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Eines Tages machte der Kämmerer, Meister Teng Tu, im Palast seine Aufwartung, den König vor Sung Yü zu warnen:
»Yü ist ein Mann von geradezu angenehmen Gesichtszügen und täuschend ruhigem Benehmen, seine Zunge gebraucht er anscheinend nur zu tiefsinnigen Aphorismen. Aber in Wahrheit ist sein Charakter zügellos, ich ahne Ausschweifungen. So möcht ich unterbreiten – es wär einigermaßen unvorsichtig von Eurer Majestät, so einem Mädchenjäger, Weibererleger zu gestatten, Euch in die Geheimgemächer der Königin zu folgen.«
Der König erwähnte vor Sung Yü die Warnung. Yü erwiderte:
»Die Schönheit meines Gesichts und mein stilles Betragen wurden mir vom Himmel geschenkt. Die Kenntnis sprachlicher Feinheiten verdank ich – lernt ich von meinen Lehrern. Was nun meinen Charakter anlangt, bestreit ich, daß er zum Unsittlichen neigt.« Der König: »Könnt Ihr Eure Aussage, daß Ihr nicht unmoralisch seid, beweisen? Wenn nicht – müßt Ihr den Hof verlassen!« 362
Sung Yü: »Von allen Frauen dieser Erde die schönsten leben im Lande Ch'u. Und im ganzen Reiche Ch'u gibt es kein Weib, das an die Frauen meines Dorfes heranreicht. Und in meinem Dorf ist keine, die auch nur verglichen werden könnte mit dem Mädchen von nebenan: mit meines Nachbars Tochter. Das Mädchen von nebenan wäre zu groß, wenn sie auch nur einen Zoll größer wäre, und zu klein, wenn ihr auch nur ein Zoll fehlte. Ein Stäubchen Puder würde sie zu blaß machen, ein Tupfer Rot zu rot. Ihre Augenbrauen sind wie der zarteste Flaum des Eisvogelgefieders, ihre Haut leuchtet wie Schnee. Ihre Taille ist wie eine Rolle neuer Seide, ihre Zähne gleichen winzigen Muschelchen. Ein einziges Lächeln von ihr würde die ganze Stadt Yang verwirren und der Prinzen Lustschlösser in Hsia Ts'ai zerrütten. Drei Jahre lang bemühte sich diese Dame häufig, häufig an die Gartenmauer, nach mir zu gucken; aber ich erlag niemals, nie ihren Blicken.
Ganz anders benimmt sich Meister Teng Tu! Seine Frau verhängt einen wolligen Kopf über die Welt und fabelhaft mißgestaltete Ohren. Ihre Zähne stehen hervor wie Hauer, ihr Rücken ist krumm, sie hinkt. Obendrein verfügt sie vorn und hinten über auserlesen eiternde Geschwüre. Aber Teng Tu gelang es, Liebe zu ihr zu empfinden, und er trägt schuld – wahrlich er ruhte nicht, bis sie fünf Kinder gebar. Wenn jemand auf der Erde um Gnade bitten darf, möcht ich Eurer Majestät nahelegen, vielleicht zu erwägen, wer von uns beiden der Verführer, wer von uns zweien ein Wüstling ist?« 363
Fräulein Li, späterhin als »Frau von Ch'ien Kuo« in den Adelsstand erhoben, gehörte früher zur Halbwelt von Tschang An. Ihr Lebenswandel war so bemerkenswert, daß ich die Zeit nicht für verloren halte, die ich zum Niederschreiben benötigte.
Es war einmal ein Edelmann, dessen Namen und Vornamen ich verschweigen will, Gouverneur von Tschang Tschou und Herr im Land Jung Yang. Er war sehr reich und angesehen, über fünfzig Jahre alt, und hatte einen Sohn nah an zwanzig, dessen literarische Begabung die all seiner Gefährten übertraf. Sein Vater war stolz auf ihn und setzte große Hoffnungen auf seine Zukunft. »Dies«, pflegte er zu strahlen, »ist das Tausendmeilenfüllen unserer Familie.« Als die Zeit für den Jungen kam, sich am Provinzexamen zu beteiligen, gab ihm sein Vater vornehme Kleider, eine schöne Kutsche mit reichgeschmückten Pferden für die Reise und vorsorglich für den Aufwand in der Großstadt eine beträchtliche Summe und sagte: »Ich bin überzeugt, daß dein Talent so groß ist, daß du sofort mit Erfolg die Prüfungen bestehen könntest, dennoch geb ich dir Geld für zwei Jahre, damit du deine Laufbahn ohne Sorgen verfolgen kannst.« Auch der junge Mann war so zuversichtlich, daß er sich schon an erster Stelle sah.
Er nahm Abschied, erreichte in einigen Wochen die Hauptstadt Tschang An und. bezog ein Haus im vornehmen Viertel. Eines Tages, nachdem er den 364 Ostmarkt besichtigt hatte, betrat er die Stadt durchs östliche Tor, um einen Freund zu besuchen, der im südöstlichen Teil der Stadt lebte. Als er unterwegs eine Ecke erreichte, sah er ein Haus, dessen Tor und Hof sehr schmal waren. Das Haus selbst war stattlich und lag ziemlich abseits von der Straße. In einem der offenen Torflügel stand eine Dame mit einer Zofe. Sie war ungewöhnlich schön.
Als der junge Mann sie sah, hielt er befangen das Pferd an, zögerte. Unfähig, sich von der Stelle zu rühren, ließ er absichtlich die Peitsche zu Boden fallen, wartete bis sein Diener sie aufgehoben hatte und starrte die ganze Zeit über auf die Dame im Torweg. Auch sie sah ihn mit einem Blick an, der Antwort seiner Bewunderung zu sein schien. Aber schließlich ritt er weiter, ohne daß er gewagt hätte, sie anzusprechen. Doch sein Denken konnt er von ihr nicht abwenden, und er erkundigte sich unauffällig bei Freunden, die mit den Vergnügungen von Tschang An vertraut waren, nach dem Mädchen. Er erfuhr von ihnen, daß das Haus einem alten und nicht gerad ehrenwerten Weib namens Li gehöre. Als er sich nach den Aussichten, die Tochter für sich zu gewinnen, erkundigte, berichteten sie: Die alte Li ist Besitzerin ansehnlicher Güter, die ihr einst die Liebe reicher Aristokraten eintrug, von denen sie runde Summen erhielt! »Wenn Ihr nicht gesonnen seid, es Euch viele Tausende kosten zu lassen, wird die Tochter nichts von Euch wissen wollen.«
Der junge Mann antwortete: »Ich muß sie gewinnen, mag sie auch eine Million kosten!« Nächsten Tag zog 365 er in seinen schönsten Kleidern mit einem Gefolge berittener Diener aus und klopfte an die Tür von Frau Lis Haus. Sofort schob ein Page den Riegel zurück. Der junge Mann fragte: »Kannst du mir sagen, wem dies Haus gehört?« Der Knabe antwortete nicht, sondern rannte in das Haus zurück und rief mit lauter Stimme: »Der Herr ist hier, der gestern die Peitsche fallen ließ!« Fräulein Li war sichtlich sehr erfreut. Er hörte sie sagen: »Auf keinen Fall laß ihn weggehen. Ich bin gerade dabei, mein Haar zu ordnen und meine Kleider zu wechseln: in einem Augenblick werd ich fertig sein.«
Froh folgte der junge Mann dem Pagen in das Haus. Auf der Treppe begegnete er einer weißhaarigen alten Dame, die er für die Mutter des Mädchens hielt. Sich tief verbeugend, sprach der junge Mann sie an: »Ich hörte, Sie hätten einen leeren Platz, der als Baugrund in Betracht käme. Wären Sie geneigt, ihn mir zu überlassen?«
Die alte Dame erwiderte: »Ich fürchte, der Platz ist zu entlegen, zu schlecht und völlig ungeeignet für das Haus eines Edelmannes. Ich möcht ihn Ihnen lieber nicht anbieten.« Hierauf führte sie ihn in den Empfangsraum, der sehr schön war, forderte ihn auf, sich zu setzen, meinte: »Ich hab eine Tochter, die zwar weder schön, noch gebildet ist, aber Fremde sieht sie gern. Es würde mich freuen, wenn Sie sie kennen lernen wollten.«
Sie rief ihre Tochter, welche augenblicks eintrat. Ihre Augen sprühten solch ein Feuer, ihre Arme waren so blendend weiß und ihre Bewegungen von solcher 366 Anmut, daß der Jüngling nur verwirrt aufspringen konnte, ohne zu wagen, seine Augen zu ihr zu erheben. Nach der Begrüßung machte er einige tiefe Bemerkungen über die Schönheit des Wetters.
