Marie von Ebner-Eschenbach
Lotti, die Uhrmacherin
Marie von Ebner-Eschenbach

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Fräulein Lotti war soeben erwacht. Die Repetieruhr, die an einem zart geschweiften Schnörkel am rechten Kopfende des altertümlichen, reich geschnitzten Bettes hing, schlug mit zartem Klange sechsmal an. Gleich darauf begann die deutsche Stockuhr, eine solide Arbeit Meister Anton Schreibelmeyers, von der Kommode am Pfeiler aus, die Morgenstunde zu verkünden. – Auf! auf! befahl ihre gebieterische Stimme, an die Arbeit! der Tag beginnt! – Ihre Glocken hatten kaum ausgezittert, als auch schon die französische Wanduhr, in aller Bescheidenheit, eilig und leise zu melden begann: Sechs! sechs! gehorsamst zeig ich's an.

Eine kleine Pause – und am linken Kopfende des Bettes erhob das Seitenstück der Repetier-, eine Spieluhr, ihre Silberstimme und gab ein Schäferliedchen zum besten, so lieblich, als hätten kleine Engel es gesungen.

Mit unendlichem Wohlgefallen lauschte das Fräulein dem Konzerte, das ihre Uhren abhielten, und hätte in den Schlußgesang beinahe mit eingestimmt, so fröhlich war ihr zumute. An dem Lichte, das durch die herabgelassenen Vorhänge in das Zimmer drang, erkannte sie, daß es heute einen schönen Tag gebe – war das nicht genug, um den reichen Quell von Heiterkeit in ihrer Seele zum Überströmen zu bringen?

Sie stand auf und kleidete sich an; sehr sorgfältig zwar, aber ohne dabei mehr, als durchaus nötig war, in den Spiegel zu sehen, denn – sie war sich kein angenehmer Anblick. Die Zeit, in welcher sie ihren Mangel an Schönheit gar schmerzlich und fast wie eine Schmach empfunden, war freilich vorbei. Jetzt, mit fünfunddreißig Jahren als ehrenfeste alte Jungfer, hatte sie längst aufgehört, ihr Äußeres gehässig anzufeinden, aber so ganz erloschen war das letzte Fünkchen Eitelkeit in ihrem Frauenherzen doch nicht, wenn es sich auch nur in dem Gedanken aussprach: Es ist ein Glück, daß ich anderen anders vorkomme als mir selbst, sonst könnte mich niemand leiden.

Nach beendeter Toilette begab sie sich aus dem Schlaf- in das Wohnzimmer. Es war ein trauliches Gemach, dessen Fenster auf einen kleinen Platz sah – einen sehr kleinen, denn er wurde von nur vier Häusern gebildet; doch war er luftig und hell und gewährte den Anblick eines beträchtlichen Stückes Himmel, was gewiß kein geringer Vorzug war. Es will etwas heißen, im Herzen der Zivilisation zu wohnen, im Mittelpunkt der Hauptstadt, tausend Schritte vom Dome, den zu sehen viele Leute tausend Meilen weit hergezogen kommen, und dabei von seinem Fenster aus Wetterbeobachtungen fast wie Knauer und das Studium des Sternenlaufes fast wie ein Chaldäer betreiben zu können, Wolken und Vögel ziehen und der Sonne und dem Mond ins Gesicht zu sehen.

Dieses Stück Himmel, obwohl nur aus einem Fenster sichtbar, erhellte dem Fräulein die ganze im übrigen ziemlich finstere Wohnung und ließ ihr das Erklimmen der drei Stockwerke, die zu derselben hinaufführten, als eine höchst anmutige Promenade erscheinen, weniger beschwerlich als eine Bergbesteigung, und beinahe ebenso lohnend.

