Albert Ehrenstein
Mörder aus Gerechtigkeit
Albert Ehrenstein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Goldlotos

Eines Tages spazierte Wu Sung vor dem Amt, sonnte sich, schaute sich alles an und dachte eben: Ich möchte gern einmal zurück nach Tsching Hê, meinen älteren Bruder besuchen – als er von hinten rufen hörte: »Offizier Wu! Kaum sind Sie Offizier geworden – und schon beachten Sie uns nicht!«

Wu Sung drehte sich um, kniete auf die Erde nieder und begrüßte den Rufer. Der Mann war niemand anders als der erstgeborene Bruder Wus. Nach der Begrüßung fragte Wu Sung: »Ich hab ältesten Bruder schon über ein Jahr nicht gesehen – wie kommst denn du daher?«

Wu Ta, der Erstgeborene, antwortete: »Jüngerer Bruder, du bist schon lange fort, warum schriebst du nicht? Du schicktest mir nie Nachricht! Ich hasse dich; aber ich denk immer an dich.«

Wu Sung: »Wie kannst du mich hassen und doch immer an mich denken?«

Wu Ta: »Ich hasse dich, weil du, als wir damals noch in der Stadt Tsching Hê wohnten, viel zu viel trankst. In der Trunkenheit rauftest du stets mit den anderen Lümmeln, deswegen kam ich als dein Verwandter immer wieder als Geisel vor Gericht. Ich habe darunter sehr gelitten und hatte keinen Monat 39 Ruhe; wenn du soffst, mußt ich sitzen – darum hass ich dich. Ich denk an dich, weil ich neulich eine Frau bekommen hab und alle Faulpelze und Wüstlinge der Stadt Tsching Hê wetteiferten, mich zu kränken. Niemand konnte mich schützen. Damals, als du zu Hause warst – wer konnte zu uns kommen, einen Wind blasen? Jetzt, als du fort warst, konnt ich mich nicht mehr dort halten, mußte hierher ziehen, deswegen denk ich immer an dich.«

Alte Leser! Dies war so: Ta und Sung waren wohl beide von einer Mutter. Aber Sung hatte von Magister Yao und Mutter Fang einen schönen Körper mitbekommen: ein rundes Gesicht, wohlgestaltete Ohren, eine gerade Nase, einen ausdrucksvollen Mund, den nun ein breiter, dichter, rotgelber Vollbart umwuchs. Er war über zwei Meter lang, und seine Kraft war so groß, daß er nicht genug daran hatte, einen lebenden Tiger der Wildnis erschlagen zu haben, er mußte außerdem noch sofort nachher im Traum fünf unvorsichtige Tiger töten. Sein Bruder war das Gegenteil von ihm: ein sehr kleiner Mann; hatte ein lächerliches Gesicht – wenn man es sah, wußte man über seine Schönheit Bescheid. Seine Mitbürger gaben ihm den Necknamen »Kleiner Nagel, verschrumpfte Kornhülse«. Zu seiner Zeit lebte in Tsching Hê eine sehr reiche Familie. Die hatte eine Dienerin, die hieß mit dem Familiennamen Pan, mit dem Beinamen Goldlotos. Sie war zwanzig Jahre alt, besaß etwas Schönheit. Der Reiche versuchte, mit ihr ein Verhältnis anzufangen; aber sie mochte nicht recht, wollte geheiratet sein, drohte, die Versuche des Herrn der Frau 40 zu verraten. Der Reiche haßte sie daher, schenkte ihr ein wenig Aussteuer und gab sie aus Rache Wu Ta zur Gattin, ohne daß der etwas dafür zahlen mußte. Seit diesem Tag gehörte sie wohl Wu Ta, aber einige Nichtstuer und Lebemänner kamen, ihn zu belästigen, weil doch die Frau endlich den Körper und die Schönheit ihres Mannes erkennen mußte und einen solchen Däumling kaum auf die Dauer lieben konnte. Er war zu häßlich und nicht ein bißchen lustig; sie war nicht ihm treu, sondern jedem anderen. Wu Ta war ein zu schwacher Mann; Nichtstuer, Lebekerle blieben gern vor seiner Tür stehen, versuchten ihn zu hänseln, riefen, seine Frau auf ihre Art lobend: »Ein gutes Stück Hammelfleisch; nur schade, daß es in ein Hundemaul gefallen ist.« Die Straßenjungen schrien:

»Wer, wer ist der?
Der größte Zwerg – wer ist der?
Bohnenpuffer verkauft er,
Vor einem Heuschreck schrickt und lauft er,
Wu, Wu ist der kleinste Mann,
Ein Sperling ihn aufpicken kann.«

Darum konnte Wu Ta nicht in Tsching Hê wohnen bleiben, war nach Yang Gu gezogen. Täglich buk und verkaufte er Bohnenpuffer, und an diesem Tag stand er gerade mit seiner Ware vor dem Amt, verkaufte, und sah seinen Bruder. Er erzählte Wu Sung: »Bruder, ich habe damals auf der Straße viel gehört über einen Helden namens Wu, der den alten Tiger auf dem Tsching Yang erschlagen hat. Man hat ihn zum Offizier ernannt. Ich habe gedacht, daß du es 41 bist, und heute hab ich dich endlich zufällig getroffen und will nicht weiter verkaufen. Komm mit zu mir in mein Haus.«

Wu Sung fragte seinen Bruder: »Älterer Bruder, wo wohnst du jetzt?«

Der zeigte mit einem Finger in die Richtung: »Vorn in der Lilasteinstraße.«

Wu Sung trug für seinen Bruder den Träger mit den Töpfen, und Wu Ta führte ihn zu seinem Haus: Einige Straßen weiter kamen sie an einer Teestube vorbei. Wu Ta klopfte an die der Teestube zunächst gelegene Haustür, rief: »Öffne!«

Der Bambusvorhang wurde zurückgezogen, eine Frau kam heraus und murrte: »Na, ältester Bruder, warum kommst du schon wieder so früh nach Haus?«

Wu Ta: »Dein Schwager ist hier, komm, ich werde dich vorstellen!«

Er nahm seinem Bruder den Träger ab, trug die Ware nach hinten, dann kam er wieder herbei: »Jüngerer Bruder, komm ins Zimmer und begrüß deine Schwägerin.«

Wu Sung hob den Vorhang, trat ein. Drin sah er die Frau, und Wu Ta sagte: »Siehst du, der Held, der im Gebirge den Tiger getötet hat und dann zum Offizier ernannt wurde, ist mein Bruder.«

