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»Fräulein Feßler?« sprach er, sah sie durchdringend an und verbeugte sich rasch. »Meine Verehrung. Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle. Ich heiße Schweitzer und bin ein Tiroler.« Er lachte, und dabei kamen zwei Reihen Zähne zum Vorschein, so weiß und dicht, daß es eine Freude war.
Lotti und er wechselten einige hergebrachte Redensarten.
»Ja, ich habe viel von Ihnen gehört«, sagte Schweitzer plötzlich mit verändertem Tone, »am meisten vor acht Tagen. Da traf ich Halwig auf dem Wege zu Ihnen. Ein erster Besuch – nach vielen Jahren...«
»Das waren Sie?« versetzte Lotti. »Sie haben ihm damals einen sehr guten Rat gegeben.«
»Hat er mich verklagt?... Ja, ja; mein Rat war gut, zu gut, um befolgt zu werden.«
Lotti schwieg, und er fragte: »Haben Sie sein letztes Buch gelesen?«
»Nein!«
»Lesen Sie es nie!... oder doch – lesen Sie es, und sagen Sie mir dann, ob ich recht habe, ihm zuzurufen: Halt ein!«
»Sie haben recht; ich brauche, um davon überzeugt zu sein, das Buch nicht zu lesen.«
»Ihnen graut! Sie wissen, was Sie zu erwarten hätten. Gut denn, lesen Sie nicht, aber helfen Sie mir. Wirken Sie in meinem Sinne auf ihn ein. Ihr Einfluß ist groß. Ich bin dessen innegeworden, als er neulich nach jener Unterredung mit Ihnen heimkehrte, so ruhig und vernünftig wie er seit langem nicht mehr gewesen ist.«
»Was soll ich tun?«
»Ihn vermögen, der Schriftstellerei für eine Zeitlang Valet zu sagen und eine andere, freilich minder einträgliche Beschäftigung, die ich für ihn im Auge habe, zu ergreifen.« Er unterbrach sich: »Aber darüber sprechen wir noch... Jetzt sagen Sie mir, warum sehen Sie mich so an?«
»Ich wundere mich –« erwiderte Lotti, ein wenig außer Fassung gebracht durch diese Frage.
Er ließ sie nicht weitersprechen.
»Warum?« fiel er ihr ins Wort. »Weil Sie mir glauben? Nun, das geschieht, weil zwischen zwei absolut redlichen Menschen eine Freimaurerei besteht.«
»Vielleicht – aber seltsam scheint es mir, daß auch Sie meinen Einfluß...«
Abermals unterbrach er sie: »Auch ich?... Ganz recht. Ihr Einfluß ist hier bereits angerufen worden – freilich im entgegengesetzten Sinne... von einem schönen Vampyr...«
Er hielt inne. Die Tür hatte sich geöffnet, und Agathe erschien auf der Schwelle.
Sie mußte die letzten Worte gehört haben, es war nicht anders möglich; doch suchte sie offenbar kein Arg in ihnen, denn sie begrüßte den Sprecher derselben mit liebenswürdiger, sogar etwas koketter Freundlichkeit.
Sie hatte sich Zeit zur Toilette gelassen; diese war aber trotzdem nicht ganz beendet. Die Ohrringe fehlten noch und auch das Medaillon, und die Bandschleife am Halse, an welche es befestigt werden sollte. Sie hielt das alles in ihren Händen.
»Nun, lieber Rechtsfreund?« fragte sie, trat an den Pfeilerspiegel und begann eines ihrer zarten rosigen Ohrläppchen zu quälen, um ihm den Schmuck einer erbsengroßen Perle vom schönsten Orient aufzunötigen. »Wie steht unsere Angelegenheit? – Sie bringen eine gute Nachricht, das sehe ich Ihnen an.«
»Sie sehen schlecht, gnädige Frau«, sagte Schweitzer trocken und blickte streng in den Spiegel, aus dem ihr zur Seite geneigtes Gesicht ihn anlächelte.
