Marie von Ebner-Eschenbach
Lotti, die Uhrmacherin
Marie von Ebner-Eschenbach

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5

Vor fünfzehn Jahren, an einem Winternachmittage, war ein junger Mann in der Werkstätte Feßlers erschienen und hatte ihm eine alte Uhr gebracht, mit der Bitte, sie zu schätzen. Während Feßler die Uhr betrachtete, betrachtete der junge Mann ihn so aufmerksam, wie ein Maler tut, der sich das Bild eines Menschen, den er aus dem Gedächtnis malen soll, einzuprägen sucht.

»Dies ist«, sprach Feßler, nachdem er seine lange und sorgfältige Untersuchung beendet hatte, »ein kostbares Stück.« Er rief seine Tochter herbei, um auch ihre Meinung zu hören.

»Wie?« sprach der Fremde ein wenig spöttisch und sehr erstaunt, »sind Sie Kennerin, mein Fräulein?«

Lotti fühlte den Blick auf sich ruhen, mit dem fast alle jungen Männer, denen sie zum ersten Male begegnete, sie ansahen; den Blick, der deutlich fragt: Was willst du in der Welt? und an den ein nicht hübsches Mädchen sich gewöhnen muß.

Sie nahm die Uhr aus der Hand ihres Vaters und erkannte in derselben sogleich einen Taschenchronometer von Emmery mit Mudgescher Hemmung.

Der Fremde lachte herzlich auf, als sie das sagte.

»Ist's richtig, Herr Feßler?«

»Ganz richtig«, erwiderte dieser, unangenehm berührt von dem über Gebühr zutraulichen Wesen des jungen Mannes, der, an die Seite Lottis tretend, in seinem früheren Tone fortfuhr: »Sie können mir vielleicht auch sagen, was diese Uhr wert ist?«

Lotti schüttelte den Kopf. »Was sie jetzt wert ist, kann ich nicht sagen; als sie neu war, sind gewiß nicht weniger als 150 Guineen für sie bezahlt worden.«

»Als sie neu war? Und wann mag das gewesen sein?«

»Vor siebzig Jahren etwa.«

»Ich bewundere Sie!« rief der junge Mann äußerst belustigt; »das alles erkennen Sie so auf den ersten Blick?... Jetzt aber die letzte, wichtigste Frage: Wieviel ist sie heute, wieviel ist sie Ihnen wert?« fügte er zu Feßler gewendet hinzu.

»Sie wäre mir sehr viel wert, wenn ich nicht schon eine ganz ähnliche besäße«, entgegnete dieser.

»Ah! in Ihrer Sammlung?... Wenn Sie doch wüßten, Herr Feßler, wieviel Gutes und Schönes ich schon von ihr gehört habe... von dieser Sammlung, und wie glücklich ich wäre, sie kennenzulernen... Wenn Sie das wüßten – Sie würden mir den elenden Vorwand verzeihen, den ich gebraucht habe, um mich bei Ihnen einzuschleichen.«

Er legte eine gründliche Beichte ab.

Er hieß Hermann von Halwig, war ein kleiner Beamter und nebenbei ein ganz kleiner Poet und arbeitete eben an einer Novelle, in welcher eine alte Uhr eine große Rolle zu spielen hatte. Die mußte geschildert werden, und um das zu können, brauchte er ein Modell, brauchte er vor allem einige fachmännische Kenntnis.

»Nehmen Sie mich ein wenig in die Lehre, bester Meister«, schloß er, »würdigen Sie mich eines Einblicks in Ihre Sammlung – Ihr Heiligtum, wie ich höre. – Daß ich ein ausgezeichneter Schüler sein werde, das verspreche ich nicht, aber ein dankbarer bin ich gewiß!«

Feßler sah den hübschen blonden Gesellen ein Weilchen nachdenklich an. Ihm gefielen seine fröhlichen blauen Augen und die sorglose Sicherheit, das muntere Selbstvertrauen, mit denen er sich auf die Reise durchs Leben zu begeben schien. Schweigend holte der alte Mann einige schöne Exemplare aus der Sammlung herbei und begann die Eigentümlichkeiten und Vorzüge derselben mit der Wärme eines Liebhabers auseinanderzusetzen.