Die Frau bewillkommte ihn: Wu Sung bat sie, auf ihrem Platz sitzenzubleiben, kniete nieder, grüßte sie feierlich. Die Frau hob ihn hoch: »Schwager, ich bin jung und verdiene nicht so viel Ehre. Ich habe vor einiger Zeit von unserer Nachbarin, Frau Wang gehört, ein Tigertöter würde ins hiesige Amt 42 kommen. Sie wollte hingehen und mich mitnehmen, ihn anzusehen; aber leider sind wir zu spät gegangen, haben ihn nicht gesehen, und nun waren es gerade Sie! Bitte, Schwager, kommen Sie mit nach oben, dort können wir sitzen und plaudern.«

Als sie oben war, sagte Goldlotos ihrem Mann: »Ich werde dem Schwager Gesellschaft leisten, du kannst gehen, Essen und Wein zurechtmachen, gut unseren Gast zu bewirten.«

Ta: »Gut, jüngerer Bruder, sitz hier, ich komme gleich.«

Die Frau sah, wie heldenhaft Wu Sung dreinschaute, und dachte bei sich: Wu Sung und mein Mann sind von einer Mutter geboren, und doch ist er groß und tapfer. Wenn ich mit solch einem Mann verheiratet wäre, hätt ich nicht umsonst in dieser Welt gelebt. Wie sieht mein Mann aus! Halb wie ein Mensch und halb wie ein krepierter Teufel. Er ist wirklich mein Pech! Wu Sung hat den großen Tiger totgeschlagen, besitzt sehr viel Kraft. Ich habe gehört, daß er nicht verheiratet ist, warum kann er nicht bei uns wohnen? Vielleicht ist das etwas für mich!

Sie machte ein freundliches Gesicht: »Schwager, wie lang sind Sie schon hier?«

Wu Sung: »Schon über einen halben Monat.«

Goldlotos: »Wo wohnen Sie jetzt, Schwager?«

Sung: »Ich wohne vorübergehend noch im Yamen des Mandarins.«

»Schwager, da habt Ihr es sicher nicht bequem!«

»Ich bin allein und habe wenig Bedürfnisse. Morgens und abends bedienen mich die Soldaten.« 43

»Diese Lümmel können Schwager doch sicher nicht gut bedienen, warum ziehen Sie nicht hierher, zu uns? Morgens und abends, wenn Schwager essen will, kann ich es selbst bereiten, das ist doch besser, als wenn es von so schmutzigen Kerlen gemacht wird. Wenn Schwager bei uns auch nur ganz einfaches Essen bekommt, können Sie es doch immerhin in Ruhe genießen.«

»Ich danke Schwägerin bestens.«

»Vielleicht haben Sie noch irgendwo eine Schwägerin, die können Sie auch noch mit hierherbringen.«

»Ich bin noch nicht verheiratet!«

»Schwager, wie alt sind Sie?«

»Ich bin 25 Jahre alt.«

»Ach, Sie sind gerade drei Herbste älter als ich. Schwager, von woher kommen Sie jetzt?«

»Ich war ein Jahr in We Tschou und dachte oft an meinen Bruder, den ich noch in Tsching Hê glaubte; ich wußte nicht, daß er hier war.«

»Ich kann Ihnen nicht alles in zwei oder drei Sätzen erklären. Wu Ta ist zu weich. Seit ich mit ihm verheiratet bin, kamen oft schlechte Männer, uns beleidigen. Wir konnten dort nicht ruhig wohnen und sind hierher gezogen. Wenn auch er so stark und tapfer wäre wie Sie, Schwager, könnte niemand zu uns kommen, ein lautes Wort sprechen.«

»Mein Bruder ist dafür sehr anständig und niemals so ungezogen wie ich.«

Sie lachte: »Ach, was! Man sagt immer: Wenn der Mann keine Eisenknochen hat, kann er während des ganzen Lebens nie auf einem ruhigen Platz sitzen! 44 Ich bin ein Mensch mit heißem Blut, ich verstehe Wu Ta nicht, ich kann solche Leute nicht leiden, die sich immer von andern belästigen lassen.«

»Mein Bruder kann zwar nie jemand beleidigen, aber dafür hat auch Schwägerin nie Unannehmlichkeiten von ihm zu befürchten.«

Während sich beide oben so unterhielten, kam Wu Ta zurück, hatte Fleisch, Wein, Früchte geholt, in die Küche gestellt, rief: »Willst du in die Küche kommen, das Essen zurechtmachen?«

Die Frau: »Du hast kein bißchen Verständnis! Schwager ist doch hier, wie kann ich da einfach so fortgehen und ihn allein sitzenlassen.«

Wu Sung: »Schwägerin, machen Sie es sich, bitte, nur bequem.«

Die Frau: »Warum gehst du nicht zur Nachbarin, zur Frau Wang, und läßt sie alles bereiten, warum kommst du nicht von selbst darauf?«

Wu Ta mußte fortgehen und Frau Wang bitten, ihm zu helfen. Die machte alles zurecht, und er trug es hinauf.

Das Essen war sehr gut, sie wärmten Wein; Wu Ta ließ seine Frau auf dem Wirtsplatz sitzen, der Bruder saß der Frau gegenüber auf dem Gastplatz, er selbst saß bescheiden an einer Seite. Wu Ta schenkte alle Becher voll Wein, die Frau hob ihren Becher: »Schwager, denken Sie nicht, daß wir Sie schlecht bewirten, sondern trinken Sie, bitte, lieber einen Becher Wein.«

Wu Sung dankte: »Schwägerin, Sie brauchen nicht so höflich mit mir zu sein.« 45

Wu Ta mußte immer in die Küche gehen, Wein wärmen, Gemüse holen, hatte gar keine Zeit, mit seinem Bruder zu sprechen. Die Frau lächelte so süß wie möglich: »Schwager, warum essen Sie kein Fleisch, keinen Fisch?«

Sie suchte ein gutes Stück aus und gab es ihm. Wu Sung hatte einen geraden Charakter, war ein anständiger Mensch, nahm an, sie sei eine brave Schwägerin. Er wußte nicht, daß die schlaue Frau früher ein leichtlebiges Mädchen gewesen war und es verstand, mit Kleinigkeiten die Leute zu blenden. Wu Ta war dumm und weich und ungeübt, Gäste zu bewirten. Sie hatte einige Becher Wein getrunken – ihre Augen hafteten immer mehr auf Wu Sungs Gestalt und Gesicht. Wu Sung merkte das endlich, konnt es nicht leiden, senkte seinen Kopf und tat, als ahne er nichts. Er trank stumm zehn Becher Wein in sich hinein, stand auf und wollte gehen; aber Wu Ta nötigte: »Bruder, trink noch einige Becher, dann kannst du gehen.«

