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»Seine Bundesgenossin wären Sie?« fragte Agathe, »indes ich mein Vertrauen in Sie setze?... Nein, nein, das wäre Verrat, dessen Sie nicht fähig sind... Sie halten mir Wort, und wenn Hermann kommt... Aber«, unterbrach sie sich mit einemmal äußerst beunruhigt, »warum ist er nicht da – nicht längst da – – er pflegt sonst nie des Morgens auszugehen, und heute, als ich erwachte, und nach ihm fragte, hieß es, er sei fort... in aller Frühe fortgegangen... unbegreiflich... unbegreiflich –« wiederholte sie, eilte an das Fenster, öffnete es und blickte in gespannter Erwartung auf die Straße hinunter.
Plötzlich überdeckte sich ihr Antlitz mit Purpurglut. »Er kommt!« rief sie jubelnd und schwang ihr Taschentuch in der Luft.
»Sie entschuldigen mich doch, Fräulein, wenn ich ihm entgegengehe?... Ich muß die Freude haben, ihm anzukündigen, daß er Sie hier findet.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, war sie verschwunden.
Mit seltsam gemischten Empfindungen blickte Lotti ihr nach und dachte: Sie liebt ihn – das ist ja viel... für ihn wohl alles...
Eine Weile danach erschien Halwig – ein anderer als derjenige, den Lotti am selben Morgen bei sich gesehen. Freudig und sorgenlos begrüßte er sie, sprach viel, war der liebenswürdigste und aufmerksamste Wirt. Beim Dessert gab er eine lustige Geschichte zum besten, die ihm Papa, dem er unterwegs begegnet, erzählt hatte.
Seine Heiterkeit schien natürlich und ungezwungen, und dennoch, ohne sich erklären zu können, warum, vermochte Lotti nicht recht froh zu werden.
Das Mittagessen war vorüber, und man begab sich zum schwarzen Kaffee nach dem Zimmer des Hausherrn. Es hatte einen eigenen Eingang durch das Vorgemach.
Als Lotti dieses an Hermanns Arme betrat, erhob sich plötzlich ein kleines Männchen von einer der Bänke an der Wand und nahte mit höflicher Begrüßung.
Bei seinem Anblick fuhr Halwig leicht zusammen: »Sie selbst... Sie warten?...«
»Oh, nicht lange. Die Herrschaften hatten schon beinahe abgespeist, als ich kam, und ich beschwor den Diener, Sie nicht zu stören.«
»Treten Sie doch jetzt ein!... Kommen Sie –« sprach Halwig, und Lotti fühlte seinen Arm zucken unter ihrer Hand.
»Wenn Sie erlauben, Herr Baron, allein ich habe Eile... und nur weil der Zufall mich eben hier vorbeigeführt, und um Ihnen die Mühe des Schickens zu ersparen – bin ich da, um... um das Versprochene abzuholen.«
»Kommen Sie denn! – Kommen Sie!...«
»Oh, ich bitte!... Erst die Damen –«
Er stellte sich mit einem langen Schleifschritt seiner schiefen Beine neben die Tür, die Halwig aufgestoßen hatte, und machte ein einladendes Zeichen. Seine vorquellenden Augen leuchteten vor zynischer Bewunderung, als Agathe an ihm vorüberschritt.
»Die Frau Gemahlin?« flüsterte er Halwig vertraulich zu – »ganz superb – ich gratuliere!«
»Einen Augenblick, Fräulein Feßler! – Einen Augenblick, Agathe«, sprach Hermann gepreßt und scharf, und winkte den beiden, an dem Tische Platz zu nehmen, auf welchem der Kaffee serviert war.
Er selbst trat an den Schreibtisch, zog die unterste Lade heraus, nahm ein versiegeltes Paket und reichte es seinem Besucher.
Der ergriff oder vielmehr riß es mit einer hastigen Bewegung an sich.
»Es ist doch das rechte? – Sie verzeihen – ich breche die Siegel... Eine Irrung ist so leicht geschehen.«
»Überzeugen Sie sich«, sagte Halwig in einem Tone, den mühsam bezwungener Ingrimm beben machte.
Der Kleine hatte sich an die Fenstervertiefung begeben und begann dort den Inhalt des Pakets zu untersuchen.
»Alles in Ordnung. Hingegen da – auch alles in Ordnung.« Er überreichte Halwig einen zusammengefalteten Bogen, den dieser auf den Schreibtisch warf. »Nicht so, Herr Baron, bitte sich gleichfalls zu überzeugen. Bitte um pedantische Genauigkeit in Geschäften. Bitte um Vorsicht, bitte sogar um Mißtrauen.«
Er stieß ein leises, widerwärtiges Gekicher aus und blinzelte Halwig halb höhnisch, halb mitleidig an, während der das Schriftstück durchflog.