Halwig unterbrach ihn anfangs sehr oft; er konnte die Scherze nicht unterdrücken, die ihm alle Augenblicke auf die Lippen traten. Allmählich jedoch wurde er still. Das herablassende und oberflächliche Interesse, das er für einige »Favoritinnen aus dem Uhrenharem« gezeigt, verwandelte sich in ein gespanntes. Den Kopf in die Hand gestützt, sah er bald die Uhren auf dem Tische, bald den Meister, zuletzt nur noch diesen an, und dabei erhellte der Ausdruck einer so innigen Freude und Verehrung seine Züge, daß Feßler dachte: Dem Burschen könnt ich gut sein – trotz des Leichtsinns, mit dem er vorgab, eine Emmery verkaufen zu wollen.

Der Bursche aber richtete sich plötzlich auf. »Was für Augen haben Sie!« rief er, »was kann Ihnen ein Rädchen, eine Spindel, ein Ornament, ein Stückchen Email nicht alles erzählen! Was für Augen und was für ein Herz... Sie sind ein Künstler!...«

Er deutete nach dem Schranke, dem Feßler die Uhren entnommen. »Das Kästchen dort ist für Sie, was für einen Poeten ein Schrein voll der köstlichsten Werke großer Dichter, die vor ihm gelebt. Eine schweigende, tote Welt, die ein Blick zum Dasein erweckt, zu einem mächtigern, schönern Dasein als das sogenannte wirkliche... Ein Blick – ein sehender, der Blick des Verständnisses muß es sein... Nicht wahr, lieber Meister? – Verständnis ist alles – Weisheit, Liebe, Poesie... Nach dem allein haben wir zu ringen, die wir uns einbilden, Dichter zu sein... An Stoffen fehlt's, höre ich die Leute sagen. – Begreife das Begreifbare, und aus allem, was dich umgibt, dringt die Fülle bildsamen Stoffes auf dich ein, und wenn es dir an etwas fehlt, so ist's an Kraft, die wogenden Quellen zu fassen und sie zu leiten an ein gewolltes Ziel!«

Er sprang auf, ergriff die Hand Feßlers, nannte ihn einen edlen, einen seltenen, einen herrlichen Mann und verabschiedete sich mit der Bitte, recht bald wiederkommen zu dürfen. Und er kam wieder, kam täglich, ganze Wochen hindurch, und wenn er ja einmal ausblieb, bedauerte dies niemand mehr als Feßler. Lotti sprach überhaupt nicht von ihm, vermied es sogar, seinen Namen zu nennen, und was Gottfried betraf, der meinte, es sei nicht übel, zwölf Stunden lang Ruhe zu haben in der Werkstatt. Er leugnete nicht, daß Halwig eine große Unterhaltungsgabe besitze, allein für seinen Geschmack machte »der Poet« einen gar zu häufigen Gebrauch davon.

»Wenn ich am Sonntag Unterhaltung habe, ist mir's genug, täglich Unterhaltung ist mir zuviel«, sagte er und bewies es, indem er begann, das Haus zu den Stunden zu verlassen, in denen Halwig es zu besuchen pflegte. Dieser zeigte sich darüber gekränkt. Er war nicht gewöhnt, gemieden zu werden; er tat sich etwas zugute auf die Macht, die ihm über die Gemüter der Menschen gegeben war. Keiner, um dessen Neigung er sich beworben, hatte ihm widerstanden, er hatte immer gehört und geglaubt, daß man ihn liebhaben müsse, wenn er es darauf angelegt. Bitter beklagte er sich bei Lotti über die Steifheit und Kälte ihres Vetters, versicherte, trotzig wie ein verwöhntes Kind, er werfe seine Freundschaft niemandem an den Kopf, und wenn Gottfried ihn hasse, so zahle er ihn mit gleicher Münze. Sobald sich jener aber blicken ließ, kam er ihm wieder mit der alten und – darüber konnte kein Zweifel sein – aufrichtigen Wärme entgegen. Er bemühte sich, sein Interesse zu erwecken, ihm Teilnahme einzuflößen, er warb förmlich um ihn. Alle liebenswürdigen Eigenschaften seines beweglichen, frischen, herzgewinnenden Wesens kamen dabei zum Vorschein, rührten aber denjenigen nicht, dem zu Ehren sie sich in ihrem vollsten Glanze zeigten.

