamm mit beiden Armen nicht umfassen konnte. Der turmhohe Baum hatte keine niederen Äste, die er hätte ergreifen können. Wie sollte ein Magister einen Baum erklettern? Er konnte sich nicht einmal aufhängen, nicht einmal das hatte er gelernt. Er suchte umher, fand aber keinen Baum, der niedrig genug gewesen wäre. Schließlich kam er doch umher irrend vor eine kleine Wintertanne, die einsam an einem Kreuzweg stand. Weinend, schluchzend blieb er stehen.
»Hier werd ich wenigstens mein Lebensende finden, hier auf diesem Tannenbaum werd ich endlich auf einen grünen Zweig kommen, Wang Kai Wei. Und du ins Elend!« schrie er, das Tuch drehend und hinaufkletternd, die Schlinge zu befestigen. Dann warf 18 er sich die Schlinge um den Hals und zog fest den Knoten zu.
Sein Ort war sonst belebt; doch diese Nacht war niemand mehr auf dem Weg: alles trank und fraß und feierte. War es doch die letzte Nacht im Jahr – da flogen nur Geister vorbei. Die nächsten Häuser waren fern. Niemand hörte was, niemand wußte, wo er war. Neujahr.
Es war noch ziemlich weit zur Stadt; vom vielen Laufen im Sonnenbrand fühlte Wu Sung Durst und Hunger. Gegen Mittag erspähte er von fern ein Wirtshaus, als Kennzeichen hing eine Fahne draußen. Auf der Fahne stand triumphierend der Vers: »Nach drei Bechern kann niemand über den Berg.« Er ging hinein, setzte sich, legte seinen Stock hin: »Wirt! Bringen Sie schnell Wein zum Trinken.«
Der Wirt brachte drei Becher, Eßstäbchen, einen Teller mit Gemüse, stellte alles vor Wu hin, aus einer Kanne goß er den ersten Becher voll. Wu Sung trank den Wein auf einen Zug aus, lobte: »Der Wein hat richtige Kraft! Wirt, haben Sie auch was Gutes zum Essen?«
Der dienerte: »Ich hab Ochsenfleisch gekocht!«
Wu: »Ausgezeichnet! Bringen Sie ein wenig, zwei oder drei Pfund her.«
Der Wirt ging in die Küche, brachte zwei Pfund gut gekochtes Ochsenfleisch auf einem großen Teller und goß aus der Kanne den zweiten Becher voll. Wu Sung 19 trank ihn wieder in gierigen Zügen auf einmal leer, schmunzelte: »Guter Wein! Guter Wein!«
Der Wirt goß den dritten Becher voll – Wu Sung aß das Fleisch und trank den Wein dazu. Der Wirt kam nicht wieder zum Vorschein. Wu klopfte auf den Tisch: »Wirt! Warum kommen Sie nicht, mir noch Wein geben?«
Wirt: »Wenn der Herr noch mehr Fleisch möchte, können wir ihm mehr bringen.«
Wu Sung: »Ich verlange mehr Wein; aber Sie, Sie können mir auch noch Fleisch geben.«
Der Wirt: »Fleisch können wir Ihnen noch geben, aber keinen Wein mehr.«
Wu Sung: »Das ist doch komisch! Warum?«
Der Wirt: »Haben Sie nicht die Fahne vor meiner Tür gesehen? Darauf steht doch groß und deutlich geschrieben: Nach drei Bechern kann niemand über den Berg.«
Wu: »Was soll das heißen?«
Der Wirt: »Unser Wein ist nur Landwein; aber besser als berühmter alter Wein. Wenn die Gäste zu mir kommen und ihre drei Becher Wein trinken, werden sie gleich betrunken und können nicht mehr über den Berg kriechen, deswegen heißt es: Nach drei Bechern kann niemand über den Berg! Wenn die Wanderer drei Becher getrunken haben, fragen sie nicht nach mehr.«
Wu Sung lachte: »Wieso? Ich habe doch drei Becher getrunken, warum bin ich immer noch klar und nüchtern?« 20
Der Wirt: »Zuerst geht der Wein in den Mund und ist rein und angenehm; aber später müssen Sie vor Trunkenheit hinfallen. Unser Wein heißt ›Guter Geruch durch die Flasche‹; außerdem heißt er ›Vor der Tür niederfallen‹!«
