Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Stehend lehn ich am hohen Geländer, atme Abendluft ein; herrlicher Wind weht den Duft der weißen Wasserlilie herbei, man sieht nur das eine Horn des wachsenden Mondes. Die Menschen sagen, abends vereinen sich die Götter; im Himmel kommen die Schönheiten zu bestimmten Zeiten zusammen und vermählen sich – warum sollte der Mensch in Einsamkeit ausharren und Kälte erdulden? Wer die Zeit der Lust und Freude erlebt, soll Lust und Freude genießen; nichts hemmt uns, nach einer Perle zu streben, eine duftende Blume zu rauben! Wenn es möglich ist, daß ein Paar das ganze Erdendasein in Eintracht verlebt – warum der heimlichen Liebe heimliches Fest hindern?
Seit den ältesten Zeiten hat es Liebende gegeben, die hartnäckig ihres Herzens Wünsche verfolgten; man muß nur festen Sinnes, mit endloser Geduld die vollkommene Vereinigung erwarten; selbst Berge und Flüsse, die doch keine Liebe fühlen, werden endlich vereint; wer mit Innigkeit liebt, denkt nie, daß er jemals vergessen werden könne. Wir wünschen, die Liebe möge mit der Zeit ins unendliche wachsen, aber man hüte sich – sie kann unterwegs aufhören und zugrunde gehen. 252
Ich hab einst von einer wunderbaren Liebe gehört, deren heiße Leidenschaft dem Himmel und dem Meer an Fülle zu vergleichen war. Wenn ich diese herrliche Liebe nicht schildern wollte, wer würde sie kennen? Ich will von ihr erzählen, auf daß auch die künftigen Menschen sie bewundern mögen.
Im Bezirk Wukiang der Provinz Sutscheufu lebte ein junger Mann mit Namen Liang; sein Vater, mit dem Ehrennamen Jinpo, war ein Staatsmann, und seine Mutter, eine geborene Tschiao, edel und gut. Wie ein Wildgänserich wandelte der Jüngling einsam und allein: er hatte keinen Bruder. Sein Kindername war Fangtscheu und sein Ehrenname Jitsang; seine Gestalt glich dem Frühlingsgrün, vom Mondschein überstrahlt, seine Talente waren wie der Glanz der frischen Seide oder der leuchtenden Wolke, er war geistreich und liebenswürdig. Schon in seinem achtzehnten Jahr erhielt er die erste literarische Würde; nun träumte er, den höchsten Gelehrtenrang vor dem Kaiser zu erringen.
1
Abschied von der Mutter
Liang, müde der Einsamkeit am Fenster seines Studierzimmers, erhob sich, schritt in den Garten, Blumen zu suchen. Die lieblichen Vögel springen dem Gast von den Zweigen entgegen, singen ihn an; die Blumen senden ihm in sanften Wolken ihre 253 Wohlgerüche zu. Die Blüten der Pfirsiche treiben im strömenden Bach, geleiten den sehnsüchtig wandelnden Jüngling; viel Blumen liegen verwelkt auf der Erde – der Frühling ist vergangen.