Aber nicht nur der Himmel über dem Platze, auch die Häuser auf dem Platze und die Menschen, die in ihnen wohnten, nahmen das Interesse Fräulein Lottis in Anspruch. Die Fenster des gegenüberliegenden Hauses, das den Platz gegen Osten in einem stumpfen Winkel abschnitt, glänzten schon im Sonnenschein. Bei den reichen Leuten in der Beletage sind die Gardinen noch nicht aufgezogen; dort schläft man in den Tag hinein, sieht den Himmel nie in seinem ersten, sanft umflorten Blau, in seiner duftigsten Schönheit. Im dritten und vierten Stock hingegen gibt's freien Eintritt für Licht und Luft des goldenen Maimorgens.

Auf den Mauervorsprüngen der beiden Häuser nebenan trippeln dicke graue Tauben in großer Aufregung. Sie warten voll Ungeduld auf das Frühstück, das ihnen Lotti auf das Fenstergesimse zu servieren pflegt. Kaum weniger gespannt als sie, sehen noch andere Geschöpfe dem anziehenden Schauspiel der Taubenfütterung entgegen. Es sind die nächsten Nachbarn des Fräuleins, und sie gehören zu ihren Bekannten, wenn auch nicht zu ihrem Kreise. Der Nachbar zur Linken erhält ihren ersten Gruß, dann kommen die Nachbarn zur Rechten. Jener, ein gebrechliches Männchen, engbrüstig und kahl, das Urbild eines alten Damenschneiderleins, diese, drei frische Jungen, mit runden, dank der frühen Morgenstunde sauber gewaschenen Gesichtern. Prächtige Bursche, noch zu jung für die Schule und doch beinahe schon der weiblichen Zucht entwachsen; mit Worten wenigstens richtet die Mutter nichts mehr bei ihnen aus, obwohl sie dieselben nicht spart, die brave Frau. Der Mann und Vater hat seine Werkstätte nebenan in den Hof hinaus und plagt sich an der Drehbank vom Morgen bis zum Abend. Er ist Pfeifenschneider, aber im Rohre scheint er nicht zu sitzen und Überfluß hat er nur an Kindersegen. Die drei Erstgeborenen haben angefangen, sich um den besten Platz am Fenster zu balgen, die Mutter tritt unter sie, ein zweijähriges Mädchen auf dem Arme, zieht den Pantoffel vom Fuße und schlägt wacker auf die Buben los. Der Pantoffel fällt, gleich der Hand des Schicksals, ohne Unterschied auf das Haupt des Gerechten wie des Ungerechten, und bald herrschen Ruhe und Frieden. Die neuen Horatier liegen still nebeneinander im Fenster und beobachten die grauen Tauben, mit innigstem Verständnis für ihre Rauflust und ihren guten Appetit.

Die Aufmerksamkeit des Schneiderleins hingegen ist auf das Fräulein gerichtet. Das braune Mohairkleid, das seine Gönnerin heute zum erstenmal angetan hat, ist seiner Hände selbsteigenes Werk. Der Schnitt hat sich seit wenigstens zehn Jahren als vortrefflich bewährt, und genäht und ausgefertigt ist das Kleidungsstück mit einer Sorgfalt, die ihresgleichen sucht. Alles solid und geschmackvoll. Der Rock so faltenreich, die Taille weder zu lang noch zu kurz, sondern gerade dort angebracht, wo der liebe Gott sie hingesetzt hat. Sie wird von einem breiten Gürtelband umgeben, aus reiner Seide, fein, weich und dauerhaft. Aus demselben Stoffe bestehen auch die Biais, die den Kragen und die enganliegenden Ärmel schmücken. Von den letzteren heben sich die glatten Manschetten, welche das Fräulein zu tragen pflegt, gar schön ab, und diese bilden die schneeweiße Einfassung der zarten schlanken Hände. Ach, diese Hände! das Schneiderlein vermag sie niemals ohne innere Rührung zu betrachten. Sie waren das erste, was er erblickte in jenem unvergeßlichen Momente, in dem er die Augen aufschlug, die er für immer geschlossen zu haben meinte, freiwillig geschlossen, nach schwerem, entsetzlichem Kampfe. Der Alte besinnt sich nur noch wie eines bösen Traums des hoffnungslosen Elends, das ihn zu einer Tat der Verzweiflung getrieben; er hat die Ursache fast vergessen und begreift ihre Wirkung nicht mehr. »Ich muß wahnsinnig gewesen sein!« sagt er jetzt, wenn er der Stunde gedenkt, in welcher er sein kleines Töchterchen zu sich gerufen, Tür und Fenster desselben Zimmers, das er heute noch bewohnt, verriegelt und das Kohlenbecken entzündet hat.