Wu: »Ich aber heiße: Mehr Wein! Sie brauchen nicht so viel zu erzählen! Ich zahle, was ich trinke; gießen Sie mir noch drei Becher ein!«
Der Wirt sah: der Gast hatte drei Becher getrunken, und man merkte ihm nichts an; so goß er ihm wieder drei Becher ein. Wu trank und sagte: »Das ist sehr guter Wein! Wirt, ich trink viele Becher und geb Ihnen das Geld, gießen Sie mehr ein.«
»Mein Herr, Sie dürfen nicht zu viel trinken, der Wein kann die Leute wirklich betrunken machen. Es gibt kein Mittel, Sie dann aus der Trunkenheit zu befreien!«
Wu Sung: »Erzählen Sie keine Märchen! Wenn Sie in den Wein ein Schlafmittel getan haben, hab ich noch meine Nase, es zu riechen.«
Der Wirt gab nach und schenkte Wu noch drei Becher Wein ein, und Wu Sung bestellte noch drei Pfund Fleisch. Als der Wirt das Ochsenfleisch brachte, hatte Wu den Wein schon ausgetrunken und verlangte noch drei Becher. Wu schmeckte es gut, und er wollte immer mehr essen und trinken. Er nahm Silber aus der Tasche, legte es auf den Tisch und rief dem Wirt zu: »Wirt, kommen Sie, gucken Sie mein Geld an, reicht es für meine Rechnung?«
Der antwortete: »Wohl, es genügt, ich muß Ihnen ja sogar noch einige Münzen zurückgeben.« 21
Wu Sung: »Sie brauchen mir nichts zurückgeben, gießen Sie mir mehr Wein ein.«
»Mein Herr, wenn Sie noch Wein trinken möchten, hab ich noch fünf oder sechs Becher da! Aber ich fürchte, Sie können nicht mehr vertragen.«
Wu ließ ihn den Wein bringen. Der Wirt mahnte: »Sie sind ein schwerer Mann; wenn Sie auf die Erde fallen, wer kann Sie hochheben?«
Wu: »Wenn ich Ihre Hilfe brauchte, wär ich nicht gerad ein Held.«
Der Wirt plauderte viel mit ihm, gab ihm aber keinen Wein mehr. Wu Sung wurde ungeduldig und schrie: »Ich trinke doch nicht umsonst! Sie brauchen mich nicht böse zu machen, sonst werf ich Ihr ganzes Weinhaus entzwei. Sie werden sich bald im Weinfaß wiederfinden!«
Der Wirt sprach zu sich: Der Kerl ist betrunken, ich werd ihn lieber nicht ärgern. Er goß ihm wieder sechs Becher ein, und bald hatte Wu Sung alles in allem achtzehn Becher getrunken. Wu nahm seinen Stock zur Hand, stand auf und sagte: »Ich bin doch nicht betrunken.«
Er lief vor die Tür und lachte: »Verlogene Fahne! Nach drei Bechern kann niemand über den Berg gehen? Gar nicht wahr!«
Als er ging, eilte der Wirt ihm nach und rief: »Mein Herr, wohin wollen Sie?«
Wu drehte sich um, schaute ihn groß an: »Warum rufen Sie mich! Hab ich vielleicht meine Rechnung nicht bezahlt?«
Der Wirt: »Das schon! Aber was ich jetzt sage, 22 kommt aus gutem Herzen. Kehren Sie um und lesen Sie bei mir die Abschrift der amtlichen Warnung.«
Wu: »Was steht denn drin?«
Der Wirt: »Jetzt gibt es im Tsching Yang-Gebirg ein großes Tier mit weißer Stirn und wild hervorstechenden Augen. Jeden Abend kommt das Tier aus dem Wald, Menschen fressen! Zwanzig oder mehr Erwachsene hat es schon verschlungen. Viele Jäger haben vergebens versucht, das Tier zu fangen, haben von den Beamten gewaltige Schläge bekommen, weil es ihnen nicht gelang. An jedem Bergweg klebt die amtliche Warnung. Es dürfen die Leute nur während der drei Mittagsstunden über den Berg gehen, zu keiner anderen Zeit. Keiner darf allein gehn, immer nur eine größere Gesellschaft. Jetzt ist gerade die schlechteste Zeit. Ich sah, daß Sie allein hinüber wollen und niemand fragen. Sie werden Ihr Leben verlieren! Am besten, Sie übernachten bei mir, und morgen mittag, wenn sich mehr Leute gesammelt haben, gehen Sie.«