Dann setzten sie sich wieder. Tee wurde bereitet, Wein eingeschenkt. Fleckenlos sauber waren die Gefäße. Die Unterhaltung ließ ihn die Zeit vergessen. Vier Gongschläge mahnten, daß der Tag sich neigte. Die alte Dame fragte, ob er weit entfernt wohne. Er log: »Einige Meilen jenseits des Yen Ping-Tores« und hoffte, daß sie ihn auffordern würde, zu bleiben. Die alte Dame entgegnete: »Es ist schon spät. Wenn Sie nicht gegen alles Herkommen verstoßen wollen, müssen Sie sofort aufbrechen.«
Der junge Mann antwortete: »Ich wurde so angenehm unterhalten, daß ich nicht merkte, wie schnell der Tag entfloh. Mein Haus ist weit entfernt, und in der Stadt hab ich weder Freunde noch Verwandte. Was soll ich tun?« Fräulein Li schlug vor: »Wenn Sie die Armseligkeit unseres Hauses vergeben wollten, wäre nichts dabei, die Nacht bei uns zu verbringen.« Fragend sah er auf des Mädchens Mutter, sie schien einverstanden.
Er rief seine Diener, gab ihnen Geld und den Befehl, Vorkehrungen für die Nacht zu treffen. Aber das Mädchen unterbrach ihn lachend: »Das wäre nicht unsere Art, Gäste zu bewirten. Sparen Sie Ihre Freigebigkeit für eine andere Gelegenheit. Wenn Sie geneigt sind, unser einfaches Mahl zu teilen, werden wir heute nacht für Sie sorgen.« Er versuchte abzulehnen; sie ließ es nicht zu, alle begaben sich in den 367 westlichen Saal. Die Vorhänge, Ofenschirme und Matten waren von verwirrender Pracht, die Teppiche und Kissen vornehm. Kerzen wurden angezündet und ein vorzügliches Mahl aufgetragen.
Nach dem Essen zog sich die alte Dame zurück und ließ die Liebenden, in munteres Gespräch verstrickt, lachend, plaudernd, unbefangen zurück.
»Gestern als Sie im Tor standen, ging ich an Ihrem Haus vorbei. Nachher konnt ich an nichts anderes denken, als an Sie! Ob ich mich niederlegte, um auszuruhn, oder ob ich niedersaß, um zu essen, immer mußt ich an Sie denken.«
»Mir ging es ebenso.«
»Mir lag nichts daran, den Bauplatz zu besichtigen. Ich hoffte, Sie anzutreffen, wußte aber nicht, wie Sie mich empfangen würden. Was –«
Mitten im Satz kam die alte Frau zurück und wollte gern wissen, wovon man gesprochen hatte. Als sie es erfuhr, sagte sie lachend: »Hat nicht Meng Tse geschrieben: ›Die Liebe von Mann und Frau ist das Fundament der Gesellschaft. – Wenn Liebende übereinstimmen, kann sie nicht einmal der Befehl der Eltern einschüchtern.‹ Aber meine Tochter ist von niedriger Geburt. Sind Sie überzeugt, daß sie geeignet ist, einem hochstehenden Mann ›Kissen und Matte‹ zu sein?« Er verbeugte sich tief vor ihr und bat, sie möge ihn als ihren Sklaven betrachten.
Sie tranken viel und trennten sich schließlich; die alte Dame behandelte ihn wie einen Schwiegersohn.
Nächsten Morgen ließ er all seine Sachen in das Haus der Frau Li bringen und ließ sich dort für immer 368 nieder. Von da ab schloß er sich mit Fräulein Li ab, und keiner seiner Freunde hörte wieder von ihm. Er verkehrte nur mit Schauspielern, Tänzern und Volk dieser Art, vertrieb die Zeit mit wilden Spielen und fröhlichen Festen. Als sein ganzes Geld verbraucht war, verkaufte er seine Pferde und Diener. In einem Jahr waren Geld, Gut, Diener, Pferde fort.
Mit der Zeit wurde die Art der alten Dame, ihn zu behandeln, immer kühler und kühler, die schöne Li jedoch blieb ihm zugetan. Eines Tages sagte sie zu ihm: »Wir waren nun ein Jahr zusammen, aber noch ist unsere Liebe nicht gesegnet. Man sagt, daß der Geist des Bambushains auf die Gebete einer Frau so sicher wie ein Echo antwortet. Laß uns in den Tempel gehen und ein Trankopfer darbringen.«
Der junge Mann, nichts Böses ahnend, war erfreut, mit ihr den Tempel aufsuchen zu dürfen. Er verpfändete seinen Rock, Wein für das Trankopfer zu kaufen, ging mit ihr und verrichtete die Gebete. Sie blieben eine Nacht im Tempel und kehrten am nächsten Tag zurück. Ihre Esel antreibend, erreichten sie bald das Nordtor des Ping Kang-Viertels. Hier wandte sich die schöne Li zu ihm und meinte: »Das Haus meiner Tante ist ganz in der Nähe; wie wär es, wenn wir hingingen, ein wenig zu rasten?«
Sie wies den Weg; kaum hundert Schritte weiter gewahrte er ein ausgedehntes Gut. Ein Diener kam auf sie zu, hielt sie an und wies die Einfahrt. Der junge Mann stieg ab, wurde von jemandem, der ihnen entgegenkam, um sie zu empfangen, gefragt, wer sie wären. Als er erfuhr, daß es Fräulein Li sei, ging er 369 zurück und meldete sie an. Sofort kam eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, begrüßte ihn, sagte: »Ist meine Nichte gekommen?« Fräulein Li stieg ab, und ihre Tante sagte zu ihr: »Warum hast du dich so lange bei mir nicht sehen lassen?« Worauf sie einander anblickten und lachten. Fräulein Li stellte ihn der Tante vor, und sie begaben sich in den Garten, in dessen Mitte, umgeben von Bambus und Bäumen jeglicher Art, eine Pagode stand; Teiche und Pavillons riefen den Eindruck vornehmer Abgeschiedenheit hervor. Er fragte, ob dieser Garten zum Besitz der Tante gehöre; sie lachte, überging die Frage und sprach von etwas anderem.