Wu Sung: »Für heut ist es genug, ich werde sehr oft kommen, dich besuchen.«

Das Ehepaar begleitete ihn zur Tür, Goldlotos drängte: »Schwager, Sie müssen zu uns ziehen. Wenn Sie es nicht tun, werden die Leute uns auslachen. Ihr seid Brüder von einer Mutter, also! Mein Mann wird für Sie ein Zimmer zurechtmachen. Bitte, Schwager, ziehen Sie bald zu uns und lassen Sie unsere Nachbarn nicht argwöhnen, wir wollten einen so guten Bruder nicht bei uns wohnen lassen.« 46

Wu Ta: »Deine Schwägerin hat recht. Bring deine Sachen zu uns!«

Wu Sung: »Wenn Bruder und Schwägerin so darauf bestehen, werd ich meine Sachen gleich heut abend herbringen.«

Die Frau: »Schwager, Sie dürfen es aber ja nicht vergessen, ich werd auf Sie warten.«

Er nahm Abschied, verließ die Lilasteinstraße, ging ins Amt, Der Mandarin hatte Sitzung, Wu Sung ließ sich bei ihm melden – er habe hier im Ort einen Bruder in der Lilasteinstraße, bei dem er wohnen könnte. Ob es genüge, wenn er morgens und nachmittags ins Amt komme, Dienst zu tun? Er wolle nicht so ohne weiteres fortziehen, sondern erst um Erlaubnis fragen.

Der Mandarin: »Es ist schön von Ihnen, daß Sie zu Ihrem Bruder ziehen wollen. Ich brauche Sie über Nacht nicht, Sie können tagsüber hier sein, dann sind Sie frei.«

Wu dankte, packte seine Sachen, seine neuen Kleider, Uniformen und alles, was ihm die Leute geschenkt hatten, nahm einen Soldaten, der ihm die Pakete trug, und ging mit ihm in die Lilasteinstraße. Als die Frau ihn kommen sah, war es für sie, als ob sie mitten in der Nacht einen Goldschatz gefunden hätte: so freute sie sich! Wu Ta hatte einen Zimmermann kommen lassen und alles zurechtgemacht: Bett, Tisch, Stühle und Ofen aufstellen lassen. Wu Sung packte aus, schickte den Soldaten fort. Er blieb bei seinem Bruder und seiner Schwägerin.

Am andern Morgen stand sie frühzeitig auf, wärmte 47 Wasser für Wu Sung zum Waschen, Mundspülen. Als er damit fertig war, zog er seine Amtstracht an und wollte gleich fort.

Die Frau: »Schwager, kommen Sie zeitig nach Haus zum Essen, dann brauchen Sie nicht woanders Geld ausgeben.«

Wu: »Ja, ich komme bald zurück.«

Er ging ins Amt, verrichtete die laufenden Arbeiten, dann ging er schnurstracks in die Lilasteinstraße. Goldlotos hatte ihre Hände sorgfältig gewaschen, die Nägel andächtig geputzt, sich schön angezogen und ein gutes Essen zurechtgemacht. Die zwei Brüder und die Frau saßen an einem Tisch und aßen. Sie nahm eine Tasse Tee mit beiden Händen und reichte sie Wu Sung. Der sagte: »Sie brauchen mich nicht so bedienen, sonst hab ich keine Ruh. Morgen werd ich vom Amt einen Soldaten herbringen, uns ein wenig behilflich zu sein.«

Sie: »Schwager, tun Sie, bitte, bei uns nicht wie ein Fremder. Wir sind Verwandte, und schließlich habe ich meinen Schwager bedient. Wenn Sie einen Soldaten herschicken wollen, mir zu helfen – diese Leute können die Küche nicht sauber halten, auch kann ich gemeine Soldaten nicht ausstehn.«

Wu Sung: »Wenn es so ist, wird Schwägerin viel Arbeit und Plage haben.«

Kaum daß Wu Sung zu seinem Bruder gezogen war, gab er ihm Geld und ließ ihn viel einkaufen, die Nachbarn würdig zum Tee einzuladen. Alle Nachbarn brachten Wu Sung Geschenke, mit ihm Freundschaft zu schließen. Wu Ta bewirtete die Nachbarn zur 48 Vergeltung sehr gut. Wenige Tage später schenkte Wu Sung seiner Schwägerin verschiedenfarbige Seide, damit sie sich schöne Kleider machen könne. Sie freute sich, lachte: »Schwager, wie kann ich so vornehme Sachen haben? Aber Schwager hat es geschenkt, so kann ich es nicht abschlagen und muß es nehmen.«

Wu Sung übernachtete immer in seines Bruders Haus, und Wu Ta brach täglich auf, seine Bohnenpuffer zu verkaufen. Wu Sung ging regelmäßig ins Amt und tat fleißig seinen Dienst. Ob er früh oder spät nach Hause kam, die Frau bereitete ihm stets gutes Essen, säuberte alles, machte immer ein freundliches Gesicht, behandelte und bediente ihn zuvorkommend. Wu Sung fühlte sich manchmal durch die allzu gute Behandlung seitens seiner Schwägerin beunruhigt. Sie kam immer honigsüß herbei, endlich den innigsten Anschluß zu finden; aber Wu Sung hatte ein hartes Herz und ein gerades Gemüt, tat, als merke er ihre zarten Versuche nicht. Die Zeit verging schnell wie ein Wind, schon war ein Monat verstrichen, seit Wu Sung bei Bruder und Schwägerin wohnte.

Es war zwölften Monats Wetter, der Nordwind blies kühl, der Himmel war von schwarzen Wolken bedeckt, bis Schnee fiel. Am Morgen mußte Wu Sung ins Amt gehn und kehrte bis Mittag nicht zurück. Es war bitter kalt; aber trotzdem jagte die Frau Wu Ta aus dem Haus, sein Geschäft zu betreiben. Sie ging zu ihrer Nachbarin, Frau Wang, und bat die, für sie das beste Fleisch und den stärksten Wein zu kaufen. 49 Dann ging sie in Wu Sungs Zimmer, heizte den Ofen gewaltig, und ihr Körper freute sich bei dem Gedanken: Heut werd ich versuchen, mit Sung Spaß zu machen. Ich hoff, er wird darauf eingehn. Sie stellte sich, dem Tigertöter auflauernd, hinter den Bambusvorhang und erwartete ihn in der eisigen Kälte. Bald sah sie ihn über den Schnee näher kommen. Sie hob den Vorhang für ihn hoch, mit lachendem Gesicht rief sie ihm zu: »Schwager, war es zu kalt?«

Wu Sung: »Ich danke meiner Schwägerin für ihre so liebevolle Bemühung.«

Er ging ins Haus, nahm vom Kopf seinen Filzteller ab – sie wollte ihn gleich mit beiden Händen vom Schnee befreien.