Wu Sung lachte: »Ich bin aus der Stadt Tsching Hê, an diesem Berg ging ich über zwanzigmal vorbei und habe nie gehört, daß es hier einen Tiger gibt. Mit Ihrer Feiglingssprache werden Sie mir keinen Schreck einjagen – wenn es irgendwo so ein Tier gibt, ich habe keine Furcht!«
»Ich habe nur die gute Absicht, Sie zu warnen, wenn Sie es nicht glauben, kommen Sie und lesen Sie selber die Warnung.«
»Reden Sie nicht so viel Unsinn! Wenn es überhaupt einen Tiger gibt – Ihr Großvater hat keine Angst! 23 Sie möchten, daß ich bei Ihnen übernachte, damit Sie mir im Schlaf Geld und Leben rauben können. Ihre Absicht ist, mich mit dem nicht vorhandenen Vogeltier zu erschrecken, damit ich bei Ihnen bleibe.«
Der Wirt stöhnte: »Ich meint es gut, Sie haben das mißverstanden! Wenn Sie mir nicht glauben wollen – bitte, gehen Sie weiter!«
Wu Sung hielt seinen Stock fest in der Hand und ging mit großen Schritten durch dick und dünn. Als er am Fuß des Berges ankam, sah er einen Baum, dem die Rinde abgezogen war: auf dem weißen Holz stand etwas geschrieben. Wu konnte einige Worte lesen, hob seinen Kopf und entzifferte langsam die Zeichen: »Jetzt gibt es auf dem Berg einen großen, menschenfressenden Tiger. Wanderer dürfen bei Lebensgefahr nur während der drei Stunden der Mittagszeit truppweise hinübergehen.« Wu Sung las das und lachte: »Das ist so ein Wirtshausschwindel. Der Wirt will nur den Leuten einen Schreck einjagen, damit sie bei ihm übernachten. Ich hab keine Angst!«
Er stieg aufwärts. Der Abendwind kam, die rote Sonne versank im Berg. Wu hatte viel getrunken, weinfroh schritt er den steilen Pfad hinan. Als er einen Li weiter war, sah er einen alten Tempel; an der Mauer klebte ein Schreiben mit amtlichen Siegeln. Wu las:
»Schreiben des Staates Yang Gu. Es gibt hier auf dem Tsching Yang-Berg ein großes Tier, es hat mehreren Leuten das Leben genommen. Die Vorsteher und Jäger der umliegenden Dörfer sind vom 24 Staat bei Strafe beauftragt worden, den Tiger zu fangen; haben ihn aber nicht gefunden. Wanderer und Kaufleute dürfen nur während der drei Mittagsstunden in Scharen über den Berg, zu anderer Zeit dürfen sie es nicht wagen, bei Lebensgefahr! Hiermit sollen alle Bürger und Vorübergehenden aufmerksam gemacht werden.«
Wu Sung hatte das Schreiben gelesen und wußte nun, daß es hier in Wahrheit einen menschenfressenden Tiger gab. Schon wollte er sich umdrehen und wieder zum Weinhaus zurückgehen, weitere drei Becher zu trinken, als ihm einfiel: Wenn ich zurückgehe, wird er mich auslachen, und ich kann mich, wenn ich umkehre, nie wieder einen Helden nennen. Er überlegte ein Weilchen: Keine Angst! Ich werde weitersteigen und mal sehen. Den Filzhut hängte er in den Nacken, den Stock klemmte er unter den Arm. Langsam, einen Schritt nach dem anderen setzend, klomm er aufwärts. Die Sonne war verschwunden. Es war im zehnten Monat, der Tag kurz, die Nacht lang; es wurde früh dunkel. Er sprach zu sich: Was? Ein großer Tiger? Man hat nur einander Angst eingejagt und fürchtet sich nun, über einen harmlosen Hügel zu gehen.
Beim Laufen stieg ihm der starke Wein zu Kopf, er öffnete seinen Mantel, sich abzukühlen. In seiner Trunkenheit wankte er hin und her, an einem Wald vorbei. Er sah einen großen, schwarzen Felsblock, lehnte seinen Stock hin, wollte auf dem runden Stein schlafen. Plötzlich kam von weither ein starker Windstoß – als der sich gelegt hatte, hörte er irgendwo im 25 Wald Zweige knacken, wie unter einem dahineilenden Untier.