›Wer sich der Lust und Freude nicht hingibt‹, schalt er sich selbst, ›verbringt sein Leben umsonst; wenige nur erreichen das Glück der treuen Vögel Jin und Jang, die traulich miteinander kosend an des Teiches Ufern schwärmen. Wenn man sich so von ganzem Herzen liebt, wie schön ist das Leben! Bedenk ich, daß ich achtzehn Frühlinge umsonst zugebracht hab, wie könnt ich das ganze Leben hindurch einsam bleiben?! Soll ich wohl warten, bis ich die Kunst zu lieben in Büchern gelernt hab? – In Tschangtscheu soll es viel liebliche Jungfrauen geben. Ich wünsch mir, dort zu leben – vielleicht wird die Freude den Wünschen des Herzens folgen.‹
Eilends stieg er in den Saal, der alten Mutter seine Wünsche mitzuteilen. »In unserm Dorf bin ich ohne Freunde; aber schwer ist's, sich ohne Genossen den Wissenschaften zu widmen. In Tschangtscheu könnte mir ein treuer Gefährte die große Einsamkeit ausfüllen. Ich sehne mich, einen weisen Mann aufzusuchen, mit dem ich mich beraten könnte; deshalb bitt ich meine gütige Mutter, mir mein Reisegepäck vorbereiten zu lassen.«
»Hör, mein Sohn, in der Stadt lebt deine Tante Tschiao, an die ich jeden Morgen und jeden Abend dachte, seit ich von ihr getrennt wurde. Morgen ist gerad ihr Geburtstag; wähl passende Geschenke aus und geh hin, ihr Glück zu wünschen. In ihrem Haus 254 kannst du verweilen und deine Studien fortsetzen; dort kannst du dich bemühen, einen Gefährten zu finden, mit ihm vereint dich den Wissenschaften widmen. Die Zeit der Lorbeerkränze ist nicht mehr fern; ich hoffe, mein Sohn, daß du in der herbstlichen Prüfung den Ruhm deiner Ahnen bewahren wirst. Ich bedauere, daß dein Vater so weit von hier entfernt ist und ich die Familienangelegenheiten jetzt allein besorgen muß. Komm so schnell wie möglich zurück und schreib deiner alten Mutter, damit sie dich am Tor erwarten kann.«
Der Jüngling verbeugte sich schnell vor ihr und verließ sie. Diener gingen in sein Zimmer, ihm das Reisebündel zu packen; mit Geschenken für die Tante eilte er an den Fluß Tschang.
2
Geburtstagsfest im Haus Tschiao
Schnell rief er den Schiffern zu, die Taue einzuziehen. Wie ein Blatt schwamm der Nachen auf den dunkeln Wellen dahin; der Ruder Plätschern drang an die Wolken und tönte als Echo wider; er aber vergaß zu beachten, wie ein vorbedeutungsvoller Vogel hin und her flatterte.
Endlich landete das Boot in Sutscheu. Der Jüngling wanderte in die Stadt, sein junger Diener eilte rasch voraus, ihn anzumelden.
Sobald der Jüngling seine Tante erblickte, verbeugte er sich schnell und tief vor ihr: »Meine Mutter hat 255 mir aufgetragen, Ihnen unsere Glückwünsche darzubringen; sie schickt Ihnen zugleich einige Kleinigkeiten zum Andenken, die obgleich geringen Wertes, doch für hohe Achtung zeugen mögen.«
Die Dame antwortete gerührt: »Ich hoffe, Ihre ehrwürdige Mutter erfreut sich allen Glückes, und auch mein edler Schwager genießt alles Wohlsein in der Hauptstadt Jenking? Daß Sie sich dem Studium widmen, freut mich unendlich, schon weil der Palast des Monds sehr bald seine duftenden Lorbeerzweige verteilt. Ich dank Ihnen tausendmal für ihre vielen herrlichen Geschenke.«
Liang: »Ihr Lob beschämt mich – sollte nicht vielmehr ich über diese geringen Gaben erröten? Meine Eltern sind gesund: Ihr Neffe aber kann nicht allein den Ruhm seiner Ahnen fortsetzen; in meiner Heimat gibt es nur wenig ausgezeichnete Männer, und da niemand mich bei meinen Arbeiten unterstützt, vergeß ich das Gelernte leicht wieder. Aber ich habe gehört, daß hier viel weise Männer wohnen; deshalb bin ich gekommen, mir hier einen Freund und Lehrer zu suchen.«
Die Tante: »Ich bitte Sie, mein Haus nicht zu verschmähen; Sie können einstweilen hier wohnen und Ihre Studien fortsetzen.«
Der junge Liang verbeugte sich tief: »Wenn Sie mir ein kleines Zimmer zum Arbeiten geben wollen, werd ich diese Wohltat nie vergessen. Ich möchte Sie jedenfalls bitten, mich meinem Oheim und Vetter melden zu lassen; es wird mich sehr freuen, beide nach so langer Zeit wiederzusehen.« 256
»Mein Mann schrieb mir, daß er zum General befördert wurde; mein Sohn ist in seinem Zimmer bei den Büchern. Es ist ein Glück für ihn, daß Sie gekommen sind, mein gelehrter Neffe, mit ihm zu studieren; mit Ihrer Hilfe wird sich meines einfältigen Sohnes grenzenlose Dummheit erleuchten lassen.«
Hierauf befahl sie einer jungen Dienerin, ihren Sohn herzubitten. Der junge Tschiao kam sogleich in den Saal, und die beiden jungen Leute freuten sich des Wiedersehens. Alsbald wurde Wein gebracht, bunte Tassen hingestellt – die beiden Jünglinge zechten im Saal, einander zutrinkend, bis sie trunken leuchtenden Angesichts wurden. Als sie aber sahen, daß sie beide an Farbe der Pfirsichblüte ähnlich waren, am Horizont schon der einsame Mond die westlichen Gemächer beschien, schieden sie, sich verbeugend, von der Dame und gingen in ihr Zimmer, das sie aber bald aufeinander gestützt wieder verließen, im Garten umherzuwandeln.