Tee von besonderem Wohlgeschmack wurde gereicht; aber sie hatten kaum getrunken, als ein Bote auf einem Riesenroß angesprengt kam und meldete, Fräulein Lis Mutter sei plötzlich schwer erkrankt, habe das Bewußtsein verloren – es wäre gut, wenn sie so schnell wie möglich nach Haus käme!
Fräulein Li sagte zu ihrer Tante: »Ich bin fassungslos. Ich denk, es wäre am besten, wenn ich auf diesem Pferd vorausreiten würde. Ich werd es zurückschicken, Sie und mein Gemahl können später folgen.« Der junge Mann bemühte sich mitzukommen, aber die Tante und die Diener hielten, erregt auf ihn einsprechend, ihn zurück, hinderten ihn, den Garten zu verlassen.
Die Tante sagte zu ihm: »Jetzt ist meine Schwester sicher schon tot. Wir sollten zusammen beraten, was getan werden könnte, das Begräbnis vorzubereiten. Welchen Zweck hätt es, wegzulaufen? Bleiben Sie 370 hier und helfen Sie mir, der Bestattung und Trauer Zeremoniell einzuleiten.«
Es wurde spät; aber der Bote kam nicht zurück. Die Tante sagte: »Ich staune, daß er mit dem Pferd noch nicht zurückgekommen ist. Es wär am besten, wenn Sie so rasch wie möglich zu Fuß hingingen, um zu erfahren, was sich ereignet hat. Ich will später nachkommen.«
Der Jüngling ging zu Frau Lis Haus. Als er ankam, fand er das Tor fest verriegelt, versperrt und versiegelt. Verwundert fragte er die Nachbarn, die ihm sagten, das Haus sei an Frau Li nur vermietet gewesen, die Frist wäre nun abgelaufen, der Eigentümer selbst hätte wieder davon Besitz ergriffen. Die alte Frau wäre fortgezogen, unbekannt wohin!
Im ersten Augenblick dachte er daran, zurück nach Hsüan Yang zu eilen und die Tante zu befragen; dann aber sah er ein, daß es dazu zu spät war. Er versetzte einen Teil seiner Kleidung, kaufte sich vom Erlös ein Abendessen und mietete ein Bett. Er war aber zu zornig und zu verzweifelt, als daß er hätte schlafen können, er schloß von abends bis morgens kein Auge. Zeitlich früh schleppte er sich zum Haus der Tante. Wiederholt klopfte er ans Tor, niemand meldete sich, es war Frühstückszeit. Nach langem, lautem Rufen kam endlich ein Lakei majestätisch zur Tür. Der junge Mann nannte nervös den Namen der Tante und fragte, ob sie zu Hause sei. Der Lakai erwiderte: »Niemand dieses Namens hier.« »Aber sie war doch noch gestern abend hier«, beharrte der Jüngling, »warum versuchen Sie mich zu täuschen? Wenn sie 371 nicht hier lebt, wem gehört dann dieses Haus?« Der Lakai: »Es ist der Sitz Seiner Exzellenz des Herrn Ts'ui. Ich glaube, gestern haben einige Personen einen Teil des Gartens gemietet. Ich hörte, sie empfingen eine Base, die aus der Ferne kam; vor Anbruch der Nacht waren alle wieder fort.«
Wahnsinnig verwirrt durch diese Auskunft, wußte der Jüngling zunächst durchaus nicht, was tun. Am besten schien es ihm noch, sich jetzt zu seiner ersten Wohnung, die er bei seiner Ankunft in Tschang An besessen, zu begeben.
Der Wirt hatte Mitleid mit ihm und bot ihm Essen an. Aber der Jüngling war so verzweifelt, daß er nicht ans Essen dachte und ernsthaft erkrankte, da er drei Tage lang keine Nahrung zu sich genommen hatte. Sein Zustand verschlimmerte sich, und der Hauswirt, an seinem Aufkommen zweifelnd, ließ ihn schnurstracks in den Laden des Leichenbestatters schaffen. Die Angestellten des Leichenbestatters versammelten sich um den kranken Jüngling, bemitleideten und labten ihn. Nach und nach erholte er sich und konnte mit Hilfe eines Stockes gehen.
Der Leichenbestatter nahm ihn in seinen Dienst und ließ ihn das Notdürftige verdienen. In einigen Monaten kam er wieder zu Kräften. Oft hörte er, wie die Leidtragenden in ihren Klagegesängen bedauerten, nicht mit den Verstorbenen tauschen zu können. Wenn er sie dabei in heftige Weinkrämpfe verfallen und Teiche von Tränen vergießen sah, ging er nach Haus und ahmte ihr Gehaben nach.
Da er intelligent genug war, meisterte er bald diese 372 Kunst und wurde schließlich der geschickteste Klagesänger von Tschang An. Nun gab es damals zwei Leichenbestatter im Orte, die einander stark Konkurrenz machten. Der Unternehmer des Ostens verfügte über prächtige Leichenwagen und Totenbahren, in welcher Hinsicht seine Überlegenheit nicht bestritten werden konnte. Aber die Klagemänner, die er beistellte, waren einigermaßen minderwertig. Er erfuhr von des jungen Mannes Fertigkeit und bot ihm große Summen für seine Dienste. Die Anhänger des Leichenbestatters des Ostens, denen das Repertoire ihrer Gesellschaft bekannt war, lehrten den Jüngling insgeheim einige neue Melodien und zeigten ihm, wie sie den Worten anzupassen wären. Der Unterricht erstreckte sich über einige Wochen, ohne daß jemand davon erfahren hätte. In der Folge entschlossen sich die beiden Leichenbestatter, einen Wettbewerb und eine Ausstellung ihrer Prunk- und Bestattungsbehelfe in der Tien Men-Straße zu arrangieren. Der Verlierer war verpflichtet, fünfzigtausend Käsch zur Deckung der vorgesehenen Erfrischungen zu erlegen. Vor der Ausstellung wurde ein Vertrag darüber geschlossen und von Zeugen gebührend unterschrieben.
Tausende versammelten sich, dem Wettbewerb beizuwohnen. Der Bürgermeister des Viertels erfuhr von den Vorgängen und benachrichtigte den Chef der Polizei. Der Polizeichef gab die Meldung an den Gouverneur der Stadt weiter. Bald eilte ganz Tschang An hin, niemand wollte zu Hause bleiben. Die Ausstellung dauerte von Anbruch der Dämmerung bis zum nächsten Mittag. Kutschen, Leichenwagen und jede Art 373 Begräbnisprunk wurden nach und nach vorgeführt. Der Leichenbestatter des Westens konnte aber keine Überlegenheit erzielen. Beschämt errichtete er eine Rednertribüne im Südeck des Platzes. Alsbald erschien ein Mann mit einem langen Bart, eine Glocke in der Hand, begleitet von mehreren Gehilfen. Er schüttelte seinen Bart, hob seine Augenbrauen, kreuzte seine Arme über der Brust und verneigte sich tief. Dann bestieg er die Bühne und sang den »Grabgesang vom weißen Pferd«. Als er fertig war, warf er triumphierende Blicke um sich, die andeuteten, daß er seine Gegner für besiegt hielt. Lob erscholl von allen Seiten, und er selber war überzeugt, sein Talent sei ohnegleichen und könnte unmöglich in Frage gestellt werden.