Auf einmal sprang ein Tiger mit weißer Stirn und groß hervorstehenden Augen aus dem Wald. Wu schrie: »Hu!« und rutschte den schwarzen Felsblock hinunter. Er stellte sich nebenhin und packte den Stock fester. Der Tiger hatte Hunger und Durst; mit seinen Vorderpfoten schlug er einige Male auf die Erde und sprang mit dem ganzen Körper hoch. Wu Sung schien es, als ob der Tiger vom Himmel herab spränge. Ihn befiel ein jäher Schreck – der Wein lief ihm als kalter Schweiß über die Stirn. Doch blieb er gelenkig, drehte sich schnell, so daß er hinter den Tiger zu stehen kam. Der Tiger konnte bei seinem kurzen, dicken Hals nicht gut hinter sich sehen, sprang mit dem Hinterleib hoch und wollte Wu so niederschlagen. Wu wich schnell zur Seite, und der Tiger traf ihn nicht. Als der Tiger merkte, daß er nichts erreicht hatte, knurrte er vor Wut so laut, daß der Berg ein wildes Echo donnerte. Sein Schwanz war stark wie ein Eisenstock, er schlug damit um sich; aber er traf Wu Sung nicht. Des Tigers Wut ward kälter, ruhiger, er schnaubte und drehte sich wieder um. Wu Sung nahm die Gelegenheit wahr, packte den Stock fest und hieb mit ganzer Kraft von oben nach unten, um das Tier zu erschlagen. Er hörte das Rauschen der Blätter eines Baumes – Zweige fielen zu ihm nieder. Er guckte und sah, daß er nicht den Tiger getroffen, sondern einen Baum mit seinem Prügel so zerschlagen hatte, daß sein Stock in der Mitte entzweibrach. 26
Der Tiger sprang wieder auf ihn zu – Wu mußte schnell zurückweichen. Die Vordertatzen waren schon vor seinem Gesicht. Er warf den halben Stock fort, mit den zwei Händen packte er schnell den Tiger im Genickfell und drückte ihn nieder. Der wollte sich befreien; aber Wu Sung hielt ihn mit eherner Kraft umspannt, daß sich das Tier nicht rühren konnte. Mit dem Fuß stieß er dem Tiger ins Maul. Der Tiger kratzte vor Schmerz mit seinen Hinterpranken die Erde hoch, daß ein Loch entstand. Wu drückte des Tigers Schnauze ins Loch, nach einigen Minuten konnte das Tier sich nicht mehr bewegen. Mit der rechten Hand ließ Wu den Tiger los und hielt ihn nur mit der linken. Dann schlug er mit der rechten Faust, hart wie mit einem Eisenhammer, auf den Schädel des Tigers. Dem Tiger lief Blut aus Nase, Mund und Ohr; betäubt konnte er keine Bewegung mehr machen, nur noch schwach atmen.
Wu Sung ließ ihn los, suchte seinen halben Stock und schlug, da er annahm, der Tiger sei noch nicht ganz tot, mit dem Knüppel so lang auf das Tier los, bis kein Atem mehr aus der Schnauze kam. Ich werde den toten Tiger von hier ins Tal tragen, dachte er, versuchte den Tiger aus dem Blut zu heben; aber er konnte nicht mehr, seine Kraft war schon verbraucht, Hände und Füße matt. Er setzte sich auf den schwarzen Stein, ein bißchen auszuruhen, dachte: Es ist zu dunkel, wenn noch ein großer Tiger hervorspringt, wie kann ich mit ihm kämpfen? Am besten, ich geh jetzt ins Tal und hol morgen den toten Tiger.
Er suchte seinen Hut und seine Sachen zusammen – 27 lief langsam bergab. Halben Weges sah er aus dem Gras zwei Tiger hervorkommen, bekam einen Schreck, stöhnte: Das ist zu viel! Diesmal bin ich erledigt! Aber die zwei Tiger sprangen nicht auf, sondern richteten sich nur hoch. Als Wu genauer hinsah, merkte er, daß es zwei Menschen waren, die hatten ein Tigerfell zusammengenäht und so fest auf den Körper getan, daß sie von fern wie Tiger aussahen. In der Hand hielt jeder eine eiserne Waffe, ähnlich einer Gabel. Als die zwei Wu Sung sahen, erschraken sie und riefen: »Sie – Sie haben das Herz des Panthers und die Beine des Löwen gegessen, und Ihre Galle ist größer als Ihr Körper. Wie können Sie allein in der Nacht ohne Waffen über den Berg gehen? Sie – Sie – Sie – sind Sie ein Mensch? Oder ein Teufel?«
Wu: »Wer sind Sie beide?«
Sie stotterten: »Wir sind hier die Jäger.«
Wu: »Was wollt ihr Jägerchen hier auf dem Berg tun?«
Die beiden erzählten ihm, hier auf dem Berg lebe ein Tiger, der jede Nacht herkomme, Menschen zu fressen. »Der höchste Beamte hat uns den Auftrag gegeben, das Tier zu töten; aber der Tiger ist zu groß, wir möchten ihm nicht zu nahe kommen. Seinetwegen haben wir oft Hiebe erhalten; aber wir konnten ihn nie fangen. Heute nacht haben wir Dienst, wir haben uns mit noch ein paar Leuten versteckt, Selbstschüsse gelegt und warten hier auf den großen Tiger. Eben sahen wir, daß Sie mit großer Ruhe vom Berg herabkamen, deswegen staunen wir. 28 Wer sind Sie, haben Sie etwa den großen Tiger gesehen?«
Wu Sung: »Ich bin aus der Stadt Tsching Hê. Mein Familienname ist Wu. Eben spazierte ich auf dem Berg in der Nähe des Waldes und habe den unglücklichen Tiger getroffen. Ich hab ihn einfach totgeschlagen!«
Die beiden Jägerchen schnappten Luft: öffneten ihren Mund so weit, ihre Augen wurden so groß, als wären sie plötzlich dumm geworden. Sie blökten: »Das ist nicht wahr!«
Wu: »Wenn Sie mir nicht glauben wollen, blicken Sie auf meine Hände und Kleider, alles ist voll Tigerblut.«
Er erzählte den beiden sein Abenteuer. Die staunten und freuten sich zugleich. Sie pfiffen: über zehn Bauern, eiserne Waffen in den Händen, sprangen herbei.