3
Die Vettern sprechen von Liebe
Der krumme Pfad war an beiden Seiten mit kleinen Bambussträuchern bepflanzt. Am Teich, darin die goldenen Fische schwärmten, vorüber, kamen sie zum Blumenhaus; von da geleitete sie ein Diener, eine Laterne in der Hand, ins Zimmer zurück, wo sie, die Hände auf den Schoß gelegt, von Lust und Liebe sprachen. 257
»Mein Bruder«, sprach zuletzt der junge Tschiao zu seinem Vetter, indem er sich dabei von seinem Sitz erhob, »sieh, wie der Mond Schatten der Blumen auf die seidenen Vorhänge wirft. Ich glaube, die Menschen sollten sich bestreben, den Glanz der Liebe zu gewinnen, nicht den heitern Frühling in Melancholie verleben. Warum hastet man so sehr in dieser Welt? Und wenn das Leben mit so viel Plagen verbunden ist, warum geht es trotzdem schnell vorüber?«
»Was könnt ich sagen, das mein Bruder noch nicht wüßte?« lächelte der junge Liang. »Wer läßt sich nicht durch die Liebe leiten? Wer wird wohl nicht gern umherschwärmen und seinen Geburtsort verlassen? Immer werden die Menschen von Gewinnsucht und Ehrbegier gezogen oder festgehalten, sie mögen unter freiem Himmel essen oder auf dem Wasser leben, es treibt nur Gewinn oder wilde Ruhmsucht sie.«
So philosophierten die Jünglinge, bis die Mutter den jungen Tschiao zu sich rufen ließ.
4
Begegnung beim Schachspiel
Der junge Liang bemerkte: Bücher füllten in vollen Reihen den Schrank, Blumen wehten ihren Wohlgeruch ihm zu. Auf dem Tisch lag kostbar eine Zither, auf einem Gestell von Jaspis ruhend; beim goldenen Feuerherd lag eine lange Stange köstlichen 258 Weihrauchs. Silbern eine Harfe, jadebesetzt eine Flöte hing an der Wand; ein Würfelspiel stand auf der einen, ein Schachbrett auf der andern Seite; berühmte Verse, in alten Schriftzeichen geschrieben, zierten die beiden Wände des Zimmers, glänzende Vasen voll frischer Blumen erfreuten ihn mit ihrer Schönheit. Als er ans Fenster trat, breitete sich eine schöne Ansicht vor ihm aus, er sah ein Blumengeländer: wie Wasserlilien einen Teich umgaben; die weißen Störche, die ihn erblickten, eilten leichten Flugs zum Mond; der Wind zerstreute die Blätter der Trauerweiden, regte die Wellen auf.