»Sie sind mit mir zufrieden, hoffe ich. Haben auch alle Ursache. Für Sie ist gesorgt. Wie ich dabei wegkomme, das ist eine andere Frage. Allein für Sie... was täte ich nicht für Sie, Herr Baron?«
Er empfahl sich, von Hermann bis an die Tür begleitet.
Agathe lachte ihm herzlich nach: »Was war denn das für ein Ungeheuer? Oh, Fräulein Feßler, haben Sie seine Füße gesehen und seinen Gang bemerkt?... Mir scheint nein. Warten Sie, ich will das herrliche Schauspiel vor Ihnen erneuern. Sie müssen sich noch einmal daran erquicken. Einwärts! noch einwärtser! so – nicht wahr?«
Sie begann im Zimmer umherzuhumpeln, ihrem Manne entgegen und ließ sich, mit Absicht ausgleitend, in seine Arme fallen. Er umschlang sie und drückte einen langen leidenschaftlichen Kuß auf ihre Lippen.
»Meine Agathe! mein Herz, mein Glück, mein Leben!«
Mit schwerer Selbstüberwindung entzog er sich ihrer Umarmung und trat an ihrer Seite vor Lotti hin.
Diese fragte: »Halwig, war das der Mann, der Ihnen einen Vertrag anbietet, in welchem...«
Er fiel ihr ins Wort: »In welchem ich zehn Jahre meines Lebens verschreibe? Nein. Dem nicht einen Tag. Aber wer hat Ihnen gesagt – du?« wandte er sich an seine Frau, die bejahend nickte und dann sprach: »War's nicht recht?«
»Ganz recht. Wir haben kein Geheimnis vor Fräulein Lotti.«
»Das meinte ich auch und setzte ihr die ganze Angelegenheit auseinander. Sie wird dir ihre Gedanken darüber sagen.«
Halwig hatte ihr zerstreut zugehört: »Ich vergesse, ich habe eine Botschaft von Papa an dich.«
»Der arme Papa, du vergissest ihn immer.«
Die Stirn Hermanns verfinsterte sich einen Augenblick, aber er fuhr fort, ohne etwas auf den Vorwurf zu erwidern: »Deine Eltern sehen heute einige Bekannte beim Tee. Sie zählen auf dich. Sie werden den Wagen schicken, um dich abzuholen. Ich habe in deinem Namen zugesagt. Du wirst meinem Wort doch Ehre machen?«
»Ungern, du weißt, wie lästig mir diese Soireen sind«, entgegnete sie und lehnte die Wange an seine Schulter. »Laß mich bei dir bleiben, Hermann.«
»Was fällt dir ein? Du darfst nicht bleiben. Nicht einmal stören darfst du mich, um mir Lebewohl zu sagen.«
»Nicht einmal Lebewohl?... Fräulein Feßler, ist das nicht hart, nicht unerträglich?... Und diesen Zustand zu verewigen, soll ich noch beitragen, oh, wenn ich das bedenke...«
»Agathe«, rief er heftig und gequält, »du weißt doch... mein Gott, was willst du denn? Geh, liebes Kind«, setzte er bittend hinzu, »du mußt ruhen, ein wenig schlummern, wenn du abends in Gesellschaft sollst. Geh.«
Sie sah ihn traurig und gekränkt an und sprach nach kurzem Schweigen zu Lotti: »Er ist ein Tyrann, und ich gehorche. Liebstes Fräulein, schenken Sie ihm eine Tasse Kaffee ein und ein Gläschen Chartreuse und bleiben Sie noch ein wenig bei ihm«
Sie drückte Lottis Hände, bat sie, recht bald, unendlich bald, spätestens morgen wiederzukommen, und schritt dem Ausgang zu. Aber an der Tür blieb sie stehen, wandte sich, preßte die Finger an ihren Mund und warf mit einer Gebärde voll Innigkeit Hermann einen Kuß zu.
Er erwiderte ihren liebevollen Gruß, und als sie das Zimmer verlassen hatte, starrte er ihr nach, schien wie unwiderstehlich angezogen, ihr folgen zu wollen... aber nach kurzem Kampfe trat er zurück, warf sich in einen Sessel und versank in dumpfes Hinbrüten.
»Sie haben mir noch nichts von dem Erfolg Ihrer heutigen Unterredung gesagt«, begann Lotti zögernd, »und ich wünschte doch sehr...«
»Was Sie soeben gesehen haben – das war der Erfolg«, rief Halwig aus. »Der Ehrenmann, über den Agathe so herzlich gelacht hat, ist derselbe, zu dem ich sagen mußte: Ich kann Ihnen nicht Wort halten, Herr...«
»Und was hat er...«
»Gleichviel... ich habe mich losgekauft. Ich bin frei... frei«, wiederholte er mit einer Beklommenheit, die zu jedem anderen Worte besser gepaßt hätte.