Wu Sung: »Sie haben so viel Leute! Warum wachen die nicht auf dem Berg?«
Die Jäger stutzten: »Der Sterntiger ist zu groß, wie können wir uns auf den Berg wagen?«
Wu: »Wenn ihr zu feig seid, zu glauben, daß man einen lebenden Tiger töten kann, kommt mit mir, das tote Vieh ansehn.«
Ein paar Bauern rieben Feuersteine, wickelten Stroh zu Fackeln zusammen und stiegen mit Wu Sung bergan, sahen den Tiger tot daliegen. Alle freuten sich; einer mußte zum Vorsteher des Dorfes gehen und es melden. Die anderen packten den toten Tiger, trugen ihn abwärts. Am Fuß des Berges warteten 29 schon viele Leute, es sah aus wie ein Festzug. Voran ward der tote Tiger auf einem Brett, hinterher Wu Sung in einer Sänfte getragen; sie brachten ihn zu einem Reichen. Der Vorsteher und die Ältesten empfingen ihn vor dem Dorf; man schleppte den toten Tiger in eine Strohhütte. Edelleute, Reiche und Jäger kamen, besuchten Wu Sung und fragten ihn aus. Wu Sung erzählte alles, und alle sagten im Chor: »Sie sind wirklich ein Held!« Jedermann wollte ihn bewirten, aber Wu war todmüd und wollte nur schlafen. Die Reichen brachten ihn ins Gastzimmer, ließen ihn dort übernachten.
Aber Wu konnte lange nicht einschlafen – noch war sein überreizter Sinn erfüllt von Tigern: von dem Tiger, den er getötet, von dem Wein, den er getrunken, von dem Schreck, dem er erlegen. Und der Tiger dieser Nacht war noch über ihm – er träumte unruhigen Herzens von einem alten, strengen Amtsvorsteher, der ihm befahl, den Tiger des Gebirges zu töten. Sofort legte er Pfeile und Armbrust zurecht und nahm alle brauchbaren Waffen mit. Er hüllte sich in ein Leopardenfell, packte eine eiserne, gabelartige Waffe und stieg ins Gebirg. Überall versteckte er Fallen, den Tiger zu fangen, dann kletterte er auf einen großen Baum, wartete den ganzen Tag – aber es fing sich nichts. Voll Ungeduld sprach er zu sich: Ich habe den Auftrag, innerhalb eines Tages drei Tiger zu fangen, wenn es später wird, gibt es Stunk, was soll Wu Sung beginnen?
Es fiel über ihn die Nacht, machte ihn müd und betrübt, und er schlief ein unter den großen, schweren 30 Wolken. Plötzlich hörte er Zähne knirschen: eine Fangmaschine schnappte zu; er sprang sofort auf, um nachzuschauen. Und sah, daß ein Tiger, von dem giftgetränkten Speer durchbohrt, auf dem Gras umherkollerte. Als der große Tiger merkte, daß jemand ihm nahe kam, sprang er hoch in den Himmel und rannte mit dem Speer weiter.
