Marie von Ebner-Eschenbach
Lotti, die Uhrmacherin
Marie von Ebner-Eschenbach

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6

»Vater Feßler«, rief er, »da ist es, da haben Sie's, mein Büchlein, mein erstgebornes!... Sieht es nicht nett aus in seinem purpurroten mit Gold geputzten Kleidchen?... Lesen Sie, was hier steht, auf der ersten Seite: ›Johannes Feßler, meinem Lehrer, meinem Vorbild, meinem Freund...‹ Es ist Ihnen gewidmet, Ihr Eigentum, ich bringe, was aus meinem Herzen floß und Ihnen gehört, und lege es Ihnen zu Füßen.«

Er machte Miene, das Büchlein wirklich auf den Boden vor Feßler hinzulegen; der aber hinderte ihn daran. »Geben Sie es mir in die Hand, das ist Ehre genug«, sprach er und lächelte seinem Liebling zu, bei dessen Erscheinen der trübe Ernst verschwunden war, der eben noch die Stirn des alten Mannes umdüstert hatte. Er ließ sich erzählen, wie der Poet seit drei Tagen in verzehrender Erwartung seines Werkes gelebt, wie er jede freie Minute auf dem Postbüro zugebracht und durch die Ausbrüche seiner Ungeduld den Ärger eines Expeditors und das Mitleid zweier Briefträger erregt habe. Jetzt aber sei alles gut, meinte er und flehte, die Familie möge ihm diesen Abend schenken und sich den Vortrag seiner Dichtung gefallen lassen. Er stellte die Lampe auf den Tisch inmitten der Werkstätte und trug vier Sessel herbei. Lotti sollte ihm gegenübersitzen, Feßler und Gottfried neben ihm.

»Auf diese Stunde«, sagte er, als alle Platz genommen hatten, »habe ich mich gefreut von dem Momente an, in welchem mir der erste Gedanke meines Gedichts aufgegangen, bis zu dem, in welchem ich am letzten Verse gefeilt... Wie jetzt in der Wirklichkeit, umgaben Sie mich immerwährend im Geist, Sie geliebten drei!«

Seine Augen ruhten vor Innigkeit und Wärme leuchtend auf seinem kleinen Auditorium, dann öffnete er das Buch und begann zu lesen.

Was er las, war nur eine einfache Herzensgeschichte – ähnliche sind wohl tausendmal berichtet, millionenmal erlebt worden. Abgedroschen! wollte Gottfried schon ausrufen, aber er unterdrückte das Wort. Offenbar hatte der Dichter nicht durch das Interesse an seiner Fabel zu wirken gesucht; was da fesselte und bezwang, das war der Schönheitszauber, der in dem schlichten Bilde webte, das war die Wahrheit und die Leidenschaft, die es atmete, und wen man darin am liebsten gewann, das war der Dichter selbst. Absichtslos, ja wider seinen Willen hob seine Gestalt sich verklärt aus seinem Werke und erschien so liebenswürdig wie die verkörperte Jugend. Er war von Begeisterung durchglüht, von Talent getragen; eine Unendlichkeit wogte in seiner Seele. Für Ernst und Scherz, für Zorn und Wehmut, Haß und Liebe, für jede Stimmung und Empfindung der menschlichen Brust lag das Verständnis in seinem Herzen und der Ausdruck auf seinen Lippen. Kein Zweifel an sich selbst hemmte seinen Schwung, kein Mißtrauen in seine Kraft lähmte ihn, er hatte sie, er wußte es, er war ihrer Wirkung gewiß und baute auf sie mit der unerschütterlichen Zuversicht, die dem Erfolg vorangeht, die ihn oft erzwingt.

Und so fragte er denn auch, als er geendet, voll freudiger Unbefangenheit: »Was sagen Sie... Ist es mir nicht gelungen?«

»Vollkommen«, erwiderte Feßler, »es klopft ein Herz darin.«

»Nicht wahr?... Und Sie, Gottfried – Ihre Meinung?«

Gottfried war die ganze Zeit hindurch dagesessen, den Ellbogen auf den Tisch und die Stirn in die Hand gestützt. Jetzt lehnte er sich in seinem Sessel zurück und sprach, ohne Halwig anzusehen: »Es ist schön, ganz schön.«

»Ich danke, Freund! Ein solches Lob von Ihnen, das tut wohl... Aber Sie – Fräulein Lotti... Sie schweigen – Sie sagen mir nichts...«

In glühender Verwirrung blickte Lotti zu ihm auf: »Ich kann nicht – Sie sehen...« stammelte sie, ein schmerzliches, vergeblich unterdrücktes Schluchzen erstickte ihre Stimme.