»Halwig – Halwig – womit haben Sie sich losgekauft?«
»Beruhigen Sie sich, beste Freundin! – Auf die einfachste Art. Ich habe ihm ein Manuskript ausgeliefert, das schon vor Jahren in seinen Händen war und das ihm damals abgerungen wurde – durch den tugendhaften Schweitzer, dem ich nebenbei ganz gern ein Zeichen von Unabhängigkeit gebe.«
»Warum hat der es ihm abgerungen?... Antworten Sie nicht! Ich tu's für Sie – und mit mehr Wahrhaftigkeit, als Sie es täten: weil es Ihrer unwürdig ist, unwürdig eines Dichters, eines Priesters, wie der Dichter sein soll, dem ein heiliges Amt hier auf Erden anvertraut ist...«
Eine ungewohnte Strenge sprach aus ihrer Stimme und aus ihren flammenden Zügen. »Oh, glauben Sie nicht, eine verschämte alte Jungfer zu hören, die sich einbildet, ein Mann, ein Schriftsteller, der seine Zeit schildern will, werde die Feder immer nur in Blütenduft und Morgentau tauchen. Ihr habt Furchtbares zu zeichnen, zeichnet es denn mit furchtbarer Kraft und Deutlichkeit, aber auch mit dem tiefinnerlichen Schauder, den euer Schüler, euer Leser bebend mitempfindet. Nur nicht mit dem eklen, im Häßlichen wühlenden Behagen, das sich auf jenen überträgt... Mit dem Behagen, Halwig, das mich – verzeihen Sie mir, es muß ausgesprochen werden –, das mich anwiderte aus dem ersten Buch, das Sie nach unserer Trennung geschrieben haben.«
»Aus dem –« rief er, kämpfend zwischen Bestürzung und Hohn.
»Sie begreifen das nicht«, fuhr Lotti unerbittlich fort, »jenes Buch ist von Ihnen seither so vielfach überboten worden, es ist ein Buch für Kinder im Vergleich zu denen, die ihm folgten. Ich weiß das!« beantwortete sie den Einwurf, den er machen wollte, »aus Anzeigen Ihrer Buchhändler, aus lobpreisenden Kritiken, die ich hie und da, so wenig ich danach suchte, in Zeitungen las... Ich weiß es, können Sie es leugnen?«
Er schwieg und starrte sie mit einem schwachen Lächeln an. Plötzlich warf er sich in seinen Sessel zurück und sagte: »Wissen Sie, was Sie tun? Sie sprechen zu mir wie mein eigenes künstlerisches Gewissen. Aber ich darf die Stimmen nicht hören, nicht die Ihre, nicht die seine. Ich habe einmal den Pegasus vor den Pflug gespannt, und er muß pflügen, muß erwerben. Kann ich dafür, daß die Menschen von jeher die Giftmischer besser zahlten als die Ärzte?... Wär's umgekehrt, ich reichte ihnen Arzenei.«
»Halwig!« schrie Lotti in schmerzlichem Entsetzen auf.
Er richtete sich empor, ein unterdrücktes Schluchzen hob seine Brust. Lotti sah sein Herz pochen gegen sein Gewand. »Beste Freundin, ich bin verloren, machen Sie das Kreuz über mich... Sie schütteln den Kopf, Sie verstehen mich nicht. Der Luxus, der uns umgibt, täuscht Sie, der Luxus lügt, wir leben eigentlich von der Hand in den Mund, ich verdiene viel, aber wir brauchen noch mehr, und ich stehe manchmal ratlos vor kleinen Verlegenheiten. – Ist's nötig, Ihnen das zu beichten?... Sie haben ja den sichtbaren Beweis davon erhalten. Das muß anders werden«, setzte er nach einer Pause peinlichen Nachsinnens hinzu. »Morgen verschreib ich mich dem Teufel. Ich tu es nur deshalb heute noch nicht, weil eine kindische Hoffnung auf ein Wunder sich in mir festgenistet hat...«
»Vielleicht braucht's kein Wunder«, unterbrach ihn Lotti und erhob sich mit einer seltsamen Hast. »Leben Sie wohl.«
»Wie gern möchte ich Sie zurückhalten, aber da«, er deutete auf die Schriften, die seinen Schreibtisch bedeckten, »da ist Gesellschaft, die jede andere verdrängt.«
Sie hörte ihn kaum, sie war mit einem Gedanken beschäftigt... Der Gedanke, der war das Wunder – ein anderes gab es nicht.
Eine Möglichkeit war ihr erschienen – eine Möglichkeit... Alles, was man unfaßbar und widersinnig nennt, wäre Lotti noch vor einer Stunde als selbstverständlich erschienen im Vergleich zu dieser Möglichkeit.