»Ich werde Schwägerin doch nicht so viel Mühe machen.«

Fegte selbst den Schnee fort, hängte den Hut an die Wand, schnallte Gürtel und Tasche ab, zog den grünen, rohseidenen Mantel aus, ging ins Zimmer und hängte ihn über dem Ständer zum Trocknen auf.

Die Frau: »Ich habe den ganzen Morgen gewartet, warum kam Schwager nicht zum Mittagessen?«

»Eben traf ich im Amt einen Bekannten, der wollte mich zum Essen einladen; er hatte noch einen Freund. Sie wollten mich bewirten. Ich mocht es aber nicht annehmen, deswegen kam ich sofort nach Haus.«

»Ach so! Schwager, kommen Sie doch etwas näher ans Feuer, sich wärmen.«

Er zog seine geölten Stiefel aus, wechselte seine Socken, zog warme Hausschuhe an, rückte einen 50 Stuhl näher ans Feuer, setzte sich zu Goldlotos an den Ofen. Die Frau hatte mittlerweile vorn die Tür geschlossen und schob vor die hintere Tür den Riegel. Sie brachte Früchte, Wein, Gemüse in Wu Sungs Zimmer, stellte auf einem Tisch alles zurecht.

»Wo ist mein Bruder? Warum ist er noch immer nicht zurück?«

»Bruder geht täglich aus, seine Bohnenpuffer verkaufen – inzwischen will ich mit Schwager einige Becher Wein trinken.«

»Warten wir doch, bitte, bis er zurückkommt, dann können wir zusammen essen und trinken.«

»Wer weiß, wann der nach Haus kommt! Wir können nicht so lang auf ihn warten.« Nahm eine Flasche warmen Wein vom Ofen und stellte sie auf den Tisch nebenan.

»Bitte, Schwägerin, setzen Sie sich, ich werde den Wein heiß machen.«

»Wie Sie wollen, Schwager.« Nahm einen Stuhl und setzte sich in die Nähe des Feuers. Daneben stand der gedeckte Tisch, sie füllte einen Becher: »Schwager, hier! trinken Sie den Becher ganz aus!« Sie schaute Wu Sung voll an, er nahm den Becher, dankte ihr, leerte den Wein auf einen Zug. Sie füllte wieder: »Das Wetter ist heute so kalt, Schwager, trinken Sie noch einen, dann ist es ein Paar.«

»Bitte, Schwägerin, bemühen Sie sich nicht!«

Er trank, dachte bei sich: Wie sie mich bedient! Füllte auch einen Becher und bot ihn ihr an. Sie trank und stellte noch warmen Wein vor Wu Sung hin. Ihr Kleid öffnete sie unmerklich, bis die Brüste 51 schimmerten. Das Haar zog sie in die Stirn und hinters Ohr, sah verliebt drein. Sie lachte ohne Grund, schielte auf Sung: »Ich habe von jemand gehört, daß Schwager in der Oststraße, bequem in der Nähe des Amts, eine Sängerin als Geliebte wohnen hat. Ist das wahr?« Der ernste Wu erstaunte: »Schwägerin, Sie brauchen nicht auf das Geschwätz dummer Leute zu hören, ich bin kein Mann, der auf Frauen aus ist.«

Sie lachte, verzog ihren Mund ein wenig: »Das glaub ich nicht, vielleicht, Schwager, sprechen Sie so mit Ihrem Mund, aber in Ihrem Herzen schaut es anders aus.«

Wu: »Schwägerin, wenn Sie es nicht glauben wollen, bitte, fragen Sie meinen Bruder, wie ich früher war, so bin ich jetzt noch!«

Sie trank während seiner Rede Wein, lachte: »Pah! Was weiß er! Wenn er solche Sachen wüßte, wär er kein Bohnenpufferverkäufer mehr. Schwager, bitte, trinken Sie noch einen Becher Wein.«

Sie bediente ihn immer – doch Wu Sung konnte noch viel, viel mehr vertragen; sie aber hatte drei Becher getrunken und vermochte sich schon nicht mehr zurückzuhalten. Sie ward immer heiterer und aufgeräumter und wollte ihr Verlangen nicht mehr unterdrücken. Sie erzählte dies und jenes, dehnte sich und machte dabei so merkwürdige Bewegungen – wär er ein unanständiger Mensch gewesen, hätte schon etwas geschehen müssen. Wu Sung war ein schlichter Mensch; aber zu fünfzig Prozent hatte er schon begriffen. Er hängte seinen Kopf tiefer und tat, als sähe er nichts. Sie merkte, daß der Wein alle 52 war und der Mann noch nicht bereit: ging hinaus, frischen Wein wärmen. Wu Sung blieb allein im Zimmer, nahm zwei eiserne Stäbchen und schürte damit mechanisch das Feuer. Die Frau hatte mittlerweile den Wein in der Flasche gewärmt, kam wieder, streichelte zärtlich Wus Schulter: »Schwager, warum ziehst du dich so dünn an, hast du keine Angst vor der Kälte?«

Wu Sung war schon weit über siebzig Prozent mit ihr unzufrieden, antwortete nicht. Sie sah, daß er schwieg, zog aus seiner Hand die Feuerstäbchen: »Schwager, du wirst allein nicht mit dem Ofen fertig, ich werd ein wenig für Feuer sorgen.«

Wu Sung hatte schon über neunzig Prozent heißes Blut – sprach vor Wut nicht mehr. Sie fühlte unten im Herzen große Sehnsucht, beachtete nicht, wie Wu Sung ihre Versuche aufnahm, legte die unnützen Stäbchen beiseite, füllte einen Becher mit Wein und nippte zierlich daran. Weit mehr als die Hälfte ließ sie drin, schmachtete Wu Sung rettungslos mit halbgeschlossenen Augen an, rückte noch mehr in seine Nähe und stöhnte: »Wenn du ein wenig Herz für mich hast, trinkst du meinen Becher aus.«

Wu Sung packte wütend den Becher, warf ihn zur Erde: »Schwägerin, wie können Sie so unverschämt sein!