»Lotti!... ist es mir gelungen, Sie zu rühren, zu ergreifen?... Soll mein schönster Traum mir heute ganz in Erfüllung gehen?« Er sprang auf und eilte jubelnd auf sie zu.

Lotti streckte abwehrend die Hände aus; sie weinte, nicht sanft befreiende Tränen – Tränen qualvoller Beschämung und Empörung über sich selbst.

Halwig trat bestürzt zurück. Einen Augenblick stand er zweifelnd vor ihr, plötzlich aber leuchtete das Bewußtsein des Sieges, den er über diese Seele errungen, mit süßem Triumphe aus seinen Augen, und er rief in einem Tone, aus dem Rührung, Entzücken und ein letztes Zagen zugleich herausklangen: »Sie zürnen mir? soll ich dafür büßen, daß mein Gedicht Sie bewegte?«

»Zürnen? Wie können Sie glauben?... Eine neue Welt hat sich vor mir aufgetan... Ich weiß nicht, ich kann nicht sagen, was ich am meisten bewundere – ich sehe nur, wie groß, wie herrlich und wie fern...«

Ihre Stimme brach, sie erhob einen raschen hilflosen Blick zu ihm, den er einsog wie himmlischen Tau.

»Nicht fern«, rief er, »o nein! Ihnen ist sie es nicht, sie lebt von Ihrem Leben, ist von Ihrem Atem durchhaucht... Schöpferin meiner Welt, haben Sie sich in ihr nicht erkannt?«

Und schon lag er vor Lotti auf den Knien, bedeckte ihre Hände mit seinen Küssen, nannte sie seinen Engel, seine Geliebte, seine Braut. Er pries die Stunde, in welcher sie ihm zum ersten Male begegnet war, und die noch schönere, ewig gebenedeite, in welcher er's zum erstenmal empfunden, daß sie ihn liebe. Das war nicht heute, war nicht vor kurzem, das war sehr bald, nachdem sie einander kennengelernt – er wollte gar nicht gestehen, wie bald... um nicht allzu vermessen zu erscheinen, so vermessen wie man eben wird, wenn man sich geliebt weiß von dem edelsten und reinsten Herzen.

»Jetzt aber sprich!« bestürmte er sie, »bestätige mir mein Glück vor diesen teuren Zeugen... deinem Vater, deinem Bruder, den meinen von nun an – ein Wort, Geliebteste!«

»Was soll ich sagen – du weißt alles«, war ihre Antwort, und jauchzend faßte er sie in seine Arme. – –

Es war keine stumme Seligkeit, die seine; unwiderstehlich brauste der Feuerstrom der Worte, die er ihr lieh, dahin und vermochte die Einwendungen Feßlers zu übertäuben und vermochte Gottfried sich ein Wort der Fürsprache für denjenigen abzuringen, dem Lotti ihr Herz geschenkt. Freimütig erzählte Halwig die Geschichte seines Lebens, sprach von dem Leichtsinn, mit dem er das Erbe seiner Eltern zersplittert, gestand, daß er im Begriffe gewesen, auf schlechte Wege zu geraten, als sein schützender Stern ihn in das Haus Feßlers geführt. Von dem Augenblicke an war er ein anderer Mensch geworden. Er beschwor Feßler und Gottfried, Erkundigungen über ihn einzuholen. Seine Vorgesetzten im Amte, seine Freunde und Bekannten sollten entscheiden, ob er verdiene, hoffnungslos verworfen zu werden.

»Davon ist nicht die Rede«, sagte Feßler und Halwig rief: »So lasset denn die Geliebte das Erlösungswerk vollenden, das sie an mir begonnen hat.«

Sie wurde seine Braut; und der Mann, der ihr wie ein höheres Wesen erschien, machte sie zur Herrin seines Schicksals. Er unterordnete sich ihr, er wollte ihr alles danken, was er besaß, er wollte alles, was er war, nur durch sie geworden sein. Sein junges Haupt, das schon von der Morgenröte des Ruhmes umglänzt wurde, beugte sich vor ihr, schmiegte sich demütig an ihre Knie.