Nach einer Pause schob der Unternehmer des Ostens einige Bänke in der Nordecke des Platzes zusammen, und ein junger Mann mit einem schwarzen Hut, ein Bund Begräbnisfedern in der Hand, gefolgt von fünf Begleitern, erschien: der Held unserer Geschichte.
Er ordnete seine weißen Trauerkleider, blickte furchtsam auf und nieder, räusperte sich und begann schüchtern seinen Gesang. Er sang das stimmungsvolle Begräbnislied: »Tau auf Knoblauchblüten«. Seine Stimme erhob sich so hell und klar, »daß ihr Echo die Bäume des Waldes schüttelte«. Noch bevor die erste Strophe zu Ende war, schluchzten alle Anwesenden und versuchten die Tränen zu verbergen. Als er geendet hatte, spottete jeder des gegnerischen Leichenbestatters, der sich so erledigt fühlte, daß er sofort seine Ausstellungsgegenstände wegschaffte und 374 den Wettkampf aufgab. Die Zuhörerschaft wunderte sich über seinen raschen Zusammenbruch und konnte sich nicht erklären, woher sein Rivale sich einen so außerordentlichen Sänger hatte verschaffen können? Nun hatte jüngst der Kaiser einen Befehl erlassen, demzufolge die Gouverneure der Außenprovinzen einmal jährlich in der Hauptstadt sich bei ihm zu einer Beratung einzufinden hatten.
Zu dieser Zeit traf daher der Vater des jungen Mannes, der Gouverneur von Tschang Tschou war, in der Hauptstadt ein, um seinen Bericht zu erstatten. Als er und einige seiner Kollegen von dem Wettbewerb erfahren hatten, legten sie Amtstracht und Insignien ab und mischten sich unter die Menge. Ein alter Diener, Gatte der Pflegeamme des Jünglings, begleitete sie. An der Art der Bewegungen und an der Sprache erkannte er seinen Pflegesohn und war nahe daran, ihn anzusprechen, wagte es aber nicht; er stand still und konnte nur weinen. Der Vater fragte ihn, warum er weine. Der Diener sagte: »Herr, der junge Sänger erinnert mich an Ihren verlorenen Sohn.« Der Vater antwortete: »Mein Sohn wurde die Beute von Räubern, da ich ihm zuviel Geld gegeben hab. Er kann es nicht sein.« Nach diesen Worten begann auch er zu weinen, verließ die Menge und kehrte in sein Quartier zurück.
Der alte Diener aber machte sich an die Begräbnisleute heran und fragte, wer eben mit solcher Fertigkeit gesungen hätte. Sie sagten ihm, das wäre der Sohn von dem und dem: und als er sich nach dem Namen des Jünglings erkundigte, war auch dieser ihm 375 unbekannt, denn der lebte unter einem fremden Namen. Trotzdem beschloß der Alte, der Sache weiter nachzugehen. Doch als der Jüngling seinen alten Freund auf sich zukommen sah, erschrak er, wandte sein Gesicht ab und versuchte in der Menge unterzutauchen. Der alte Mann folgte ihm, faßte ihn beim Ärmel und sagte: »Sicher bist du es!« Hierauf umarmten sie einander unter Tränen und begaben sich zusammen zu des Vaters Wohnung. Der Vater schmähte ihn: »Deine Aufführung hat die Familie entehrt. Wie kannst du es wagen, mir unter die Augen zu kommen?« Nach diesen Worten verließ er mit ihm das Haus und führte ihn auf den Platz, der zwischen dem Tschü Kiang-Teich und dem Marillengarten lag. Hier riß er ihm die Kleider vom Leib und züchtigte ihn mit seiner Pferdepeitsche, bis der Jüngling, überwältigt von Schmerz, zusammenbrach. Der Vater ließ ihn liegen und entfernte sich.
Aber des Jünglings Gesanglehrer hatte einige seiner Freunde ersucht, auf ihn zu achten. Als sie ihn leblos ausgestreckt fanden, kamen sie zurück und benachrichtigten die andern Mitglieder der Trauertruppe. Das Ereignis rief allgemeines Wehklagen hervor, zwei Männer wurden mit einer Schilfrohrmatte entsandt, seinen Leichnam zu bedecken. Als sie hinkamen, fanden sie aber sein Herz noch warm, und als sie ihn einige Zeit aufrecht hielten, setzte die Atmung wieder ein. Sie führten ihn zwischen sich heim und flößten ihm durch ein Schilfrohr flüssige Nahrung ein. Nächsten Morgen kam er wieder zu Bewußtsein, aber noch monatelang war es ihm nicht 376 möglich, Hände oder Füße zu bewegen. Überdies eiterten die Wunden, welche die Züchtigung hinterlassen hatte, in so ekelerregender Art, daß die Freunde seiner überdrüssig wurden: ihn einmals nachts mitten in der Straße liegen ließen. Sein Zustand erbarmte aber Vorübergehende, welche ihm Nahrungsbrocken zuwarfen.
Erst in drei Monaten erholte er sich so weit, auf einen Stab gestützt herumhumpeln zu können. Gekleidet in einen Leinenrock, der an hundert Stellen zusammengeflickt war, gesprenkelt wie eine Wachtel, durchstreifte er als Berufsbettler mit einer zerbrochenen Schale in der Hand die reichen Viertel der Stadt und erwarb sich so seinen Lebensunterhalt.
Der Herbst verging, der Winter kam. Er verbrachte seine Nächte in öffentlichen Bedürfnisanstalten und suchte tagsüber Märkte und Gasthäuser ab.
Eines Tages, als es stark schneite, trieben ihn Hunger und Kälte auf die Straße. Sein Bettelruf war so ergreifend, daß alle, die ihn hörten, gerührt wurden. Aber der Schnee stürmte so arg, daß kaum ein Haus sein Außentor offen hatte; leer waren die Straßen.
Als er das Osttor erreicht hatte, kam er an ein Haus, dessen Doppeltor halb offen stand.
Es war das Haus, in dem jetzt Fräulein Li lebte – aber der Jüngling wußte es nicht.
Lange stand er laut wehklagend vor dem Tor.
Hunger und Kälte gaben seinem Wehgeschrei einen so mitleiderregenden Klang – niemand hätte da ungerührt bleiben können.
Fräulein Li hörte ihn von ihrem Zimmer aus und 377 sagte sofort zu ihrem Diener: »Das ist – – ich kenne seine Stimme.« Sie flog zum Tor und war entsetzt, ihren alten Liebhaber, vor Hunger herabgekommen, von Wunden entstellt, vor sich zu sehen; kaum schien er noch ein Mensch zu sein. »Bist du das?« rief sie aus. Der junge Mann war so erschüttert, daß er nicht sprechen, sondern nur wortlos die Lippen bewegen konnte.
Sie warf ihre Arme um seinen Hals, wickelte ihn in ihre schöne Jacke und führte ihn ins Haus hinein. Mit bewegter Stimme klagte sie sich an: »Meine Schuld ist es, daß es mit dir so kam.« Nach diesen Worten fiel sie in Ohnmacht.