Als er am obern Ende des Teichs über eine rote Brücke in den Garten trat, sah er, wie der Mond sich in den Wellen spiegelte; die auf beiden Seiten stehenden Trauerweiden neigten ihre schwanken Zweige gegeneinander; ein Boot für die Wasserlilienpflücker wartete im Schatten einer Weide; die spielenden Fische leuchteten mit den Wellen; Wolken, die im Wasser sich spiegelten, schienen unermeßlich. Liang ward erfaßt von der Unendlichkeit des üppig glänzenden Lebens. Schwer ging er weiter über die Brücke, trat in ein Gartenhaus, wo er, vom Geländer sich neigend, im Wohlgeruch der Blumen ertrunken, die Zweige des Rosenstrauchs an sich zog, sich im Tau zu kühlen. Warum bedachte er nicht, daß Rauschen der Zweige die Vögel erschrecken und verscheuchen müsse? Die Kuckucke schrien auf, als ob sie den sinkenden Mond beweinen wollten, die gelben Vögel zerschrien des Gastes Brust durch ihr Gekreisch; ihr Flug verbarg augenblicks den Glanz des 259 leuchtenden Mondes, zurückschnellend spritzten die Blütenzweige Tau auf sein Kleid.
Als er über die kleine Brücke zurückging, gelangte er an einen gewundenen Fußpfad; bläuliche Pflaumen hingen von den Bäumen nieder; ein Paar Pfauen war vom Mond niedergeflogen, in einem goldenen Käfig disputierten bunte Papageien. Vor ihm lag es wie die Insel der ewigen Jugend, deren Ufer mit den Blüten der tausendblättrigen Pfirsiche bestreut sind. Der Jüngling träumte, so ein Weg könnte zu den Quellen der Unsterblichkeit führen.
Dann betrat er einen Hain von roten Mandelbäumen. Gras bedeckte den Weg, so dicht war es emporgekeimt, Tuberosen rankten sich an hohen Geländern empor. Da aber die schönsten Blumen kein Herz, kein Gefühl: keinen weiblichen Körper haben, umfing ihn Trauer. Da trug der Ostwind ihm Schall eines Schachspiels zu. Neugierig sprach er zu sich: ›Wer mag sich in tiefer Nacht so vergnügen?‹ Behutsam trat er in den östlichen Teil des Gartens. Von fern erblickte er Gestalten im Gartenhaus der Pfingstrosen, wo unter dem leichten Schatten der Blumen eine Lampe ihr Licht von sich warf. Es schien ihm, als ob mehrere Personen unter den Blumen stünden, deren Gekicher und Geplauder melodisch zu seinen Ohren drang. Die Stimmen, lieblich wie Hyazinthe und Moschus, mußten fröhlichen Mädchen gehören. Er schlich vorwärts, sie sorgfältig insgeheim zu betrachten, sah einige Dienerinnen zwischen Blumen wandeln.
Plötzlich bedeckte schwindend eine dunkle Wolke den 260 leuchtenden Mond – die Dienerinnen wähnten, es sei der junge Tschiao, und da sie deshalb nicht ins Sommerhaus gingen, ihre Herrinnen zu benachrichtigen, konnte der junge Liang ungestört bis ans steinerne Geländer sich schleichen. Er erblickte zwei wunderschöne Mädchen, die beim Schein einer silbernen Lampe fröhlichen Lärmes vor einem Schachbrett sannen. Die gegen Süden saß, ließ ihr Haar aufgelöst auf die Schultern rollen. Wer hätte ahnen können den freudigen Schreck: die Herzwunde des Fremdlings, als er ihr ins Aug sah? Er glaubte den Jünglingsglauben, dies Mädchen sei nicht von dieser Erde; sie schien ihm ein himmlischer Geist, der die Gedanken fesselt. Ihr Anblick befeuerte ihn, die plötzliche Dunkelheit nützend, schritt er, nachdem er seine Kleider zurechtgezupft, heldenkühn vorwärts, das schöne Fräulein anzureden. Mußte er aber nicht befürchten, das edle Mädchen würde ihn mit Angstschrei, zürnenden Blicks zurückweisen? »Was? hinter den Blumen kommt ein junger Mensch hervor?« rief sie aus und eilte fliegenden Schrittes davon, das Schachbrett im Stich lassend. Liang konnte nur noch bemerken: als ihre mandelgleichen Augen auf der Flucht blitzschnell auf ihm ruhten, glich ihr Gesicht der Tulpe, ihre Augenbrauen den schwanken Zweigen der Trauerweide; ein Mal auf rosiger Lippe erhöhte ihre Schönheit; ihres Leibes vollkommene Form mußte jedes Mannes Herz verwunden. Wenn der Frühlingswind ihr seidenes Gewand aufwehte, sah er deutlich, daß die goldenen Lilien ihrer Füßchen höchstens drei Zoll lang waren. Sooft sie blinzelnd 261 den Kopf nach ihm zurückwandte, schenkte sie ein liebliches Lächeln. Ihm aber war zumut, als wär er bei den Blumen getötet worden.