»Das heißt verwöhnen«, sagte Vater Feßler, aber Gottfrieds Meinung war: »Bete sie nur an, sie verdient's.«

Einige Monate vergingen, da fiel der erste Schatten auf die bisher ungetrübte Seligkeit der Verlobten. Halwig hatte plötzlich den Staatsdienst aufgegeben, um sich ganz und gar seinem dichterischen Berufe widmen zu können, der ihm täglich neue Erfolge brachte. Ein zweites Büchlein war dem ersten gefolgt. Es erfüllte reichlich die schönen Erwartungen, die jenes erregt hatte. Die kleine Gemeinde von Bewunderern, die sich um den Dichter zu sammeln begann, wußte seines Lobes kein Ende und begrüßte auch sein drittes Werk mit unbegrenztem Entzücken. Und gerade dieses, das er, um eine übernommene Verpflichtung zu erfüllen, in fieberhafter Hast begonnen und beendet, war ihm vor allen andern ans Herz gewachsen. Er hatte daran erprobt, daß er zu jeder Zeit Herr seiner Stimmung, seiner Phantasie, aller seiner Gaben war, daß sein Talent ihm leiste und gewähre, was immer er von ihm verlangte. Er wußte jetzt, daß sein Wollen unumschränkt über sein Können gebiete. Ganz erfüllt von dem Gefühl eines so vollkommenen Gelingens, erschien er bei seiner Braut, und Lotti schwelgte im Anblick seiner stolzen Glückseligkeit. Als es jedoch hieß, ihre Meinung über die Arbeit auszusprechen, welche Hermann seine beste und reifste nannte, zagte sie und antwortete mit Befangenheit nach langem Zögern, daß ihr alles gefalle, was von ihm ersonnen sei.

»Dieses«, rief er, »müßte dir auch gefallen, wenn ein anderer es ersonnen hätte.«

»Vielleicht – gewiß...« erwiderte Lotti, erschrocken über den Ausdruck von Enttäuschung, der sich in seinen Zügen malte.

Er fuhr erregt fort: »Du mußt lernen, ganz von mir abzusehen bei der Beurteilung meiner Arbeiten. Daß Schönes geschaffen werde, daran liegt alles; ob ich es geschaffen, ob Hinz oder Kunz, daran liegt nichts... Der Standpunkt ist der einzig richtige – der soll der deine sein. – Deine Liebe zu mir darf sich nicht durch blinde Bewunderung äußern. Du mußt wissen, warum du bewunderst – mußt Gründe haben, für dein Lob. Aufrichtigkeit verlange ich von dir und will hoffen, daß du mich ihrer würdig hältst.«

»Hermann – wie könnt ich anders?« fragte sie mit einem ängstlichen Lächeln. »Ich sage dir, was ich denke, aber das hat ja keinen Wert... Mein Urteil zu begründen, muß ich erst lernen... Jetzt bin ich noch nicht imstande, dir zu sagen, warum ich dir dieses Mal nicht so leicht – nicht mit so voller – wie soll ich's nennen? – so voller Hingerissenheit folgen konnte wie früher, wie besonders bei deinem ersten, allerschönsten Gedicht...«

Nun brauste er auf. Er fragte, ob sie denn immer auf seine Anfänge zurückkommen wollte, ob ihr das Unbedeutendste am nächsten läge.

»Wenn du bei dem Punkte stehenbleibst, von dem ich ausging, indes ich vorwärts jage, werden wir bald auseinandergekommen sein!« rief er, war nicht zu beschwichtigen und verließ sie im Zorne.

Freilich war er am nächsten Tage wieder da, demütigte sich vor ihr und weinte vor Reue, als sie ihn, womöglich noch liebreicher als sonst, empfing und ihm versicherte, nicht zu wissen, was sie ihm verzeihen solle. Er war so beschämt und in seiner Beschämung so ausbündig und unwiderstehlich liebenswürdig, daß Lotti ihn bat, sich nur recht bald wieder einzubilden, er habe ihr weh getan.

Diese Bitte wurde erfüllt, aber in anderem Sinne, als sie gestellt war. Hermann ließ es an Gelegenheit nicht fehlen, ein gegen sie begangenes Unrecht gutmachen zu müssen, aber dieselbe zu benützen, verstand er bald nicht mehr.

Ein leiser Zweifel, eine Frage vermochten alle Dämonen in seiner Brust zu entfesseln, und Lotti erkannte mit Entsetzen, daß es Augenblicke gab, in denen er sie haßte. Da legte er den Ausbrüchen seines Zornes keinen Zügel an. Er litt und fand es natürlich und gerecht, daß diejenige, die ihn liebte, mit ihm leide. Wenn er sich von ihr mißverstanden oder im stillen getadelt glaubte, warf er ihr ihre untergeordnete Tätigkeit, ihren beschränkten Wirkungskreis vor.