Aufgeregt eilte die Mutter herbei, fragte, wer gekommen sei. Fräulein Li, die wieder die Besinnung erlangt hatte, klärte sie auf. Da schrie das alte Weib wütend: »Schick ihn fort! Weshalb brachtest du ihn?«
Fräulein Li blickte sie trotzig an: »Nicht so! Dies ist der Sohn eines edlen Hauses. Einst fuhr er in herrlichen Kutschen und trug goldenen Schmuck. Aber bei uns verlor er rasch alles, was er besaß. Dann spielten wir ihm einen Streich und verließen den Ausgeplünderten: Unser Vorgehen war unmenschlich. Wir haben seine Laufbahn zerstört, ihn sogar seines Platzes in der Gesellschaft und in seiner Familie beraubt. Der Himmel hat Liebe zwischen Vater und Sohn gesetzt; wir aber verhärteten das Herz seines Vaters so sehr, daß er ihn mit einem Stock schlug und am Boden liegen ließ.
Man weiß überall, daß ich an seinem gegenwärtigen 378 Zustand schuld bin. Der Hof ist voll von seinen Verwandten. Eines Tages wird einer von ihnen zur Macht gelangen. Dann wird eine Untersuchung eingeleitet werden, und Unglück wird über uns kommen. Und da wir des Himmels gespottet und die menschlichen Gebote mißachtet haben, werden weder Geister noch Götter auf unserer Seite sein. Beschwört nicht so mutwillig Wiedervergeltung auf uns herab.
Zwanzig Jahre war ich Ihre Tochter. Schätzungsweise hab ich Sie während dieser Zeit tausend Goldstücke gekostet. Sie sind jetzt sechzig alt, und ich kann für das Geld, das für weitere zwanzig Jahre an Nahrung und Kleidern nötig wäre, meine Freiheit erkaufen. Ich habe vor, mit diesem Jüngling allein zu leben, wir werden nicht weit wegziehen; ich werde darauf achten, daß wir nahe genug wohnen, um Ihnen morgens wie auch abends unsere Ehrerbietung zu erweisen.«
Die »Mutter« sah, daß dagegen nichts zu machen war, und stimmte bei. Als Fräulein Li ihr Lösegeld gezahlt hatte, blieben ihr noch hundert Goldstücke übrig, von welchen sie ein leeres Zimmer, fünf Häuser weiter, mietete. Hier richtete sie dem Jüngling ein Bad, gab ihm Kleider, labte ihn mit heißer Suppe, um seinen Magen wieder zu beleben, und mästete ihn später mit Käse und Milch.
Nach einigen Wochen setzte sie ihm die auserwähltesten Leckerbissen vor und kleidete ihn mit Kappe, Schuhen und Strümpfen edelster Art. In kurzer Zeit setzte er allmählich wieder Fleisch an, und am Ende des Jahres hatte er seine frühere Gesundheit erlangt. Eines Tages sagte Fräulein Li zu ihm: »Nun sind 379 deine Glieder wieder kräftig, dein Wille stark. Manchmal grüble ich im stillen darüber nach, wieviel du wohl von deinen literarischen Studien noch im Gedächtnis behalten hast?« Er dachte nach und antwortete: »Von zehn, elf Teilen entsinn ich mich zweier oder dreier.«
Fräulein Li befahl den Wagen, der Jüngling folgte ihr zu Pferd. Als sie die Buchhandlung beim Seitentor südlich des Flaggenturmes erreicht hatten, ließ sie ihn die Bücher, die er brauchte, wählen und bezahlte sie. Dann brachte sie die Bücher im Wagen unter und fuhr heim. Sie erreichte es, daß er sich alle andern Gedanken aus dem Sinn schlug und sich nur dem Studium widmete. Allabendlich brütete er über seinen Büchern, und nie vor Mitternacht zog er sich mit Fräulein Li, die neben ihm saß, zurück. Schien er ihr zu ernster Arbeit zu müd, ließ sie ihn die Klassiker beiseitelegen und ein Gedicht oder eine Ode schreiben.
In zwei Jahren beherrschte er durchaus sein Gebiet und wurde von allen Studenten des Reiches bewundert. Er sagte zu Fräulein Li: »Nun hab ich die Prüfer nicht zu fürchten!« Sie ließ ihn aber noch nicht die Prüfung versuchen – alles, was er gelernt hatte, mußte er nochmals durchnehmen, um gleich für die Hauptprüfung gewappnet zu sein. Am Ende des dritten Jahres sagte sie: »Nun magst du es versuchen.« Er ging zur Prüfung und bestand sie gleich beim erstenmal. Die Kunde von seinem Erfolg verbreitete sich schnell durch alle Prüfungssäle, und sogar alte Bücherwürmer, die seine Schriften sahen, 380 achteten und bewunderten ihn und bewarben sich um seine Freundschaft.
Fräulein Li wollte nicht, daß er sich mit ihnen befreundete, sagte: »Warte noch ein wenig, wenn heutzutag ein Bakkalaureus der freien Künste die Prüfungen bestanden hat, hält er sich für fähig, bei Hof die vorteilhaftesten Stellungen einnehmen und Weltruf gewinnen zu können. Aber dein unglückseliges Verhalten sowie deine unrühmliche Vergangenheit setzen dich deinen Kameraden gegenüber in Nachteil. Du mußt deine Kenntnisse festigen und vertiefen, um noch einen zweiten Sieg zu erringen. Dann wirst du es mit berühmten Gelehrten aufnehmen können und dich gegen die besten behaupten.«
Der Jüngling steigerte seine Anstrengungen und erhöhte seinen Ruhm. In diesem Jahre geschah es, daß der Kaiser eine besondere Prüfung für ungewöhnlich begabte Kandidaten aus allen Teilen des Reiches anordnete. Der Jüngling beteiligte sich und errang den Sieg über alle. Es wurde ihm der Posten eines Armeeinspektors zu Tscheng Tu Fu angeboten. Alle Offiziere, die ihn zu geleiten hatten, waren ehemalige Freunde von ihm.
Als er im Begriffe war, seinen Posten anzutreten, sagte Fräulein Li zu ihm: »Nun, da du deinen dir im Leben zustehenden Platz einnehmen wirst, will ich dir nicht im Weg stehn. Laß mich zurückgehn und der alten Dame beistehn, bis sie stirbt. Du mußt dich mit einem Fräulein von edler Abkunft, würdig, die heiligen Handlungen in deiner Ahnenhalle zu begehn, vereinigen. Verdirb dir nicht deine Aussichten durch 381 eine ungleiche Verbindung. Leb wohl, ich muß dich jetzt verlassen.«
Der junge Mann brach in Tränen aus und drohte sich zu töten, sowie sie ihn verlassen würde; sie aber weigerte sich hartnäckig, mit ihm zu gehn. Leidenschaftlich flehte er sie an, ihn nicht zu verlassen, bis sie endlich einwilligte, mit ihm über den Fluß bis nach Tschien Men zu gehen. »Dort«, sagte sie, »müssen wir uns trennen.« Der junge Mann war einverstanden, und in einigen Wochen erreichten sie Tschien Men. Bevor er weiterzog, erfuhr er aus einem Erlaß, daß sein Vater, welcher Gouverneur von Tschang Tschou war, zum Intendanten des Tschien Nan-Kreises ernannt worden war. Am nächsten Tag kam sein Vater an. Der Jüngling sandte ihm seine Karte und machte ihm in der Poststation seine Aufwartung. Sein Vater erkannte ihn nicht, aber die Karte trug die Namen des Vaters und Großvaters mit deren Rang und Titel. Als er sie las, war er überrascht und bat seinen Sohn, zu ihm zu kommen, liebkoste und umarmte ihn: »Jetzt sind wir wieder Vater und Sohn!« Dann bat er den Sohn, ihm seine Geschichte zu erzählen. Als er des jungen Mannes Abenteuer erfuhr, war er überrascht, fragte sofort: »Und wo ist Fräulein Li?« »Sie begleitete mich bis hierher, verläßt mich aber jetzt, heimzukehren.« »Das kann ich nicht gestatten«, sagte der Vater. Nächsten Tag befahl er eine Karosse für seinen Sohn und sandte ihn zur Berichterstattung nach Tscheng Tu; Fräulein Li hielt er in Tschien Men zurück, fand ihr eine passende Wohnung und befahl, das Zeremoniell für die Vereinigung der beiden Familien 382 zu vollziehen und die sechs Riten des Willkommens vorzubereiten. Als der junge Mann von Tscheng Tu zurückkam, wurden sie verheiratet. In der Folge erwies sich Fräulein Li als ein ihrem Mann innigst zugetanes Weib, als gute Hausfrau, die von allen Verwandten geliebt wurde.