Die Dienerinnen eilten ihren Gebieterinnen nach; der junge Liang hielt sich wie trunken am Geländer fest. Die beiden jungen Damen aber nahmen sich bei der perlenweißen Hand und eilten verträumt, wortlos in ihr duftendes Gemach.
5
Pijue holt das Schachspiel
Nachdem sich die beiden Mädchen auf ihre Armstühle niedergelassen hatten, rief Fräulein Jaosien ihre Dienerin Jünchiang herbei: »Da einige von euch draußen am Geländer standen, wie kommt es, daß ein Mann bis an das Geländer vordringen konnte? Mein Leben lang hab ich ihn nicht gesehn; da ich ihm unverhüllten Angesichts begegnete, wie könnte sich mein Herz darüber beruhigen? Ich möchte wissen, aus welchem Haus er ist? Seiner Zudringlichkeit nach scheint er nicht von guter Familie!«
Jünchiang antwortete: »Einige von uns standen allerdings zwischen den Blumen; aber da der Mond zufällig verfinstert war, konnte man nicht bemerken, daß jemand im verborgenen lauschte. Auch dachten wir alle, es sei der junge Herr Tschiao, und von ihm wäre es doch nicht zudringlich gewesen, wenn er sich näherte?« 262
»Als ich diesen Morgen mit den Dienerinnen aus dem Saale ging«, nahm Fräulein Tsaiki das Wort, »meldete jemand, ein junger Herr aus der Familie Liang sei angekommen, den Ihre Tante im Studierzimmer bewirtete. Ich vermute, daß er trunken im nächtlichen Mondschein umherwanderte, sich der Blumen zu freuen!«
Jaosien rief ihre Dienerin Pijue: »Auf dem Tisch ist unser Schachspiel liegengeblieben.«
Pijue stieg in den Garten hinab; als sie aber zu den Trauerweiden ging und um den Teich, erblickte sie von fern den jungen Liang, der den Garten noch nicht verlassen hatte. Wie krank lehnte er am Geländer, die Hand an der Wange stand er da, traurig in sich gekehrt. Wahrscheinlich dachte er an das liebliche Mädchen, sann, wie er der schönen Bewohnerin des tiefverborgenen Gemachs wieder begegnen könnte.