»Von dem, was ich anstrebe, steht freilich nichts im ›Le Paute‹!« rief er eines Tages, und Gottfried, der bisher männlich an sich gehalten, fuhr empor: »Noch ein solches Wort, und ich schlage dir den Schädel ein!«

Dem heftigen Auftritt zwischen den beiden Männern, der darauf folgte, wurde mühsam genug von Feßler ein Ende gemacht; aber von nun an begann Gottfried sein passives Benehmen dem Brautpaar gegenüber aufzugeben.

»Du bist ein ungebärdiges Kind«, sagte er zu Halwig, »du wärst imstande, das Liebste, das du hast, in einem Anfall übler Laune zu zerstören; ich will strenge Wache über dich halten.«

Halwig drückte ihm die Hand, er begab sich gern unter den Schutz seines besten Freundes.

»Verschwören wir uns gegen alle meine Fehler!« rief er, ganz beseelt von den edelsten Vorsätzen, »wenn du mir treulich hilfst, will ich ihrer schon Herr werden!«

Lotti war mit diesem Bündnisse nicht zufrieden, sie wußte, daß Hermann die Selbstbeherrschung, die es ihm auferlegte, ebensowenig zu bewahren vermochte, wie er die Aufrichtigkeit vertrug, nach welcher er immer verlangte. Seine ganze Natur empörte sich gegen den Zwang, die leiseste Mißbilligung fraß ihm am Herzen, erbitterte ihn, machte ihn unglücklich und überzeugte ihn nie. Was ihn stählte, was alle seine Kräfte entfaltete, das war der Kampf gegen Haß und Verfolgung und der Genuß überschwenglichen Lobes und verhimmelnder Liebe.

»Ich kann nur im Lichte gedeihen, und ihr lebt im Halbdunkel«, rief er einmal nach einer langen Kontroverse mit Gottfried und verließ das Zimmer ohne Abschiedsgruß. Lotti erhob sich lautlos und ging ihm nach. Eine Weile darauf hörte man aus dem Vorgemache sein zorniges Sprechen herübertönen, manchmal unterbrochen durch ihr sanft beschwichtigendes Flehen. Dann wurde die Haustür zugeschlagen, und eine lange Zeit verfloß, bevor Lotti, noch bleich und zitternd, in die Werkstatt zurückkehrte.

Am Abend sprach Feßler zu Gottfried: »Was ich dir sagen wollte: Gib dein Erziehungswerk auf. Den Halwig änderst du nicht. Laß ihn. Ihr ist er ja recht, wie er ist.«

»Aber Vater, er mißhandelt sie.«

Feßler seufzte und zog bedauernd die Achseln in die Höhe. »Seine Mißhandlungen sind ihr lieber als die Liebkosungen eines andern. Das ist so Weiberart.«

Gottfried schwieg und ließ fortan die Dinge gehen, wie sie gingen.

Die Besuche Halwigs wurden immer seltener, und wenn er kam, war er entweder düster und verschlossen oder von einer aufgeregten und erzwungenen Lustigkeit, die unter allen seinen wechselnden Stimmungen Lotti am peinlichsten berührte. In eine solche geriet er einmal, als Feßler über einige Vorbereitungen zur nahenden Hochzeitsfeier sprach, und plötzlich erklärte Lotti ihrem Vater, die Vermählung müsse hinausgeschoben werden.

»Hat er den Vorschlag gemacht?« rief Gottfried.

»Ich wünsche es!« entgegnete sie rasch.

»Warum... Mißtraust du ihm?«

»Vielleicht nur mir«, war ihre Antwort. Scheinbar völlig ruhig begab sie sich an die Arbeit.