Mit der andern Hand stieß er sie von sich, daß sie fast zur Erde fiel. Seine Augen rollten groß, er schrie: »Wu Sung ist ein Held, der in der ganzen Welt als ehrlicher Mensch berühmt ist! Wie können Sie ihn für einen Wüstling aus Tsching Hê halten?! Frau 53 Schwägerin, Sie dürfen nie wieder so unverschämt sein! Wenn ich draußen von den andern Leuten je so was höre – den Tigertöter kennt seine Schwägerin, aber seine Fäuste kennt sie nicht! Sie brauchen solche Sachen nie wieder zu versuchen!«

Der Frau stieg die Röte ins Gesicht, sie rückte ihren Stuhl fort, sprach ganz leise, wie zu sich selbst: »Ich mach doch nur Spaß, das kann man doch nicht gleich so ernst nehmen und aufbrausen! Wir sind doch nahe Verwandte und brauchen nicht wie Fremde zu tun. Diese wilden Männer kann man nicht verstehen.« Sie räumte niedergeschlagen die Sachen vom Tisch und schleppte ihre Enttäuschung in die Küche. Wu Sung ärgerte sich, Trauer sank über ihn in seinem Zimmer.

Nicht lange nachher, Schnee fiel, Schnee fiel, es wurde noch kälter, kam Wu Ta verfroren mit seinem Kuchenkram vor das Haus und klopfte. Sie öffnete hastig die Tür, stellte seine Sachen beiseite – lief in die Küche, sich wärmen. Er sah: seine Frau hatte vom Weinen rote Augen: »Was ist – wer hat mit dir gezankt – warum weinst du?«

Sie tat gekränkt, füllte ihre Augen gut mit Tränen und schluchzte: »Weil du ein Waschlappen bist – mich nicht ein bißchen schützen magst – du läßt alle Leute mich beleidigen!«

Wu Ta: »Aber wer kann denn hierherkommen, dich beleidigen!«

Sie heulte: »Du weißt doch, wer einzig und allein hierherkommen kann, mir die Laune zu verderben! 54 Das ist nur dein Bruder! Es schneite stark, aus der grimmigsten Kälte fiel er plötzlich ins Haus, da hab ich ihm schnell Wein gewärmt und bat ihn, zu essen und zu trinken. Das war doch von mir nicht schlecht gemeint? Aber als er sah, daß du nicht zu Haus warst und ich allein – fing er mit mir an. Zuerst nur mit Worten und Anspielungen, dann wollt er mich berühren!«

Wu Ta wartete gar nicht, bis sie zu Ende gesprochen hatte: »Das kann nicht sein! Mein Bruder ist ein anderer Mensch, er ist gerade, ehrlich und denkt gar nicht an solche Sachen. Vielleicht hast du ihn mißverstanden?! Jedenfalls mußt du nicht absichtlich so laut weinen und heulen – wenn die Nachbarn etwas hören, werden sie alles erzählen – die Stadt wird uns auslachen!«

Er verließ seine Frau, ging nach oben in seines Bruders Zimmer: »Jüngerer Bruder, wenn du noch nicht gegessen hast, werd ich mit dir zusammen essen. Warum sitzt du hier allein und bläst im Winter auch noch Trübsal?«

Wu Sung antwortete nicht, überlegte eine Weile, zog die Seidenstrümpfe aus, die Wintersocken an, zog seine geölten Schuhe wieder an, hängte einen warmen Mantel um, setzte den Filzhut auf, Tasche und Gürtel hing er um, ging hinaus. Wu Ta sah das, rief: »Sung, wo willst du hin?«

Wu Sung gab keine Antwort, schweigend ging er ins Amt. Wu Ta wußte nicht, was geschehen war, eilte wieder in die Küche: »Ich habe mit ihm gesprochen, aber er gab keine Antwort. Als er fortging, fragte 55 ich ihn, was ihm fehle, aber er achtete gar nicht drauf, sondern lief auf und davon. Was ist los?«

Die Frau merkte, daß Wu Ta gegen seinen Bruder nie in Worten, noch in Taten energisch auftreten würde, ärgerte sich darüber, schimpfte: »Du bist ein so dummer Kerl, das ist doch sehr leicht zu verstehen! Er hat es mit mir versucht, in jeder Form, mit dem Wort und mit zärtlich tuender Hand – und es ist ihm nicht gelungen. Da hat er sich wohl geschämt und hat nun vor Scham kein Gesicht mehr, mit dir zu sprechen, deswegen ist er fortgeschlichen! Ich verbiete dir, den Kerl bei uns noch übernachten zu lassen, er darf uns nicht mehr besuchen – zwischen ihm und mir ist von nun an für immer ein Bambusvorhang.«

Ta verzog das Gesicht: »Wenn er von uns fortzieht, werden die andern Leute über uns lachen.«

Sie schimpfte weiter: »Ihr seid beide nicht richtig erzogen worden, ihr seid aus einer sauberen Familie. Immer nimmt einer des anderen Partei! Er wollte bei mir Freude suchen – wenn das die Leute wüßten, würden sie uns erst recht auslachen! Wenn du deinen Bruder so gut leiden kannst, kannst du ja mit ihm zusammenleben, ich bin rein – stolz auf meine Keuschheit und kann mit einem solchen Unmenschen nicht zusammenwohnen! Soll er die Tigerinnen durch seine Umarmungen töten! Einen Scheidungsbrief gib mir, dann kannst du ihn hierbehalten!«

Wu Ta war nicht sehr klug, ahnte nichts, getraute sich nicht, seinen Mund noch einmal zu öffnen. Aber die Frau befriedigte sich durch Weiterschimpfen – 56 so laut, daß es für ihn sehr unangenehm wurde. Sie waren beide in der Küche und sahen Wu Sung samt einem Soldaten mit Träger und Leine hereinkommen und nach oben in sein Zimmer gehen. Sung packte seine Sachen und wollte gleich fort. Ta lief ihm vergebens nach und rief: »Sung, was willst du wegen einer Kleinigkeit so ein Aufsehn machen, du brauchst doch nicht gleich fortziehn!«

Wu Sung: »Bruder, du sollst nicht weiter fragen! Wenn ich dir alles erzählen würde, fändest du das Leben sehr unangenehm, so will ich lieber nichts mehr sagen, bitte, laß mich gehn und schweigen.«

Wu Ta sah, daß es seinem Bruder mit dem Fortgehen Ernst war – auf der andern Seite wieder seine Frau mit ihm zanken wollte. Er war ein Mensch, halb und halb, der sich nicht rasch entscheiden konnte, fand kein Wort, ließ den Bruder gehen, schlich wieder ins Zimmer, guckte mechanisch aus dem Fenster. Der Schnee lag hoch, es sah aus wie in einer Silberwelt, so ruhig und friedlich; aber ihn stimmte alles sehr traurig. Er dachte: Ein Grab unter dem Winterschnee wäre schön. Seine Frau saß in der Küche und sprach ärgerlich, wie zu sich: »Das ist gut! Die Leute sagen, wenn ein junger Bruder Offizier geworden ist, kann er seinen alten Bruder leicht ernähren; uns schneite das Gegenteil! Es ist wie ein schönes Kissen: außen gemalt und gestickt, und drinnen ist alles Stroh und Dreck! Er ist endlich von uns fortgezogen, ich werde Himmel und Erde dafür danken! Hauptsache: mein Feind ist nicht mehr vor meinen Augen!«

Wu Ta hörte die Rede seiner Frau, und sie gefiel ihm 57 nicht; aber als Schwächling konnte er nichts dagegen tun: so legte er sich schlafen. Wu Sung übernachtete wieder im Yamen. Wu Ta verkaufte seine Bohnenpuffer stets in der Nähe des Amts und wollte immer zu ihm gehen, ihn besuchen – aber seine Frau hatte es ihm strengstens verboten, deshalb sahen die Brüder einander nie.