Als Pijue endlich in das Gartenhaus der Pfingstrosen treten wollte, machte der junge Liang schon von ferne dem hübschen Mädchen eine tiefe Verbeugung, indem er dabei die Hände über der Brust kreuzte: »Meine Seele und mein Geist sind mir wegen jener jungen Dame entflohn, ich weiß nicht wohin? Ist es die Göttin des Mondes, die auf diese Erde herabgestiegen ist? Oder ist es ein Engel, der im Himmel wohnt? Ich fürchte sehr, sie raubt den Menschen die Seele und entfliegt dann wieder. Denn ich fühle, als sie sich entfernte, hat sie mir der Augen Glanz entwendet. Ihr lächelnder Mund hat meine Liebe entflammt, Leber und Galle mir aufgeregt. Ich würde überglückselig 263 sein, wenn Sie mir zur Verbindung mit Ihrer Herrin helfen wollten.«
Pijue schrie aufgebracht: »Wie können Sie es wagen, Ihre Begierden auf die inneren Gemächer zu richten? Ich ersuche Sie, mein Herr, nicht von Liebesangelegenheiten zu sprechen, denn wohlerzogene Frauenzimmer sind so kalt wie Eis. Der Pfirsichbaum ist hoch wie der Himmel, so hoffen Sie nicht! Der rote Mandelbaum steht in der Sonne, so hören Sie auf, seiner zu gedenken. Gehen Sie nach Haus, mein lieber Herr, nehmen Sie ein Drachenschwert und durchstoßen Sie solche Gefühle, damit sie Ihre Brust nicht mehr beschweren.«
Aber als sie hierauf ins Gartenhaus treten wollte, das Schachspiel zu holen, sprach der junge Liang unabgeschreckt zu ihr: »Wenn Sie meinen, daß der Kristall nicht besudelt werden kann, wie kommt es, daß Ihre Herrin eine so heftige Liebe in mir erregt hat, als ich sie erblickte? Da aber ihr Antlitz, dem Frühlingswinde vergleichbar, mir hold zulächelte, wer darf sagen, daß die unwegsame Gegend den Wanderer abhält? Ich hoffe, mein schönes Mädchen, Sie werden mir den Weg zur blauen Brücke zeigen, nie will ich dann Ihre Wohltat vergessen und unendlichen Dank.«
»Wer nicht liebt«, antwortete sanft lächelnd Pijue, »kann die Liebenden nicht ertragen. Wenn mein Fräulein lachte, so geschah es, weil sie mit dem Gesicht ihre Gedanken nicht verbergen konnte, als sie bemerkte, wie Sie, mein Herr, wie in ein Netz verwickelt, sich vorwärts bewegten. Sie mögen übrigens die Sprache der Liebe immerhin überströmen lassen; 264 mein Fräulein wird sich darüber nicht grämen, noch wird ihr Ohr solche Reden je durch mich hören.«
Sie ließ ein leises Lächeln vernehmen und eilte fort. Der junge Liang aber blieb wie sterbend unter den Blumen, unglücklich schmeckte er Bitterkeit seiner Leidenschaft.
6
Des jungen Liang traurige Gedanken
Liang folgte mit den Augen der schönen Dirne, die sich ängstlich zurückzog; er konnte aber im Schein des Monds, der durch die Zweige der Trauerweiden leuchtete, nur ihre seidenen Kleider erblicken, die hier und dort hervorglänzten – wie Sterne der Milchstraße. Vergebens pflückte er Blumen, sich an ihrem abendlichen Duft zu erquicken – es nährte nur seinen Schmerz.
Als er endlich in sein Zimmer zurückschlich, schien ihm der Weg lang. Was hatte doch morgens sein Vetter gesagt? Man solle bei Blumen und Mondschein nicht betrübt sein – und nun war ihm zumut, wie wenn er einem Feind oder einem Gläubiger begegnet wäre. Und doch war es ihm unmöglich, sich dem Kummer zu entreißen, sehnsüchtig streckte er die Hand, am liebsten wär er unter Blumen gestorben.
Mit Herz und Seele dachte er nur an das Mädchen. Beim Schein der Lampe war sie ihm äußerst lieblich erschienen. Aber überstrahlte sie nicht auch alle andern Mädchen durch ihre vollkommene Schönheit? 265 Als Diadem trug sie bläuliche Hyazinthen; ihr Mantel war von weißem Atlas, ihr Kleid von weißer Seide; ihr Oberkleid reichte ihr nur bis an die Knie, und wenn ihre perlenweißen Finger das Schachbrett berührten, wie weise handelten, wie weiß wandelten sie da!
Die andre, die gegen Norden saß, blau gekleidet, schien nicht weniger liebenswert, seine Seele aber liebte nur das weiß gekleidete Mädchen. Oh, wie arm stand er vorhin zwischen den Blumen, gefesselt, sich betrübend, daß er nicht fliegen könne an die Seite der rotwangigen Jungfrau.