Kurze Zeit, nachdem Lotti diesen Entschluß gefaßt, schien Hermann ganz zu ihr zurückzukehren. Er hatte eine große Täuschung erlitten, er fand Trost bei ihr, die seinen Schmerz tiefer empfand als er selbst. Sein gesunkener Mut wurde indessen bald wieder durch neue Erfolge gehoben, und die unausbleiblichen Früchte derselben stellten sich ein. Die Huldigungen, die ihm dargebracht wurden, wollten bezahlt werden, sie forderten ihren Lohn, machten Ansprüche auf die Persönlichkeit, auf die Zeit des Dichters. Verwandte, die sich vor Jahren von ihm losgesagt hatten, erinnerten sich plötzlich, und erinnerten ihn, daß er zu ihnen gehöre. Wenn er von seiner Verlobung mit der Tochter eines Uhrmachers sprach, hörten sie ihn mit der überlegenen Nachsicht an, die gescheite Leute für Künstlerlaunen besitzen. Halwig begann sich einzubilden, daß er seine Braut nur um den Preis schwerer Opfer, harter Kämpfe werde heimführen können. Er ersparte und verschwieg ihr nichts; kein noch so herbes Urteil, das Menschen über sie fällten, die sie nie gesehen, kein Bedenken derjenigen, denen er früher aus dem Wege gegangen und die er jetzt »die Seinen« nannte. Er schrieb diese grausame Offenheit dem unbegrenzten Vertrauen zu, das er für Lotti empfand, und die bestärkte ihn darin. Sie wußte, daß sie seine Liebe verloren hatte, aber den Schatten derselben, dieses Vertrauen, das ihr sein Herz öffnete, sie seine geheimsten Gedanken kennen ließ, an dem hielt sie fest, das hütete sie wie das heilige Feuer, wie ihr Lebenslicht. Als ob ihre Liebe in dem Maße wüchse, in dem die seine abnahm; als ob er sie durch Qual fester an sich ketten würde, wachte sie über dem kleinen Reste seiner Neigung in übermenschlicher Treue und Geduld. Ein Aufflackern seiner erlöschenden Empfindung war ihr, was der Mutter ein Lächeln ihres sterbenden Kindes ist.

Endlich kam die Stunde, in welcher sie ihre Kraft erlahmen fühlte, in welcher ihr glühender Entsagungsmut sie verließ. Nach jahrelangem Ringen erwachte in ihr die unwiderstehliche Sehnsucht nach Frieden. Aber sie wollte diesen nicht mit einem Selbstvorwurf in der Seele dessen erkaufen, den sie so sehr geliebt hatte. Sie tat es an einem Tage, an dem er sich einmal wieder ihr gegenüber so herzlich, so warm, so voll Hingebung und Innigkeit gezeigt wie in der Frühlingszeit ihrer Liebe.

Er war länger verweilt, als er beabsichtigte, und sprang erschrocken auf, als einige Uhren zugleich die fünfte Nachmittagsstunde schlugen.

»Ich sollte längst fort sein!« rief er, »aber gleichviel... Bei dir versäume ich nichts, ich gehe immer reicher, besser, als ich gekommen bin... Ich bin ein Narr, so selten zu kommen.«

Sie traten beide an das geöffnete Fenster, durch welches die sanft bewegte Luft des lauen Herbstabends hereinflutete. Die Sonne hatte sich hinter einer schweren Wolke verborgen, aber ihr Widerschein säumte den Horizont mit Purpurstreifen. Breite, goldige Lichter lagen auf den Dächern der Häuser und behaupteten sich noch siegreich gegen die grauen Dünste, die von den Bergen herzogen und den östlichen Teil der Stadt schon in ihre wallenden Schleier gehüllt hatten. Drüben am Kai jagte Wagen an Wagen vorbei, drängte und tummelte sich das Menschengewühl, indes der Strom lautlos und träge seine trüben Wellen rollte.

»Die Aussicht hab ich lieb«, sprach Halwig, »ich sehe gern das Treiben der großen Stadt so tief unter mir... Dein Vater hat recht, seine hohe, alte Warte nicht zu verlassen, wenn es ihm auch manchmal schwerfallen mag, sie zu erklimmen... Leb wohl – das heißt auf Wiedersehen!«

»Nein, nein«, sagte Lotti hastig, »es heißt leb wohl...« Eine brennende Röte bedeckte ihre Wangen, und sie umspannte mit beiden Händen die Hand, die er ihr gereicht. »Wir wollen scheiden, wir müssen... als gute Freunde, aber für immer. Gib mir mein Wort zurück, wie ich dir das deine zurückgebe, Hermann...«

»Was ficht dich an?« fragte er.

Sein Ton klang vorwurfsvoll, allein ein Blitz feuriger Überraschung, kaum sichtbar für ein anderes Auge als das ihre, hatte während ihrer vorhergehenden Rede in seinem Angesicht aufgeleuchtet.