»Ist der Brief, den wir erwarten, angekommen?«
»Er ist nicht angekommen!«
»Und der Zweck Ihres Besuches, wenn man fragen darf?« Sie wandte sich um und sah spöttisch fragend zu ihm nieder, der sich bei ihrem Eintreten erhoben, jetzt aber seinen früheren Platz auf einem Fauteuil, Lotti gegenüber, wieder eingenommen hatte. »Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, daß nichts anderes Sie hierherführt als die Sehnsucht nach meinem Anblick?«
»Oder der Wunsch, Ihnen Langeweile ins Haus zu tragen? – Nein, ich komme aus einem andern Grunde.«
»Bitte ihn auseinanderzusetzen. In Gegenwart dieser teuren Zeugin da... Ach, Fräulein Feßler, seien Sie doch so gütig...«
Sie reichte Lotti die beiden Enden des Bandes, das sie durch den Ring des Medaillons gezogen hatte, und kniete plötzlich nieder. Lotti beeilte sich, die Schleife über dem schlanken Rücken festzuknüpfen, der sich ihr entgegenbeugte, während Schweitzer dieser ganzen Prozedur mit stillem Grimm zuzusehen schien.
Agathe erhob sich von ihren Knien, um auf ein kleines Kanapee zu gleiten, in dessen Kissen sie sich zurücklehnte.
»Ihren Grund, mein Freund. Reden Sie doch. Sie spannen meine Neugier auf die Folter«, sagte sie, und ein maskiertes Gähnen hob ihre Nasenflügel.
»Ich höre von einem Kontrakt mit einem Buchhändler, den Halwig unterschreiben soll«, begann Schweitzer in ruhigem, nachdrücklichem Tone.
»Daß Sie auch alles hören müssen!« warf Agathe dazwischen.
»Und will ihn daran hindern«, fuhr Schweitzer fort. »Ich habe den Kontrakt nicht gesehen, aber ich weiß, wer ihn ausgestellt hat, und das ist mir genug. Es kann auch Ihnen genug sein. Glauben Sie mir, gnädige Frau, Sie sind eine so zärtliche Gattin, raten Sie Ihrem Mann, sich doch lieber an einen Sklavenhändler zu verkaufen, er kommt dabei weniger zu Schaden.«
»Sie sind einzig, lieber Freund! Also, nicht gelesen – den Kontrakt? Da komme ich doch einmal im Leben in die Gelegenheit, Sie zu belehren. Der Verleger, den Sie verabscheuen – der Arme! – fordert zehn Jahre hindurch alljährlich drei Bände... Ich erinnere mich jetzt«, schaltete sie ein, zu Lotti gewendet. »Ist das zuviel?... Für Hermann, sage ich Ihnen, ist das nichts...«
»Drei Bände!« rief Schweitzer, »und sie brauchen nicht einmal sehr dick zu sein, wenn sie nur recht viel Skandal enthalten, nur einige Seiten, auf denen das Unsagbare gesagt wird – nur ein einziges Kapitel, das von Dingen handelt... Dingen – die man in Gegenwart verehrter Frauen –« er sah Lotti fest an und neigte den Kopf, »nicht nennt.«
»Da haben Sie den ganzen Schweitzer!« versetzte Agathe mit ihrem hellsten Lachen und mit der siegreichen Überlegenheit des Gleichmuts über den aufbrausenden Zorn. »Sehen Sie, Fräulein Feßler, wie er mich mißhandelt, mein Freund, mein strenger, grausamer, aber alleraufrichtigster Freund.«
Und dabei neigte sie sich vor und blickte ihm von unten hinauf ins Gesicht, lockend, herausfordernd, als wollte sie ihn ganz einhüllen in Bezauberung, sie, die junge, schöne, glänzende Frau, den alternden, schlichten Mann, dessen Züge etwas Steinernes annahmen und der in hartem Tone sprach: »An wem ist Ihnen mehr gelegen? An diesem aufrichtigen Freund oder an Ihrem blauen Papagei?«
»Keine Gewissensfragen! Kommen Sie mir jetzt nicht mit Gewissensfragen! Bleiben wir bei der Stange. Aufrichtig! wenn ich bitten darf.« Sie wurde ernst und sprach in kaltem und geschäftsmäßigem Tone: »Sie sind gegen die Unterschrift, weil Sie nicht zweifeln, daß uns bald auf andere Art aus der Verlegenheit geholfen wird... Leugnen Sie doch nicht! – Unser Prozeß steht gut – er kann nur gut stehen, sagt Hermann, der gewiß kein Sanguiniker ist...«
»Sagt Hermann, daß es mit dem Prozeß gut steht? – Das sagt er Ihnen? Warum nicht lieber mir, den es trösten würde? denn ich sehe schwarz in der Sache, ich halte sie für verloren, und Hermann wäre meiner Meinung, wenn er den Gang der Angelegenheiten verfolgt hätte. Aber dazu hat er keine Zeit. Er hört mich gar nicht an, wenn ich relationieren komme.«