Plötzlich hörte er den Schall des nächtlichen Gongs; des Wächters Lärm drang ihm laut ins Ohr; Mond und Sterne waren untergegangen in dunkeln Wolken.
7
Der junge Liang erkundigt sich
Bis das rote Sonnenrad im Osten erglänzte, lag er schmerzdurchdrungen, trauerumfaßt auch noch, als der Himmel ganz erhellt war. Verlorenen Herzens hatte er Müh, sich zu waschen und zu kämmen; endlich ging er traurig und langsamen Schrittes in den schön gemalten Saal.
Die Tante war schon lang auf: »Mein lieber Neffe, wenn Sie allein bleiben in Ihrem einsamen Zimmer, muß Ihnen ohne Beschäftigung der Tag lang erscheinen. Neben Ihrer Wohnung ist eine Brücke, die ins Grüne führt; dort gibt es schöne Blumen und liebliche 266 Vögel; auch kann man in die weite Ferne sehen. Wenn Sie aufhören zu lesen, das Studium der Geschichte und Poesie Sie ermüdet hat, hindert Sie nichts, umherzuwandeln, Ihre Grillen zu zerstreuen.« Der Student ergriff schnell die Gelegenheit, sich zu erkundigen: »In der gestrigen Nacht hab ich die duftenden Blumen heimgesucht. Als ich zufällig zum Gartenhaus der Pfingstrosen ging, erblickt ich zwei mir unbekannte wunderherrliche Mädchen, die beim Schein der Lampe lustig Schach spielten.«
»Es sind die Töchter meiner Schwester und meines Bruders«, erwiderte die Tante, »sie sind zusammen hierhergekommen, mir langes Leben zu wünschen. Die mit dem hoch aufgebundenen Haar heißt Ma, ihre Mutter ist meine Schwester, ihr Zuname ist Tsaiki, sie mag jetzt fünfzehn Jahre alt sein. Sie durchschaut die Geschäfte des Lebens und steht über gewöhnlichen Mädchen. Seit sie gestern beim Gastmahl mit mir plauderte, weiß sie, daß sie meines Sohnes Weib werden soll. Die andere, deren Haar auf die Schultern rollt, ist die Tochter meines Bruders; sie liebt es, sich in weißen Kleidern zu zeigen, Jaosien ist ihr Zuname; sie ist sechzehn Jahre alt, ihr Familienname ist Jang. Wenn sie dichtet, setzt jeder Vers die Menschen in Erstaunen; wenn sie Harfe spielt, läßt sie unirdische Töne erklingen.«
Der junge Liang ward an Herz und Seele verwirrt; er war im roten Gemach des Mädchens, sein Körper blieb im Saal – der Dame, die mehrere Fragen an ihn richtete, antwortete er zerstreut. Nun befahl die Dame ihren Leuten, Wein ins Gartenhaus zur 267 Wasserlilie zu bringen. Liang folgte der Hausfrau, auch er ergriff den goldenen Pokal. Aber der Blumen und des Weines Duft dringt umsonst in die Nasen trauriger Menschen; er dachte nur daran, wo das himmlische Mädchen der vergangenen Nacht wohl wandeln möge? Die Dame merkte die Wirrnis im Herzen des Jünglings; sie befahl daher den Dienern, mehr roten Wein herbeizuschaffen, gütig sprach sie zu dem jungen Liang: »Man sagt, die Studenten können den Lorbeerkranz vom Mond pflücken, denn die Göttin des Monds liebt seit alten Zeiten die Jünglinge vor allen. So hoff ich, daß mein geliebter Neffe in ihren kalten Ruhmespalast eingehen wird. Aber damit er nicht einsam friert: in einigen Tagen will ich für Sie einen Heiratsantrag machen, ich werde für meinen edlen jungen Herrn eine ausgezeichnete Schönheit wählen.«
Der junge Liang verstand den Sinn der Worte vollkommen; seine Stirn erheiterte sich, fröhlichen Mutes trank er nun rötlichen Wein.