Eines Tages war Gottfried, mit einer dringenden Arbeit beschäftigt, von früh bis abends daheim geblieben und hatte im Eifer seines Fleißes die Stunde versäumt, zu welcher er jetzt regelmäßig seinen Rückzug vor dem »Luxusartikel«, wie er Halwig nannte, anzutreten pflegte.

Zum Bewußtsein der Zeit wurde er durch Lotti gebracht, die eine Lampe auf den Tisch stellte und ihn mahnte, Feierabend zu machen.

»Ist es denn so spät?« fragte er.

»Spät und nicht mehr hell, du verdirbst dir die Augen.«

»Was liegt daran? – Was liegt an mir?« sprach er halblaut vor sich hin, wie einer, der, plötzlich geweckt, aus dem Schlafe redet. Er stöhnte schmerzlich auf und preßte beide Hände gegen die Stirn.

Lotti wurde feuerrot; schweigend, mit einer Gebärde der Mißbilligung wandte sie sich ab. Der Vater hatte seine allabendliche Zimmerpromenade unterbrochen, war vor Gottfried stehengeblieben und fragte, was ihm fehle.

»Nichts«, erhielt er zur Antwort, »nur die Augen sind mir ein wenig müde geworden.«

»Gönn dir Ruhe«, sagte Feßler, »mach es mir nach, ich spaziere schon lange müßig auf und ab und hätte ganz gut noch eine Weile schaffen können – die Tage wachsen, der Frühling kommt heran... Ja, der kommt, man darf auf ihn zählen, der kommt. Wer aber ausbleibt«, schloß er alte Mann seine Betrachtungen, »das ist unser Hofpoet... In drei Tagen hat er sich nicht blicken lassen, und auch heute – seine Stunde ist vorbei – er kommt nicht mehr.«

»Um so besser!« rief Gottfried, »ich wollte, wir wären für immer von ihm befreit.«

»Befreit! – Ist das dein Ernst?...«

»Leider ja«, versetzte Lotti, und ein tiefer Groll sprach aus ihrer erregten Stimme.

Gottfried erhob den Kopf: »Was sagst du?«

»Daß du ungerecht bist, zum erstenmal in deinem Leben; ungerecht und grausam gegen einen edlen und guten Menschen... Es ist herzlos und tut ihm weh – gerade von dir – denn du bist es ja...« ihre Lippen zitterten, der Ausdruck des bittersten Schmerzes zuckte über ihr Gesicht, »der ihm der Liebste ist von uns allen...«

Sie hielt tief atmend inne, Gottfried murmelte ein zorniges Wort, und der Vater stand in stummer Betroffenheit vor seinen beiden Kindern. In einer bisher ahnungslosen Seele dämmerte das Bewußtsein zerstörter Hoffnungen, eines nahenden Unglücks auf. Eh er sich's versah, bevor ihm zu einer Befürchtung Zeit geblieben, war der Friede aus seinem stillen Hause entwichen und aus den Herzen seiner Kinder...

In dem Augenblicke wurde an der Hausglocke gestürmt, bald darauf durcheilten leichte Schritte das Vorgemach.

»Da ist er doch«, sagte Feßler.

Halwig erschien auf der Schwelle, er schwenkte seinen Hut und sah so glücklich aus, als ob er eben eine Welt erobert hätte.


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