»Sie müssen wissen«, fuhr Schweitzer, zu Lotti gewendet, fort, »daß Halwig eine sehr gerechte Forderung an die Enkel eines Gutsbesitzers in Mecklenburg stellt, dem sein Großvater dereinst ein ansehnliches Darlehn gemacht. Die Summe war auf dem Gute intabuliert, es scheinen Interessen davon gezahlt worden zu sein, allein im Testamente des alten Herrn von Halwig blieb sie unerwähnt. Sein Sohn machte wohl sein Recht geltend, jedoch mit wenig Nachdruck, schläfrig und halb, wie er alles zu tun pflegte. Der Mecklenburger war inzwischen in zerrütteten Vermögensverhältnissen gestorben. Seine Kinder legten nicht besonderen Eifer an den Tag, sich der Schulden zu entledigen, die ihr Vater ihnen hinterlassen... und so vererbten sich Verpflichtung und Forderung auf die Kinder dieser Kinder, und auf den Sohn jenes Sohnes. Ich erspare Ihnen eine juridische Auseinandersetzung, ich sage nur, daß Halwigs Recht so klar ist wie der Tag und daß ich überzeugt war, es zur Geltung bringen zu können, als ich selbst ihn bestimmte, die schon aufgegebene Sache wiederaufzunehmen und mir ihre Führung getrost zu überlassen... Nun – ich habe vergeblich gerungen. Ich werde dem Rechte nicht zum Sieg verhelfen. Ich erkläre das meinem Klienten, so oft ich ihn sehe. Aber machen Sie einem Menschen etwas begreiflich, was er nicht begreifen will – entwurzeln Sie eine Hoffnung, welche durch die Furcht vor Verzweiflung eingepflanzt worden ist...«
Agathe horchte seinen Worten mit verhaltenem Atem.
»Sie selbst«, sagte sie jetzt, »haben die Hoffnung, die Sie ihm nehmen wollen, noch nicht verloren. Jener Brief von Ihrem Abgesandten, den Sie erwarten, kann günstige Nachrichten bringen... Jenen Brief«, sie blickte ihn forschend an, »erwarteten Sie, wenn ich nicht irre, schon gestern...
Lieber Freund, wenn der Brief fortfährt, auszubleiben – oder wenn er eintrifft, mit schlechten Nachrichten beladen – dann, lieber Freund, dann liebes Fräulein Feßler –« sie ergriff Lottis Hand und hielt sie angstvoll mit ihren Fingern umklammert –, »dann muß Hermann den Kontrakt unterschreiben. – Meinen Eltern muß geholfen werden. Sehen Sie das nicht ein, Sie beide!... Haben Sie nicht auch Eltern gehabt, die Sie liebten?... Denken Sie an Ihren Vater, Fräulein Feßler, Hermann hat mir so viel von ihm erzählt, daß ich meine, ihn gekannt zu haben. – Denken Sie an Ihre Mutter, Schweitzer, der Sie so viele Opfer gebracht... Fragen Sie sich, hätten Sie nicht Ihre Seele für Vater und Mutter verkauft?«
Lotti wollte sprechen, aber Schweitzer schnitt ihr das Wort ab: »Meine Seele vielleicht – die eines andern? – Nein!«
»So spricht ein Junggesell. Mann und Weib sind eins, und ich erkläre denn... aber wie lächerlich, wie lächerlich sind wir mit unserem Seelenverkauf! Als ob sich's darum handelte!... Hören Sie meinen unwiderruflichen Entschluß: Wenn der Prozeß günstig für uns entschieden wird, dann zerreiße ich den Kontrakt mit meinen eigenen Händen – die Sie dann küssen werden, Schweitzer! – Wir kaufen sofort das Gut meiner Eltern, ziehen uns dahin zurück und sind glücklich, wie wir es schon einmal waren – in England auf dem Lande... Mein Herr Gemahl wird mir zu Ehren noch ein Sportsmann. Man sieht ihn niemals anders als im roten Frack oder im Jagdrock mit grünen Aufschlägen... und nirgends anders als bei mir... und immer zu Pferd, zu Wagen oder auf der Pirsch – immer nur bemüht, mich zu bezaubern... Das gelingt ihm – hingerissen falle ich meinem Helden, meinem Ritter in die Arme. Unter einem Holunderbusch und vielen Wonnetränen schwören wir uns täglich ewige Liebe!«
Sie sagte das schalkhaft, übermütig, und dabei lag doch in ihren Augen eine geheimnisvolle Wehmut, eine sehnsüchtige Zärtlichkeit, die zu all den Scherzen nicht paßten.