Einige Jahre später starben die Eltern des jungen Mannes, der beim Einhalten der Trauer ungewöhnliche Pietät bewies. Als Zeichen göttlicher Gunst wuchsen magische Pilze auf dem Dach seiner Trauerhütte: jeder Stamm trug drei Stengel. Der Ruf seiner Tugend erreichte sogar das Ohr des Kaisers. Außerdem nisteten weiße Schwalben im Gebälk seines Daches, eine Vorbedeutung, die auf den Kaiser so starken Eindruck machte, daß er den Trauernden sofort im Rang erhöhte.
Als die drei Trauerjahre vorüber waren, stieg er von Stellung zu Stellung, und im Laufe von zehn Jahren wurde er Gouverneur verschiedener Provinzen. Fräulein Li erhielt das Lehen von Tschien Kuo, mit dem Titel: Frau von Tschien Kuo.
Sie hatten vier Söhne – alle brachten es zu hohem Rang und Ansehen. Sogar der erfolgloseste wurde Gouverneur von T'ai-yüan, und alle seine Brüder gehörten durch Heirat großen Familien an, so daß ihr Glück sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben ohnegleichen war.
Wir fanden im Betragen dieses leichtfertigen Mädchens eine Größe, die von den Heldinnen der Geschichte nur selten erreicht wird. Zweifellos muß diese unsere Erzählung Mitleid erregen! 383
Mein Großvater war Gouverneur von Tschin Tschou; später trat er in das Finanzministerium ein, wurde Inspektor der Wasserwege und zuletzt Inspektor der Straßen. In allen diesen Ämtern war Fräulein Lis Gemahl sein Kollege, so daß ihre Geschichte ihm in allen Teilen bekannt wurde. Eines Tages saß ich mit Li Kung Tso von Lung Hai zusammen. Wir kamen in ein Gespräch über Frauen, die sich durch außergewöhnlichen Lebenswandel ausgezeichnet hatten. Ich erzählte ihm die Geschichte von Fräulein Li. Er lauschte überaus aufmerksam. So nahm ich später gern meinen Pinsel, netzte dessen Haare und brachte den dir, alter Leser, nun bekannten, rohen Entwurf zu Papier.
Im Dorfe Düngerhaufen, anmutig gelegen inmitten der Provinz Soundso, lebte damals ein Mann namens Tschang. Er trieb, wie ihr, Handel mit allerlei Dingen und Undingen, und da er eines Tages dieser wichtigen Geschäfte wegen von den heimatlichen Ufern der Jauche in die Kreisstadt Mankenntsich reisen mußte und dort die Nacht schneller hereinbrach als auch nur der kleinste Gewinn, suchte er Obdach in der geringen Herberge »Glanzpalast des wandernden Vogels«. Aber sie strotzte schon von lärmenden Menschen, kein Gemach schien frei. Zufällig entdeckte er in einer Seitennische ein wohlversperrtes Zimmerchen, scheinbar unbewohnt, die morsche Tür 384 spinnwebgesättigt. Tschang rief den Wirt: »Dicker Herr, warum öffnet Ihr mir nicht diese Kammer?«
Der Wirt: »In diesem Verschlag, guter Gast, hausen etliche Geister oder Teufel, ich erkühne mich nicht, darin irgendwen zu beherbergen.«
Tschang: »Ach was! Und wenn Füchse oder Dämonen darin steckten, was gehen die mich an, sollt ich mich etwa gar vor Toten fürchten?!«
Der Wirt verlor kein Wort mehr, willigte ein, die Tür aufzusperren, nahm Lampe und Kehrbesen und übergab beides dem Gast.
Tschang schritt in das Zimmer, stellte die Lampe standhaften Mutes auf den Boden und ließ ihr Licht so hell wie möglich erstrahlen.
Mitten im Zimmer prangte eine zerbrochene Bettstelle, auf der ein großer Vorrat des allerbesten Staubes in dicken Haufen aufgespeichert lag. Tschang ergriff tapfer seinen Besen, fegte die Bettstatt rein, schlug dann die Bettdecke zurück, ließ sich zur Belohnung für diese Unerschrockenheit Reis und Reiswein bringen, verzehrte das und legte sich furchtlos, bei verschlossener Tür, zur Ruhe nieder.
In einer Art von handgreiflichem Traum schaute er eine Frau von überirdischer Schönheit, die sich seinen Kissen anempfahl. Gern dies fortträumend, umarmte er sie. Aber als er, nach Wolken und Regen, erwachte, lag – dies scheint sonderbar – die Dame noch an seiner Seite, wie im Traum.
Tschang, als ein höflicher Kaufmann, fragte sie, wer sie sei; sie ließ die Antwort fallen:
»Ich bin das Weib eines Nachbars. Sintemalen mein 385 Mann verreist ist, fürchtete ich all die Weilen allein zu schlafen, so werden wir uns wohl gegenseitig genügen. Zur Zeit sprechen Sie besser kein überflüssiges Wort, späterhin werden Sie alles Unnötige erfahren.«
Tschang ließ ab, den schönen Körper mit Worten zu langweilen. Aber mit dem Hellerwerden des Tages schwand das seltsame Weib. Die Nacht hernach kam sie wieder, und beide Teile befragten einander ohne Worte. So schritt die Freude drei aufeinanderfolgende Nächte fort, bis der Wirt, verwundert ob des Kaufmanns, trotz schlechter Geschäfte, guter Laune, in zufälligem Gespräch des Umstands gedachte, daß sich vorzeiten in Tschangs Zimmer eine Frau erhängt habe und sich seither oft bemerkenswerte Dinge darin ereigneten. »Jetzt aber«, fügte der Wirt beschwichtigend hinzu, »scheint ja alles ganz ruhig zu sein.«
Den Kaufmann aber verließ diese Jugenderinnerung seines Zimmers keineswegs, und als die Nacht herab sank und mit ihr das Weib, stellte er es vor die Worte: »Der Wirt dieser Herberge deutete mir an, in meinem Zimmer gehe der Geist eines Weibes um, das diesem Leben vorzog, sich zu erhängen. Ich vermute –«
Ohne das geringste Zeichen von Verwirrung, ohne Verlangen, die Wahrheit zu verbergen, antwortete die Dame: »O du mein Nachttrost! In der Tat: ich tötete mich – und keinen anderen! Also kannst auch du ganz außer Sorge sein, da es durchaus nicht meine 386 Absicht ist, dir weh zu tun.« Tschang bat sie um die Geschichte ihres Lebens. Die Frau erzählte:
»Früher war ich ein Blumenmädchen, noch früher nannten meine Eltern mich Mu. Mein Rang in dem Haus der Freude war Nummer Zweiundzwanzig, deshalb nannte man mich gewöhnlich Fräulein Neen urh. Ich liebte einen Mann aus deinem Dorf, wir standen im traulichsten Verhältnis zueinander. Dieser Mensch namens Yang versprach mir, mich zu heiraten und aus diesem Haus hinweg in sein Haus zu nehmen. Im Vertrauen darauf gab ich ihm mein kleines Privatvermögen: hundert Goldstücke, den Angstschweiß meiner unerfahrenen Jugend. Yang schwand aber mit dem Geld dahin, und als der Kerl nach drei langen Jahren noch immer nicht zu mir zurückgekehrt war, versuchte die Besitzerin des Hauses meine Liebe zu knechten: sie zwang mich, einen anderen Burschen anzunehmen. Ich war ein trauriges Blumenmädchen gewesen, nun gar die tiefe Liebe schuf mich anders – da ich keinen Ausweg mehr wußte, lästigen Bewerbungen zu entgehen, nicht stark genug war, die Leiden auszuhalten, die mich niederwarfen, erhängte ich mich und starb.