Wu lief ihm nach. Mit dem Steilerwerden des Berges begann die Kraft des Giftes zu wirken, der Tiger konnte es nicht mehr ertragen, knurrte wild und rollte bergab. Wu Sung sprach zu sich: Ich kenne hier das Gebirge, dort ist der Garten des alten Herrn Mao. Er klopfte an das Tor. Vor Tagesgrauen ward es geöffnet und er dem alten Herrn gemeldet. Er legte die Waffen nieder, grüßte: »Alter Onkel, wir haben uns schon lange nicht gesehen, heute komm ich her, Sie zu begrüßen und mit einem toten Tiger zu stören.«
Mao entgegnete in höflichem, aber entschiedenem Ton: »Guter Neffe, ehe wir in aller Frühe weiter über Ihre Tat reden, müssen Sie doch Ihrer Mutter melden, daß Sie endlich einen Tiger getötet haben.« Da erst fiel es ihm aufs Herz, daß er seine Mutter schon lange nicht besucht hatte. Sein Schwert packend, eilte er stumm seines Weges. Gegen Nachmittag war er zu Haus. Er ging sofort ins Zimmer und hörte seine Mutter, die arme, alte Frau Fang, die auf dem Bett saß, fragen:
»Wer ist hereingekommen?«
Wu Sung sah, daß seine Mutter auf beiden Augen blind war. Sie saß auf dem Bett und betete. 31
Wu: »Mutter! Wu Sung ist nach Hause gekommen!«
Da antwortete die Mutter: »Mein Kind! Wo warst du so lange? Dein schwacher Bruder Wu Ta arbeitet bei einem armen Bauern als Knecht. Was er verdient, ist nicht für ihn genug, er kann die alte Mutter nicht ernähren. Ich denke sehr oft an dich, hab so viel geweint, bis aus meinen Augen keine Tränen mehr kamen und ich blind ward. Wie ist es dir in diesen Jahren gegangen?«
Er: »Wu Sung hat einen Tiger getötet und ist jetzt reich geworden. Ich komme nach Haus, Mutter in ein besseres Land zu holen!«
Sie: »Das wäre sehr gut, aber wie können wir denn fortgehn?«
Wu: »Ich werde dich auf dem Rücken tragen, bis ich einen Wagen finde.«
Die Mutter: »Wart, bis dein Bruder nach Haus kommt, dann können wir weitersprechen.«
Wu: »Wir brauchen nicht warten, ich kann sofort mit Mutter weggehen! Mutter komm schon! Ich werde dich forttragen!«
Die Mutter fragte: »Wohin willst du mich tragen?«
Wu: »Du brauchst nicht lange fragen, ich werde dich an einen Ort bringen, wo ich dich besser pflegen kann.«
Er nahm sie auf den Rücken, das Schwert zur Hand, und ging von Hause fort, auf kleinen, struppigen Tigerwegen. Er sah, daß es bald dunkel wurde, und trug seine Mutter bis unter ein Berghaupt. Die Mutter war auf beiden Augen blind und wußte nicht, ob es früh oder spät war. Er aber erkannte den Ort als 32 den Gipfel; unter dem Sternenlicht, im Mondlicht fand er mit seiner Mutter den Weg. Sie lag schwer auf seinem Rücken und ächzte:
»Mein Kind! Bring mir was zum Trinken!«
Wu: »Liebe alte Mutter, warte bis wir auf der anderen Seite des Gipfels sind, dann können wir von einem aus den Häusern etwas bekommen und ruhen.«
Die Mutter: »Ich habe zu Mittag viel Trockenes gegessen und fühle solchen Durst, daß ich es nicht mehr ertragen kann!«
Wu: »Auch ich habe so lange Zeit nichts getrunken, es kommt aus meinem Hals Geruch und Hitze. Ich werde dich auf den Gipfel tragen, dann bring ich dir etwas zum Trinken.«
Er trug seine Mutter auf den Gipfel und setzte sie unter einem Tannenbaum auf einen grün bewachsenen Stein. Das Schwert steckte er daneben hin und sagte zu ihr:
»Du mußt Geduld haben und hier warten! Ich werde für dich Wasser holen gehen.«
Vom Gebirg her hörte er Wasser fließen, lief dem Rauschen nach. Es war sehr weit, da fand er einen Fluß. Sofort tauchte er seine Hand ins Wasser und trank, dann dachte er: Wie kann ich Wasser mitnehmen und meiner Mutter bringen? Er stand auf, schaute sich überall um und sah von weitem auf einem Gipfel einen alten Tempel. Er sagte: Das ist sehr gut!