Die Zeit verging schnell, es vergeht auch der größte Schneefall; das Wetter war schön und der Schnee weg. Der junge Gouverneur Liang dachte eines klaren Tages bei sich: Seit ich zum Gouverneur dieser Gegend. ernannt wurde, sind schon zweieinhalb Jahre geschmolzen. Ich habe gut verdient und besitze viel Gold und Silber, ich könnte etwas meinem Schwiegervater, dem Reichskanzler, und meinen Verwandten, die in der Osthauptstadt sitzen, senden, damit sie sich gern zu meinen Gunsten für einen höheren Posten verwenden. Aber ich fürchte, meine wertvollen Geburtstagsgeschenke könnten unterwegs Räubern gefallen. Wenn ich nur den richtigen Vertrauensmann für eine so wichtige Sendung wüßte! Schon lange wart ich nur auf den glücklichen Tag, all die Geschenke fortzuschicken.

Eines Frühlingsmorgen saß er mit seiner Frau in der Halle, auch sie erinnerte ihn: »Wann soll endlich das Geschenk für meinen Vater abgeschickt werden? Sogar Reichskanzler lieben Geschenke! Wenn du einmal Reichskanzler werden willst, mußt du früh zu schenken beginnen!«

Er: »Alles ist bereit, übermorgen könnten wir es 58 fortsenden; aber nur über eine einzige Sache bin ich mir noch nicht klar!«

Sie: »Gibt es denn da noch etwas zu überlegen?«

Liang: »Im vorigen Jahr haben wir auch viel Schätze, Goldschmuck und Perlen gekauft und insgeheim zur Osthauptstadt geschickt. Aber wir hatten wohl nicht den richtigen Mann dafür, unterwegs ward alles gestohlen, geraubt. Bis jetzt haben wir noch nichts zurückbekommen. In diesem Jahr hab ich wieder dieselben Sorgen, und ich weiß nicht, ob es überhaupt den Helden gibt, den ich als meinen Aufseher und Vertrauensmann mitschicken könnte.«

Seine Frau wies mit dem kleinen Finger zur Treppe auf einen Mann: »Du hast dir von diesem Kerl viel versprochen, warum gibst du ihm nicht den Auftrag – läßt diesmal nicht ihn hingehen? Vielleicht werden wir dann gar keine Unannehmlichkeiten haben! Für einen Tigertöter müßten gewöhnliche Räuber ein Fressen sein.«

Liang rief Wu Sung zu sich in die Halle: »Ich hab in der Osthauptstadt einen wichtigen Verwandten wohnen, den Reichskanzler, und möcht ihm gern kleine Geschenke schicken, außerdem auch einen Brief, will mich nach seinem Befinden erkundigen. Nur eine Sache bedrückt mich: der Weg ist nicht leicht! Es muß ein Held wie Sie sein – dann kann ich es wagen, wertvolle Geschenke hinzusenden. Sie sollen die Sache, so mühevoll sie auch ist, nicht ablehnen. Wenn Sie wieder zurückkehren, werd ich Sie dementsprechend belohnen und Ihnen außerdem einen höheren Posten geben.« 59

Wu Sung: »Ich habe die Ehre, von Ihnen Ihres Vertrauens gewürdigt zu werden. Wie könnt ich so etwas ablehnen?! Ich bin auf dem Lande geboren. Was ich sah, war Acker und Arbeit. Mein Vater hat sich vor Hunger erhängt. Wann war ich in einer großen Stadt oder gar in der Hauptstadt?! Ich möchte diese Gelegenheit benützen, meine Augen zu öffnen. Herr Gouverneur, lassen Sie alles zurechtpacken, ich werde meinetwegen schon morgen für Sie gehen.«

Der Gouverneur freute sich und ließ ihm einige Becher Wein reichen.

Wu Sung verbeugte sich dankend: »Herrn Gouverneurs Befehl werd ich gern ausführen, ich weiß aber noch nicht – wann sollen die Sachen gepackt werden? Wann sollen wir abreisen?«

Liang: »Lassen Sie die Sachen in zehn Lastwagen packen und zehn tapfere Soldaten mitgehen. Auf jedem Wagen wird eine gelbe Fahne hängen mit der Inschrift: Geschenk für den Reichskanzler! Binnen drei Tagen müssen Sie abreisen.«

Wu Sung höflich: »Es ist nicht meine Absicht, nicht zu gehen, aber bitte, Herr Gouverneur, schicken Sie vielleicht doch jemand, der besser ist als ich.«

Liang: »Ich möchte Sie hochbringen, will extra einen Brief an den Reichskanzler schreiben, Sie werden dort eine besondere Belohnung bekommen, wie können Sie jetzt plötzlich nicht wollen?«

Wu Sung: »Herr Gouverneur, ich habe gehört, daß im letzten Jahr Ihr Geburtstagsgeschenk Räubern große Freude bereitete, Sie es bis jetzt leider noch nicht zurückbekommen haben. In diesem Jahr gibt 60 es unterwegs noch mehr Räuber als im vorigen. Von hier zur Osthauptstadt gibt es keinen Wasserweg, nur Land: hohe Berge, wilden Wald. Wir müssen vorbei am Amethystgebirge, Zweidrachengebirge, Pfirsichblumengebirge, Schirmdeckengebirge, Gelben Erdberg, Weißen Sandufer, an der Wildewolkenfurt und am Roten Tannenwald. Überall dort sitzen friedlich Räuber und warten auf Wanderer. Wenn die sehen, daß wir so viel Schätze artig für sie mitgebracht haben, wie können die Leute so auf den Kopf gefallen sein, uns nicht auszurauben?! Wenn etwas bekannt wird, haben wir die Sachen verloren, und unser Leben ist außerdem in Gefahr; deshalb will ich nicht blindlings hingehen.«