Dies Haus, wo einst meine Eltern gewohnt, ward an fremde Leute verkauft, die es in eine trostlose Herberge verwandelten. In früheren Zeiten, in den Tagen der Kindheit, war dies mein Zimmerchen gewesen, und da meinem Leib mein Geist noch nicht nachgestorben ist, pfleg ich es zu besuchen wie ehedem. Yang ist aus deinem Dorf. Kennst du ihn? Wo lebt er? Was treibt er?« 387
Tschang: »Voriges Jahr verzog er in die Hauptstadt des Lärms, nahm dort Wohnung am Südtor, hat dann geheiratet und einen Laden eröffnet. Ein gutes Geschäft! Er hat zweiundzwanzig Diener.«
Neen urh seufzte tief auf, sprach aber kein Wort.
Erst zwei Tage später, als Tschang heimkehren wollte in sein Dorf, raffte sie sich aus dem Schweigen auf: »Ich hab ein starkes Verlangen, lieber Freund, dir zu folgen und mit dir zusammen zu leben, aber ich weiß noch nicht, ob auch du das magst?«
Tschang: »Oh! Wenn du imstande wärst, mich zu begleiten, was sollt ich dagegen haben?!«
Neen urh: »Würdest du wohl so lieb sein, ein kleines Holztäfelchen zu besorgen mit der Inschrift: ›Dies ist die Seelentafel des Geistes von Fräulein Neen urh.‹ Du kannst das Täfelchen leicht in deine Reisetasche stecken; wenn du es dann herausnimmst und mich rufst, so werd ich dir stets sofort erscheinen.«
Tschang versprach, all dies genau zu befolgen, um so mehr, als Neen urh hinzufügte: »Ich habe fünfzig Silbertael unter diesem Bett vergraben. Niemand weiß das. Ich schenke sie dir.«
Tschang riß lustig den Boden auf und fand tatsächlich einen Krug, gefüllt mit fünfzig Silbertael. Und über dies gütige Mädchen, das noch nach ihrem Tod für ihre Liebsten verschwenderisch sorgte, ward sein Herz froh und guter Dinge, und doppelt freudig verging ihm diese Nacht mit der Aussicht, in seinem Heimatdorf bald einen Laden eröffnen zu können.
Am nächsten Morgen besorgte er schnell das hölzerne 388 Seelentäfelchen, versah es mit der Aufschrift. Dann versteckte er es gut, nahm vom Wirt Abschied und eilte heimwärts.
Bald hatte er das anmutig gelegene und als Landaufenthalt beliebte Dorf Düngerhaufen erreicht, trat in sein Haus und erzählte freudestrahlend seinem Weib das Abenteuer. Die gute Hausfrau war anfangs mit den mancherlei nächtlichen Vorfällen nicht eben so ganz zufrieden, aber als sie die fünfzig leibhaftigen Silbertael erblickte, kehrte ihr als einer pflichtbewußten Kaufmannsfrau bessere Laune zurück, und gar der Laden der Zukunft vertrieb jede Spur von Mißbehagen.
Tschang hatte das Seelentäfelchen der Neen urh vor die östliche Wand gestellt, sein Weib ergriff es im Scherz und rief den Geist an. Und siehe da: im hellen Tageslicht spazierte Fräulein Neen urh hervor und machte der erschrockenen Frau vom Haus eine tiefe Verbeugung. Als sich die Kaufmannsfrau aber ein wenig an den Anblick des so freigebigen Gespenstes gewöhnt hatte, verlor sich die Furcht gänzlich.
In der Nacht, als sich Tschang mit seiner Frau zur Ruhe begab, legte sich die Fremde bescheiden zu ihnen, und das seltsame dabei war, daß das Ehebett weder enger noch schmäler schien als zuvor.
Nach ungefähr zehn Tagen oder Nächten meinte Neen urh zu Tschang: »Ich vergaß dir noch zu sagen – ich hab in der Hauptstadt des Lärms eine alte Schuld ausstehen, vielleicht tust du mir den Gefallen und treibst sie mit mir ein?«
Kaufmann Tschang, in der Hoffnung, für sich selbst 389 Nutzen daraus zu ziehen, sagte sofort zu. Er mietete ein Blumenboot und stellte das hölzerne Seelentäfelchen sorgfältig mitten hinein. Neen urh reiste tagsüber mit ihm, die Nächte schlief sie bei ihm, da sie in der Tat die Beziehung zu Leuten von Fleisch und Blut keineswegs zu meiden schien.
Nachdem sie einige Tage stromabwärts gefahren waren, gelangten sie an das Südtor der Hauptstadt des Lärms, und Neen urh sagte: »Ich werde jetzt in Yangs Wohnung gehen – endlich die alte Schuld einfordern.«
Tschang wollte sie eben noch fragen, was sie damit meine, als sie sich bereits auf dem Lande befand. Er folgte ihr und sah sie ganz deutlich in einen Laden treten, der, als er ihn näher besah, in der Tat zum Haus Yangs gehörte. Er wartete eine Zeitlang -– sie kam nicht wieder.
Plötzlich sah er die zweiundzwanzig Diener Yangs in einem unerklärlichen Zustand von Angst und Schrecken – gleich darauf hörte er ein klägliches Schreien und Weinen. Tschang fragte, fragte, bis ein Ladendiener Yangs herangeheult kam: »Ach, mein Herr Yang war so gesund, es hat ihn nie nichts angefochten, bis ihm auf einmal irgendein verwünschter Geist oder Teufel entgegentrat – das Blut stürzte ihm aus allen neun Öffnungen des Leibes: er ist tot!«
Tschang zweifelte nicht – Neen urh hatte den Yang getötet! Tschang schlich ganz still nach seinem Boot, ergriff das Seelentäfelchen, rief ungestüm den Geist an, aber der ließ sich weder hören noch sehen. 390
Tschang begriff endlich: die alte Schuld in der Hauptstadt bestand in der Rache, die das Weib an Yang noch auf Erden nahm, zur Strafe für seine lieblose Geldgier.