Einen Pfad gab es nicht, er kletterte, sich am Gesträuch festhaltend, hoch; als er im Tempel war, 33 fand er nichts. Aber es war da ein großer Steinbecher zum Verbrennen des Weihrauchs. Er wollte ihn mitnehmen, aber der Becher schien mit dem Steinständer aus einem Stück gehauen und ging nicht ab. In seiner Not schleppte er Becher und Sockel zur steinernen Tempeltreppe und klopfte, bis der Becher wegsprang. Froh nahm er ihn und lief abwärts. Im Becher war Talg von vielen verbrannten Kerzen, er mußte ihn erst im Fluß säubern, holte Heu und Stroh, wusch ihn aus. Er füllte ihn halb mit Wasser und ging den alten Weg wieder zurück. Er kam zum Gipfel unter den Tannenbaum, aber auf dem Stein saß keine Mutter mehr. Das breite helle Schwert stak noch in der Erde.
Er lief überall umher, rief, es kam keine Antwort. Beim Weiterlaufen gewahrte er im Gras Blutspuren; als er das sah, zitterte sein ganzer Körper. Er geriet an eine kleine Höhle und sah davor zwei junge Tiger an einem Menschenbein knabbern. Wu Sung bebte: »Ich komme weit her, endlich meine Schuld abzutragen und meine blinde alte Mutter zu holen! Mit viel Mühe hab ich sie hierher getragen, nicht für euch zum Fressen! Der Vogel-Tiger hat einen Menschen gefressen! Wenn das Bein nicht meiner Mutter gehört, wo mag sie sein?«
Sein Zorn stieg hoch, er zitterte nicht mehr, sein rotgelber Bart starrte vor Entsetzen. Er nahm sein Schwert und ging auf die zwei jungen Tiger los. Der eine erhielt einen Streich, fletschte die Zähne und wollte mit beiden Tatzen auf ihn zustürzen, aber als das Tier näher kam, stach er es in den Hals, daß es 34 tot war. Der andere junge Tiger ging furchtsam sofort ins Loch zurück, Wu lief ihm nach und erschlug ihn drinnen. Kroch heraus und sah nahebei eine größere Höhle, wohl für die alten Tiger. Er ging hinein, versteckte sich an einer Seite und lauerte. Kam eine große Tigerin mit langen Zähnen und Riesenpranken zur Höhle. Wu wußte: Das ist das Biest, von dem meine Mutter gefressen wurde! Sein breites Schwert legte er neben sich, nahm den Dolch zur Hand. Die Tigerin kam zur Höhle, wedelte mit ihrem Schwanz hinein, dann ging sie mit dem halben Hinterleib tiefer. Wu zielte genau: mit seinem scharfen Dolch stieß er zwischen Bauch und Schwanz und traf sie ins Gemächt – Wu stieß mit solcher Kraft zu, daß der Dolch ihr ganz in den Leib drang. Sie brüllte vor Schmerz, mit dem Dolch floh sie talwärts. Er nahm sein breites Schwert, lief nach. Die große Tigerin fiel leblos um. Wu wollte weiter eilen, da kam aus dem Wald ein starker Wind. Die trockenen Blätter wurden aufgewühlt und rauschten ihm wie Regen entgegen. Als der Wind vorbei war, knurrte es unter dem Sternen- und Mondlicht laut und vernehmlich, daß das Echo donnernd zurückhallte. Ein weißer Sterntiger – auf dem Kopf einen weißen Stern – mit großen gelben Augen sprang hinter einem Baum hervor auf ihn. Wu wartete, bis der Tiger ganz nah war, hielt sein Schwert hoch, flink schnitt er ihm den Hals durch. Der Tiger röchelte vor Schmerz, konnte nicht mehr hochspringen, sein Atem war zu Ende. Das Tier taumelte noch einige Schritte, fiel tot ins Gras. Wu nahm sein Schwert und blickte aus 35 nach Tigerspuren, aber er konnte keine mehr finden. Von der Aufregung war er sehr müde geworden, ging wieder in den alten Tempel und legte sich hin, schlafen.
Am anderen Morgen klaubte er Fleisch und Knochen seiner Mutter zusammen, wickelte es in seinen Leinenmantel. Dann grub er ein Loch: beerdigte so seine Mutter. Eine Weile weinte er bitter, dann ging er hungrig und durstig fort.
Unter dem Gipfel traf er zehn Jäger mit Bogen und Pfeilen. Staunend blickten sie auf den Wanderer, des ganzer Körper mit Blut beschmiert war – grüßten ihn wie einen Berggott. Da begann er so tief um seine Mutter zu weinen, daß er erwachte. Der Tag kam und große Ehren. Aber der Tag sagte ihm auch, daß seine arme alte blinde Mutter, weil der geizige Tiger Wang Kai Wei nicht geholfen, lange schon tot war, in Armut verstorben und verscharrt – und er ihr also nie mehr danken konnte für die Jahre der Jugend.