Schweitzer saß aufrecht und steif vor ihr wie die Statue eines Pharaonen und starrte sie selbstvergessen an.
Sie fuhr fort: »Wir könnten selig sein. Selig, einander endlich anzugehören, endlich füreinander zu leben. Das geschieht hier nicht, in der widerwärtigen Stadt. Auf dem Lande, und wenn Hermann noch soviel zu tun hätte, bliebe ihm mehr Zeit für mich. Hier vergehen Tage, an denen ich ihn nicht sehe, das halbe Stündchen ausgenommen, das wir bei Tische zubringen. Und wovon spricht er da? Von Büchern, Zeitungen, Rezensionen... Ich frage mich oft: Habe ich einen Mann geheiratet oder eine Schreibmaschine?«
»Das fühlen Sie?« rief Schweitzer, »und könnten sich doch entschließen, dieser ohnehin überbürdeten Maschine, deren Motor ein Menschengeist ist, neue Lasten aufzudrängen?«
»Ich tu es nicht, Freund! ich nicht! – Die Notwendigkeit tut es. Was mich betrifft, ich hasse die Schreiberei. Hinge es von mir ab – Hermann brauchte nie wieder eine Feder anzurühren... Da kommen Leute zu ihm – Literaten, die sagen, schriftstellern sei unweiblich. Ich möchte immer erwidern: Nein, meine Herren – unmännlich ist's! Männlich ist Löwen und Tiger jagen, auf einem Seil über den Niagara wegschreiten, Schlachten gewinnen, Städte bauen... aber weißes Papier schwarz machen... bah!... O lieber, lieber Freund! wenn Sie nur recht wollten, Sie könnten uns aus aller Not und Drangsal erretten – man sagt, Sie hätten noch nie einen Prozeß verloren...«
Wieder beugte sie sich zu ihm, sah ihm schmeichelnd ins Gesicht und legte ihre Fingerspitzen auf seinen Arm.
Er erhob sich rasch: »Daß doch alle Weiber... verzeihen Sie, alle – Frauen gleich sind! daß doch jede meint, den Advokaten gewinnen, hieße den Prozeß gewinnen... Ich blieb so lange – kann Hermann leider nicht erwarten – so gern ich auch...«
Er hatte seine Taschenuhr hervorgezogen, und Lotti sah, obwohl sie wahrlich in dem Augenblick nicht an Uhren dachte, daß es nur eine silberne Remontoir von einfachster Arbeit war.
Agathe holte seinen breitkrempigen Hut herbei und reichte ihm denselben mit einer feierlichen Gebärde.
»Leben Sie wohl, Gebieter über unsere Schicksale!« sagte sie, »und nochmals! wenn Sie wiederkehren, bringen Sie uns das Glück in Gestalt eines Briefes aus Mecklenburg in der Tasche Ihres wunderschönen Überziehers mit.«
Er verbeugte sich, trat vor Lotti hin und sprach: »Vergessen Sie nicht, daß wir Bundesgenossen sind.«
Damit verließ er das Gemach.