Lies diese Geschichte von der sittlichen Forderung, von Yangs und Neen urhs grausamem Benehmen und dem Schicksal, das beide ereilte – und du wirst finden, daß der Himmel den herzlosen Liebhaber seiner selbst und des Geldes niemals beschützt.
Wir haben dir soeben erzählt, wie Fräulein Neen urh selbst im Tode nicht ruhte, bis sie die ihr zugefügte Untat tödlich geahndet hatte. Wir erwähnten auch, daß ihr Geist sie wirklich rächte. Das letztere ist sehr seltsam und kann durchaus nicht verbürgt werden.
In der mittlerweile verschütteten Kleinstadt Tai Hsien, Provinz Kiang Su, ward vor annähernd soundso viel Mondjahren eine arme Geschäftsfrau, deren leckerer Bohnenbrei sich unendlicher Beliebtheit erfreute, nachts ermordet. Weiland ihr Laden lag unmittelbar vor dem Yamen des Bürgermeisters. Wie an Ort und Stelle hinterbliebene Blutspuren anzeigten, mußte der Mörder über die Hausmauer geflohen sein. Wirbelwind der Aufregung in der Stadt. Der Bürgermeister, sich verhöhnt glaubend, traf sogleich am frühen Morgen treffliche Anstalten, des Verbrechers noch innerhalb der Stadtgrenzen habhaft zu werden. Am selben Tag betete eine Bäuerin vor einem nah 391 gelegenen Straßentempelchen – als sie plötzlich jenseits der hohen Schwelle aus dem düsterdunkeln Weiheraum, wo die alten Götterbilder stehen, wo die Räucherkerzen glimmen, ein unerträgliches Schnarchen vernahm.
Sie erschrak, lief zu den Wachen, die sofort erschienen und das (als der Erdbebendrache jüngst sich regte) verfallene Tempelchen durchsuchten. Sie fanden darin zu ihrem größten Erstaunen noch eine Leiche – diesmal einen gar toten Mann, der offenbar eben mit einem messerartigen Instrument umgebracht worden war. Doch konnten sie keineswegs feststellen, ob Mord oder Selbstmord vorlag? Zu dieser Annahme schien eine einzige Tatsache zu berechtigen: der Leichnam war so verstümmelt, daß der Tod sogleich auf der Stelle hätte eintreten müssen. Während doch der Tote noch vorhin durch eindringliches Schnarchen sein Leben bewiesen hatte und infolge der öffentlichen Lage des Tempelchens ein Betreten durch einen zweiten Menschen, also den fraglichen Mörder, unbedingt hätte auffallen müssen! Andererseits aber konnte man weder ein Messer noch eine. andere Selbstmordwaffe finden. Sonderbarerweise erkannte man in dem Toten einen des Mordes an der Geschäftsfrau verdächtigen Kerl, der seit langem in ihrer Familie verkehrt hatte und oft durch Äußerungen über den Bohnenbrei – aber auch durch Ausbrüche der Eifersucht aufgefallen war.
Der Bürgermeister übergab kopfschüttelnd die Aufklärung des ihm unergründlichen Falles den ranghöheren Behörden, welche einander sowie ihre 392 Vorgesetzten die Amtsjahre hindurch mit dem Bohnenbrei ihrer Nachforschungen und peinlichen Untersuchungen behelligten, ohne je ein sicheres Urteil fällen zu können.
Endlich entschied in einer eigens anberaumten Sitzung das Oberste Reichsgericht: niemand anderer als der im Tempel betroffene Leichnam sei die Verkörperung des Mörders der Geschäftsfrau gewesen, und der Bürgermeister habe schlechterdings an dieser Leiche noch nachträglich die Strafe für den ungesühnten Mord vollziehen zu lassen. Doch das entwand sich seiner Kompetenz, die sich nur auf noch Lebende erstreckte. Über die bereits in der Unterwelt ansässigen Toten kann bloß der unterirdische Bürgermeister die jenseitigen Beschlüsse fassen – der immerhin in jener Stadt einen fast ebenso prächtigen Amtsraum besaß wie sein im Leben wandelnder Kollege.
Daher begab sich nunmehr das Stadtoberhaupt von Tai Hsien zu dem Tempel seines geisterhaften Amtsgenossen, trug allerhöchst diesem in feierlichen Langgebeten den verwickelten Fall vor mit der demütigen Bitte, ihm die Seele des Delinquenten für den der Hinrichtung des Toten geweihten Tag freizugeben.
Zum Termin versammelten sich auf dem Schindanger die in Frage kommenden Beamten mit dem Bürgermeister an der Spitze, der die strafwürdige Seele in gewaltigen Beschwörungen heranzuzwingen begann. Inzwischen war die Leiche des angeklagten Mannes ausgegraben und auf die eine Schale einer großen, zum Gerichtszweck aufgestellten Waage gelegt worden, die sich anfangs genau im Gleichgewicht befand. 393
Während der Zeremonien beobachteten die Scharfrichter, unterstützt von atemloser Zuschauermenge, scharf die Zunge der eisernen Waage.
Und als mit einemmal schwerwiegend die Schale, worauf die während der Ewigkeit des Prozesses zum Skelett abgemagerte Leiche lag, sich senkte – vollstreckte der Scharfrichter blitzschnell mit dem Richtschwert den Akt irdischer Gerechtigkeit.
Da so das Einverständnis der unterweltlichen Gottheiten mit dem menschlichen Verfahren bezeugt schien, der endlich geköpfte Tote im Vorleben also den rätselhaften Mord getan und jetzt tatsächlich bekannt zu haben schien, gingen die Zuschauer, mit der unblutigen Hinrichtung eines Leichnams sehr zufrieden, ergriffen Bohnenbrei essen zum Ehrengedächtnis der seligen Geschäftsfrau. Betrauernd allerdings, daß die weitaus beste, ja wahrhaft klassische Zubereitungsweise mit der Hingemordeten ins Grab gesunken war.
Aber auch das seinerzeitige Fehlen jeglichen Mord- beziehungsweise Selbstmordwerkzeuges in der geheimnisstarrenden Tempelruine ist bis auf den heutigen Tag ebensowenig erklärt worden, wie man weiß, ob, was die untertänigst betende Bäuerin damals zu hören wähnte, kein Schnarchen, sondern ein letztes Röcheln gewesen?
Ach, all das könnte wohl an sich zumindest noch so viel Kopfzerbrechen verursachen, wie etwa die im Reichsarchiv aufbewahrten Geheimakten über die gelehrte Frage, wo der Bohnenbrei beginnt und wo er aufhört? 394
Jedoch, während noch der Kaiser in seiner himmlischen Gnade den unterirdischen Bürgermeister in Anerkennung außerordentlicher Verdienste um die Gerichtspflege zum unterirdischen Oberbürgermeister zu befördern geruhte, ergoß sich gelegentlich des letzten Drachentanzes und Erdbebens Sintflut des gelben Bohnenbreis aus einem unterirdischen Gerichtsvulkan in heißen Strömen über die bekümmerte Kleinstadt Tai Hsien, über die unglückliche Provinz Kiang Su sowie die ganze, verschollene Menschheit. Bohnenbrei!