Schon kamen die Leute, ihn zu beschnüffeln. Einer ging in die Stadt zum Amt und meldete dort Wu Sungs Tat. Auf einem Ehrenbrett brachten sie den Tiger vor Wus Schlafquartier. Andere führten an der Hand eine Ziege, auf den Schultern trugen sie Fässer Wein, warteten vor Wu Sungs Zimmer, bis er kam. Und ein Fest begann. Sie sagten:
»Dies Biest hat so manchen unserer Mitbürger das Leben genommen, und unsere Jäger haben seinetwegen umsonst viel Prügel bekommen! Jetzt feiern wir das große Heil, daß Sie hierher kamen und die Gefahr für uns alle beseitigten! Unser Staat, unser 36 Dorf hat Glück, alle Wanderer können nun ruhig über den Berg gehn. Das alles ist Ihr Verdienst!« Wu dankte: »Ich kann nicht viel; aber Sie haben mir zum Glück verholfen.«
In aller Früh wurde Essen und Trinken bereitet. Der Tiger kam auf das Brett, der Vorsteher und die Reichen banden Wu Sung aus roter Seide ein Ehrenkreuz über Brust und Rücken, ihre Dankbarkeit zu zeigen. Seine Sachen blieben beim Vorsteher, alle begleiteten ihn und verließen mit ihm das Dorf. Der oberste Beamte hatte jemanden geschickt, Wu Sung zu begrüßen. Vier Bauern trugen die Sänfte mit Wu Sung, ihr voran wurde der Tiger geschleppt, mit roter Seide umwunden; man brachte beide zur Stadt Yang Gu. Die Einwohner dieses Ortes hatten gehört, ein Held habe einen großen Tiger auf einem großen Berg getötet – alle kamen aus ihren Häusern hervor, begrüßten ihn, wollten an die Sänfte: ihn ganz nah sehen, drängten sich, wer der erste wäre.
Yang Gu wimmelte von Menschen, den Tiger zu sehen, Wu zu grüßen. Als sie vor dem Amtsgebäude ankamen, erwartete der Mandarin Wu Sung bereits in der Halle. Der Tigertöter stieg aus der Sänfte, das Tier ward in die Halle getragen. Der Mandarin, Gouverneur Liang, sah Wu Sungs Gestalt, Gesicht, den großen Tiger, dachte: Wenn es keinen so braven Menschen gäbe, wer sonst könnte den großen Tiger totschlagen!
Er bat Wu, näher zu kommen, fragte ihn nach allem. Und Wu Sung erzählte ihm mit Armbewegungen den Hergang. Die Leute sahen, hörten und staunten. Der 37 Beamte reichte Wu drei Becher Wein zur Begrüßung. Außerdem gab er ihm tausend Geldstücke, von reichen Leuten gesammelt zur Belohnung für den Tigertöter. Wu Sung dankte: »Ich habe mit etwas Glück den großen Tiger zufällig erschlagen, deswegen kann ich doch nicht eine so große Belohnung bekommen. Ich habe gehört, daß viele Jäger dieses Tigers wegen das Leben verloren oder Schläge bekommen haben. Vielleicht können Sie die Belohnung unter die noch lebenden Jäger verteilen lassen.«
Der Beamte sagte: »Wenn Sie so denken – ganz nach Ihrem Wunsch!«
Wu verteilte auf der Stelle das Geld unter die Jäger. Der Mandarin sah, daß Wu ein anständiger Mensch von gutem Charakter war, kraftbegabt, und wollte ihn hochbringen:
»Sie kommen aus der Stadt Tsching Hê, die ist in der Nähe meines Bezirkes. Ich werde Sie heute zum Offizier der Reichsarmee ernennen, was denken Sie darüber?«
Wu Sung verneigte sich: »Wenn der oberste Beamte mich emporheben will, werd ich ihm mein Leben lang danken und dienen.«
Der Mandarin dachte: Ich bin nicht klug genug, zu wissen, ob, was er tat, Wohltat war oder Untat. Er ist ein armes Wesen, glücklich nur insofern, als er ein Mensch geworden ist. Wie erbarmenswürdig und wie reich ist aber diese Tigerin. Sein Leichnam hätte nur hingereicht, sie oder ihre Jungen zu sättigen, eine Nacht lang. Sie aber reicht ihm als Tote Futter ein Leben lang! 38
Der Mandarin unterschrieb ein Dokument, ernannte Wu zum Offizier. Alle Leute beglückwünschten Wu Sung und luden ihn ein. Wu Sung war einen Monat lang täglich woanders zu Gast geladen.