Damals hatte der Zufall Fräulein Lotti zur Retterin des armen Schneidermeisters gemacht, ihre Güte machte sie zu seiner Beschützerin. Nachdem er unter ihrer Pflege gesund und wieder erwerbsfähig geworden, sammelte sie allmählich für ihn einen kleinen Kundenkreis. Der Schneider befand sich jetzt in guten Verhältnissen, war sogar imstande, einen Sparpfennig zurückzulegen. Er hätte das ruhigste Leben gehabt, wenn nur die revolutionären Ideen seiner Tochter nicht gewesen wären. Aber die Leopoldine, ein ehrgeiziges junges Ding, ein Feuerkopf, hatte an den Arbeiten des Vaters immer etwas auszusetzen und schwärmte, zu seinem Grauen und Entsetzen, für die unsinnigsten, lächerlichsten, abscheulichsten Moden, nämlich für die neuesten.

Soeben haben sie wieder einen scharfen Streit gehabt und sitzen jetzt einander gegenüber im Fenster und nähen an einer schwarzen Seidenmantille mit einem Eifer, den ihr nicht ganz ausgebrauster Zorn beflügelt. Die Mantille braucht erst morgen fertigzuwerden, wird es aber gewiß heute noch, wenn die Furie anhält, mit der Vater und Tochter die Nadel führen.

Inzwischen hat sich das Dachfenster über der Schneiderwerkstätte geöffnet; eine Frau und eine Katze sind an demselben erschienen, beide wohlgenährt und weißhaarig. Die Katze schleicht zur Morgenpromenade auf das Dach hinaus, bleibt öfters stehen und wirft begehrliche Raubtierblicke nach den Tauben, die von Fräulein Lotti gefüttert werden. – Wer eine von euch erwischen könnte! denkt sie. Saubere Weltordnung, in der wir leben! – Gäb's eine Gerechtigkeit – ich hätte Flügel!

Frau Katze schüttelt den Kopf, schließt die Augen, leckt die fadendünnen Lippen und gähnt wie ein Tiger.

Ihre Gebieterin hakt den Fensterflügel ein, damit die Spaziergängerin bequem eintreten könne, wenn es ihr genehm sein würde heimzukehren. Die Rückkunft ihres Lieblings kann die Bewohnerin der Dachstube nicht abwarten, sie muß an ihren Posten, in den kleinen Laden im Durchhause nebenan, wo sie im Winter altgebackenes Brot, im Sommer auch Obst feilbietet und zu allen Jahreszeiten Näschereien, die ihre Katze verschmähen würde, die aber an den Schulkindern beharrliche Abnehmer finden.

Fräulein Lotti sandte bereits viele Grüße zu der dicken Frau empor, die so freundlich aussah wie des Teufels Großmutter und sich's lange überlegte, bevor sie mit einem kaum merkbaren Nicken dankte. Aber auch damit ist Lotti zufrieden. An Zuvorkommenheit von Seite der Frau Brotsitzerin wurde sie nie gewöhnt und hat auch kein besonderes Herzensbedürfnis danach. Sie wünscht nur, konservativ wie sie einmal ist, daß alles beim alten bleibe und daß sie sich täglich sagen könne, was die Potentaten jährlich einmal in ihren Thronreden sagen: »Unsere Beziehungen zu den Nachbarstaaten sind die freundschaftlichsten.«


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