Liang: »Wenn die Sache so schlimm ist, schicken wir halt mehr Soldaten und Offiziere mit, die Sendung zu schützen!«

Wu Sung: »Wenn diese Windbläser von Soldaten träumen, daß Räuber kommen, beschmutzen sie sich im Schlaf.«

Liang ärgerte sich: »Wenn es so arg ist, wie Sie sagen, dann brauchen wir die Geschenke gar nicht erst fortzuschicken!«

Wu Sung: »Nur wenn Herr Gouverneur mir die ganze Anordnung überlassen, kann ich die Geschenke geleiten.«

Liang: »Ich geb Ihnen diesen Auftrag, das heißt doch, daß ich sehr viel Vertrauen zu Ihnen hab – ordnen Sie an, was Sie wollen!«

Wu Sung: »Wenn Sie mir das erlauben, brauchen wir keine Wagen, sondern packen alles in zwanzig 61 Traglasten wie gewöhnliche Waren, brauchen nur zehn kräftige Soldaten, als Packträger verkleidet; jeder hat eine Tragstange auf der Schulter mit zwei Paketen. Wir nehmen noch einen als Kaufmann verkleideten Menschen mit – niemand darf von der ganzen Sache etwas wissen. Wir wandern dann unauffällig zur Osthauptstadt, nur so können die Sachen halbwegs sicher sein.«

Liang: »Sie haben recht, ich werd im Geleitbrief Sie lobend erwähnen, Sie sollen eine Extrabelohnung und einen höheren Posten bekommen.«

Wu Sung dankte. Am selben Tage noch bekam er den Befehl, alle Pakete zurechtzumachen, die stärksten Soldaten auszusuchen und am nächsten Tag reisefertig zu sein. Als Sung fortging, sich bereit zu machen, kam Liang ihm nach: »Wu Sung, wann denken Sie abzureisen?«

Wu Sung: »Herr Gouverneur, wenn alle Sachen bereit sind, kann ich schon morgen Ihren Auftrag übernehmen und abreisen.«

Liang: »Die gnädige Frau hat noch zwei Pakete mit Geschenken an die Familie des Reichskanzlers – die müssen Sie auch mitnehmen! Ich hab Angst, daß Sie nicht so leicht Zutritt bei Hof finden und geb Ihnen den vertrauten Haushofmeister des Kanzlers und zwei Hofoffiziere mit!«

Wu: »Herr Gouverneur, dann kann ich nicht gehen!«

Liang wunderte sich: »Warum können Sie denn schon wieder nicht gehen?«

Wu Sung: »Für alle Geschenke hab ich allein die Verantwortung übernommen, alle Leute müssen auf 62 meinen Befehl hören, früh und spät marschieren, haltmachen oder weitergehen, wie ich es für richtig halte. Jetzt kommt ein feiner Obereunuch mit und zwei Hofoffizierspüppchen, der eine ist der Geheimschwätzer des Reichskanzlers, und die andern sind die Speichellecker der gnädigen Frau. Wenn unterwegs eine Meinungsverschiedenheit zwischen uns entsteht, hab ich keine Lust, mich mitten im Wald vor allen Räubern mit diesen Schranzen herumzuzanken. Wenn etwas verlorengeht, könnt ich dann nicht die Verantwortung tragen.«

Liang: »Aber das ist doch einfach – ich rufe die drei hierher und sag ihnen klipp und klar, daß sie unter Ihrem Befehl stehen.«

Wu Sung verbeugte sich: »Wenn es so ist und die Leute mir gehorchen, dann kann ich den Auftrag übernehmen. Wenn dennoch etwas passiert, hab ich allein Strafe zu leiden.«

Liang freute sich: »Sie haben alles richtig erfaßt und einen Weitblick bewiesen, der mich hoffen läßt, daß ich Sie nicht umsonst als Offizier eingereiht habe.«

Er rief den alten Haushofmeister und die zwei Offizierchen und gab ihnen öffentlich, vor Zeugen im Yamen zu verstehen:

»Offizier Wu Sung will mir zuliebe den Auftrag übernehmen, das Geburtstagsgeschenk sicher zu geleiten – zusammen zweiundzwanzig Pakete: Gold, Schmuck, Yade, Perlen, Briefe am Hof des Reichskanzlers richtig abzuliefern. Er trägt die Verantwortung für all dies allein. Ihr drei seid nur zu seinen Reisebegleitern bestimmt und habt nichts zu sagen. 63 Unterwegs früh aufstehen oder nachts rasten oder marschieren – alles ist seinem Befehl überlassen, ihr dürft euch nicht mit ihm zanken! Was immer auch meine Frau gesagt haben mag, ihr habt ihm zu gehorchen!«

Die drei stimmten zu. Am selben Tag übernahm Wu Sung den Auftrag. Am nächsten Morgen stand er früh auf, teilte die zweiundzwanzig Pakete in elf Traglasten, suchte dann elf kräftige Soldaten aus und kleidete sie als Packträger ein. Er selber trug einen kühlen Strohteller auf dem Kopf, einen schwarzen dünnen Seidenmantel, Schuhe aus Bastseide. An der Seite hing ein Dolch, in der Hand hielt er ein breites Schwert. Der alte Haushofmeister hatte sich als Kaufmann verkleidet, die beiden Hofoffiziere als Diener. Alle hatten Schwerter in der Hand, Wu Sung außerdem noch eine Peitsche. Liang übergab ihm den Brief im Yamen, alle aßen gut und hielten Abschied.

Am Abend, ehe Wu Sung abreiste, nahm er etwas Geld und verließ das Amt. Seinen Soldaten ließ er Fische, Wein, Fleisch und Gemüse kaufen, dann gingen sie nach der Lilasteinstraße, Wu Ta besuchen. Der war eben vom Bohnenpufferverkauf zurückgekommen, sah, daß Wu Sung vor der Tür stand, und ließ ihn ein. Wu Sung befahl seinem Soldaten, in der Küche alles zurechtzumachen. Goldlotos hatte die Hoffnung auf den Tigertöterfang noch nicht ganz aufgegeben, als sie sah, daß Sung Wein, Essen mitgebracht hatte – dachte sie bei sich: In diesem schönen Frühlingswetter kann er doch nicht allein bleiben. Vielleicht hat er an mich gedacht und kommt deshalb 64 wieder hierher zurück? Ich will ihm auf den Zahn fühlen! Sie ging nach oben, rieb ihr Gesicht mit Wasserpuder ein, kämmte ihr Haar über die Ohren und zog ein neues zartfarbiges Kleid an. Dann ging sie hinunter – er grüßte sie, sie grüßte ihn und klagte: »Schwager, wir wissen nicht, wann wir Sie beleidigt haben? Weshalb ließen Sie sich in den letzten Tagen nicht bei uns sehn? Mein Herz gab mir keine Ruh, ich schickte jeden Tag Ihren Bruder, Sie zu suchen und um Entschuldigung zu bitten; aber wenn er zurückkam, sagte er immer: ›Wieder nicht gefunden!‹ Heute sind wir sehr erfreut, daß Sie endlich wieder zu uns kommen. Warum mußten Sie denn auswärts wohnen und umsonst so viel gutes Geld ausgeben?«