»Ich kann deine Frau nicht werden«, fuhr sie fort, rascher jetzt und mit fliegendem Atem: »Schon lange wollte ich dir das sagen... Ich ringe schon lange mit mir... Ich kann mich von meinem Vater nicht trennen, kann auch die Lebensweise nicht aufgeben, an die ich gewöhnt bin von Kindheit an... die mir sehr lieb ist...«

»Ich meinte dir noch viel lieber zu sein!« rief er und setzte in unaussprechlicher Verwunderung hinzu: »Du gibst mich auf?!... Du – mich?!«

»Du wirst dich darein fügen – nicht wahr?... Sage nicht, daß es dir unmöglich ist!«

Sie richtete die Augen fest auf ihn, und die seinen senkten sich.

Es flog ihm durch den Sinn, daß sie ihm untreu geworden, daß sie einen andern liebe, aber sogleich mußte er lächeln über diesen Verdacht. Er fragte sich, ob sie ihn auf die Probe stellen wollte, fragte sich auch, ob sie nicht vielleicht seinem Glück, seiner Zukunft ein ungeheures Opfer bringe? Die ruhige Haltung, in der sie vor ihm stand, machte ihn aber auch an dieser Vermutung irre.

Er fuhr aus seinem Brüten auf und sagte mit dem Ausdruck eines echten Schmerzes: »Und wir sollen uns niemals wiedersehen?«

»Doch... wenn wir ganz vernünftig geworden sind.«

»Du bist es schon jetzt!« entgegnete er voll Bitterkeit.

»Und du wirst es werden – wirst mir danken... Laß mir deine Hand! wende dich nicht ab... Du hast keinen Grund, mir zu grollen. Ich befreie dich von einer traurigen Braut, bei der keine Freude zu holen ist –« sagte sie mit einem schwachen Versuch zu lächeln.

Er unterbrach sie, er wollte nicht weiter hören; er erklärte, daß er ein einmal gegebenes Wort nie wieder zurücknehme, und wenn es sein Unglück wäre...

»Wenn es aber auch das meine ist?« fragte sie, und er rief halb zornig, halb verlegen: »Wie du mich mißverstehst!... Wie du nur glauben, es nur für möglich halten kannst, daß ich dich aufgeben werde, ohne Grund... Weißt du denn einen?... Daß ich mich von dir trennen werde – so plötzlich...«

Sie erhob das Haupt. »Wir sind längst getrennt«, sprach sie. »Es ist aus. Frage dich selbst, ob du recht hättest, mich mitzuschleppen durchs ganze Leben, weil du einmal geglaubt hast, mich zu lieben.«

»Geglaubt?... Ich habe dich unaussprechlich geliebt – meine Liebe zu dir war...«

»Sie war!« fiel ihm Lotti mit einem schneidenden Schmerzenston ins Wort, der die Qual ihres Innern verriet. »Täusche dich nicht... Wir wollen die Kraft haben einzugestehen, daß eine Empfindung, die wir für ewig hielten – erloschen ist. Und wir wollen nicht unsere Zukunft auf die erloschene bauen, nicht erwarten, daß ein Glück aus ihr erblühen könne...«

Er starrte sie an und schwieg. Sein Verstand gab ihr recht, sein Herz stimmte ihr bei. Was sich in ihm noch regte und sträubte, das war ein leiser Gewissensvorwurf. Allein auch den vermochte Lotti zu beschwichtigen, indem sie sagte: »Nur die Geliebte scheidet sich von dir – die Freundin bleibt. Die wirst du immer finden. Komm zu ihr, wenn du ein Leid zu klagen hast, wenn du verdrossen bist und schlimmen Mutes. Bedrückte Seelen warten – das verstehe ich, das ist die Kunst, die ich ausübe, das ist meine Virtuosität...«

»Lotti!« rief er überwältigt und zog sie an seine Brust. Plötzlich jedoch ließ er sie aus seinen Armen, warf sich in einen Sessel nieder und brach in heftiges Schluchzen aus. Sie trat zu ihm, beugte sich, ihre Lippen ruhten lange auf seiner Stirn... regungslos, mit geschlossenen Augen, empfing er ihren schwesterlichen Kuß, und ihm war, als senke sich aus seinem innigen Berühren Frieden und Versöhnung in seine kämpfende Seele. Als er aufblickte, fand er sich allein; Lotti war in ihr Zimmer geeilt, und er hörte sie den Riegel vorschieben. Er sprang auf, er rannte zur Tür und pochte und rüttelte daran wie ein Verzweifelter. Kein Laut antwortete seinem Drohen und Flehen.

Endlich mußte er sich ergeben – mußte sich fassen.

»Ich komme wieder, hörst du mich? Ich komme wieder!« sprach er und schritt nach einem letzten Zögern, einem letzten vergeblichen Erwarten, langsam aus dem Gemach.


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