Wu Sung: »Wu, der Zweitgeborene, hat etwas zu sagen, und kommt her, es dem Bruder und der Schwägerin zu erzählen.«

Sie: »Ach so! Wir gehen dann besser alle nach oben.«

Sie gingen hinauf, Wu Sung ließ seinen Bruder und seine Schwägerin auf dem besten Platz sitzen. Er nahm einen kleineren Stuhl und setzte sich gegenüber. Der Soldat deckte den Tisch und brachte Wein, Fleisch, Gemüse. Sung bot seiner Schwägerin und dem Bruder Wein an, Goldlotos blinzelte mit einem Aug Wu Sung immer an, der machte sich aber gar nichts daraus – trank ruhig seinen Wein. Schon fünfmal war der Wein rundherum gegangen, da stand Wu Sung auf, nahm einen leeren Becher zur Hand, füllte ihn umständlich mit Wein, blickte fest seinen Bruder an: 65

»Älterer Bruder, hör genau zu! Heute hat Wu Sung vom Gouverneur einen wichtigen Auftrag erhalten: er muß zur Osthauptstadt. Morgen reis ich. Hin und zurück wird längstens zwei Monate, mindestens einundvierzig bis fünfzig Tage dauern. Ich hab etwas – was ich dir sagen möchte. Du bist als Mann zu anständig und zu schwach. Wenn ich nicht hier bin, fürcht ich, daß dich andere Leute beleidigen oder betrügen. Nehmen wir an, du verkaufst jetzt täglich zehnmal gebratenen Bohnenpuffer – von morgen ab verkaufst du nur die Hälfte! Jeden Tag gehst du spät fort und kommst möglichst früh nach Hause. Du brauchst nicht mit fremden Leuten zusammen Wein zu trinken. Sobald du nach Hause kommst, zieh den Bambusvorhang runter und schließ die Tür, dann sparst du dir viel Ärger. Wenn dich jemand betrügt oder beleidigt, sollst du mit ihm nicht gleich zu streiten anfangen. Warte ruhig, bis ich zurück bin – ich werde mit denen dann schon für dich sprechen und zart abrechnen. Wenn du auf mein Wort hörst, trinkst du den ganzen Becher aus!«

Wu Ta nahm den Becher: »Bruder, du hast recht, ich werd alles nach deinem Wunsch tun.«

Er leerte den Becher. Wu Sung füllte einen zweiten Becher, wandte sich zu Goldlotos: »Schwägerin, Sie sind eine vornehme Dame mit gutem Auffassungsvermögen. Ich brauch Ihnen nicht mehr viel zu sagen. Mein Bruder ist ein anständiger Mensch, Sie müssen bei jeder Gelegenheit an ihn denken. Die Leute sagen immer: ›Draußen stark, ist nicht so gut wie drinnen!‹ Wenn Schwägerin auf sich achtet, spart 66 mein Bruder viel Verdruß. Haben Sie nicht das alte Sprichwort gehört: Wenn das Gitter widerstandsfähig ist, können die wilden Hunde nicht herein?«

Die vornehme Dame hatte verstanden, was Wu Sungs Sprache bedeutete – vom Ohr an wurde ihr Gesicht dick und blau. Mit einem Finger zeigte sie auf ihren Mann und keifte: »Du bist schmutzig und dumm! Hast wieder von fremden Leuten Lügen gehört und möchtest deine Großmutter beleidigen! Ich bin ein Mensch, der keinen Männerhut trägt, nur eine Frau mit Ohrringen. Aber auf meiner Hand kann man stehen, auf meinem Arm können die Pferde rennen. Ich bin keine Frau, die sich schlagen läßt und dabei keinen Ton von sich gibt. Seit ich mit dieser Kornhülse verheiratet bin, ist keine Ameise in mein Haus gekommen, geschweige denn ein wilder Hund. Niemand kann mir nachsagen, daß das Gitter nicht widerstandsfähig ist oder der Hund hereinkommen kann. In Ihren sonderbaren Reden muß aber doch jedes Wort einen Grund haben. Es heißt: Genau so wie der Dachstein heruntergefallen ist, liegt jedes Stück auf der Erde!«

Sung schaute sie groß an, lachte: »Wenn Schwägerin so spricht, ist es ausgezeichnet; aber Mund und Herz müssen gleiches denken, nicht der Mund so reden und das Herz ganz anders fühlen! Was Sie zu mir sprechen, hab ich gut behalten, bitte, trinken Sie zum Beweis, daß Sie es aufrichtig meinen, diesen Becher aus!«

Die Frau schob den Weinbecher mit der Hand zurück – stand auf – lief schnell hinunter. Mitten 67 auf der Treppe sprach sie ganz laut, damit alle und noch einige es hörten: »Sie sind schlau und klug, haben aber niemals gehört, daß die älteste Schwägerin denselben Wert hat wie die Mutter. Als ich mich damals mit diesem Wu Ta verheiratete, hab ich nicht gehört, daß es noch so einen Schwager gibt. Von wo kommt so einer plötzlich dahergelaufen?! Ob so einer verwandt ist oder nicht –mir ist es gleich; aber die alte Großmutter hat wieder Pech gehabt und große Frechheiten zu hören bekommen!«

Sie ging nach unten und weinte möglichst laut – zum Beweis ihrer Reinheit und Unschuld.

Die Brüder Wu saßen und tranken noch einen Becher Wein, dann nahm Sung Abschied, und Ta sagte: »Gehst du jetzt, mein Bruder? Hoffentlich kommst du bald zurück? Dann können wir einer den andern wiedersehen!«

Während er sprach, rannen ihm die bitteren Tränen aus den Augen. Wu Sung sah das und stöhnte: »Bruder, du sollst dich nicht mehr mit deinen Bohnenpuffern abquälen. Verkaufe nichts! Bleib zu Haus! Geld für die zwei Monate werd ich dir durch wen herschicken!«

Wu Ta begleitete seinen Bruder von oben nach unten, vor dem Bambusvorhang sagte Wu Sung zu ihm:

»Älterer Bruder, meine Worte darfst du niemals vergessen!« 68

 


 << zurück weiter >>