Hans Dominik
Das stählerne Geheimnis
Hans Dominik

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Um die sechste Abendstunde wurde die Nachricht in New York bekannt. Gellend schrien die Zeitungsboys die letzte Ausgabe ihrer Blätter mit einer neuen Schlagzeile aus.

»Vertrag zwischen Grand Corporation und Roddington-Konzern unterschrieben. J. W. Roddington bekommt hundert Millionen! Gibt die Geschäfte auf!«

Es war die Zeit des Büroschlusses, zu der die Wolkenkratzer der City sich leeren. Eine vieltausendköpfige Menge füllte die Straßen, und trotz des nichtsnutzigen Februarwetters blieben zahlreiche Passanten stehen, um die noch druckfeuchten Blätter zu kaufen.

»Der Vertrag mit der Grand Corporation perfekt« – das war immerhin eine Sache, um derentwillen man einen Augenblick länger in dem kalten Regen und Schlackerschnee verweilen konnte. In den Straßen- und Untergrundbahnen wurde der Inhalt der Abendblätter von Tausenden besprochen und kommentiert.

Also stimmten die Gerüchte doch, die schon seit Wochen umliefen und die bisher niemand recht glauben wollte. James William Roddington verzichtete wirklich darauf, den großen von seinem Vater begründeten Konzern weiter zu führen. Wie oft hatte die Grand Corporation es früher versucht, den Konzern zu schlucken, und wie übel war jeder dieser Versuche für sie abgelaufen! Mit Krallen und Zähnen hatte Roddington senior sein Lebenswerk verteidigt, bis ein tödlicher Unfall ihn vor Jahresfrist jäh aus seinem Schaffen riß. Mit dreißig Jahren war James William Roddington, sein einziger Sohn, der Erbe der riesigen zu diesem Trust gehörenden Werke geworden. Mit größtem Interesse hatte man in der amerikanischen Hochfinanz damals den Thronwechsel im Hause Roddington verfolgt, erwartungsvoll, wie die zweite Generation sich bewähren würde. Und nun führte der Sohn Verhandlungen mit den alten Gegnern seines Vaters, bereit, jetzt das zu tun, was dieser stets verabscheut hatte.

An der Tatsache ließ sich nicht mehr zweifeln. Übereinstimmend berichteten die Abendzeitungen, daß der Kaufvertrag zwischen den Vertretern der Corporation und Mr. Roger Blake, dem Bevollmächtigten von James William Roddington, am Nachmittag um fünf Uhr dreißig Minuten im Cleveland Building in New York unterzeichnet worden war. Um so mehr beschäftigte die Frage nach dem Warum die öffentliche Meinung.

Wollte Roddington junior etwa mit den Millionen, die ihm durch den Verkauf zuflossen, etwas Neues, ganz Großes unternehmen, von dem die Welt noch nichts ahnte? Plante er irgendwelche Börsentransaktionen, um an anderer Stelle eine Macht zu erringen, größer und gewaltiger noch als die, die er soeben mit seinem Konzern aus der Hand gab?

Oder hatte er doch, wie ein anderes Gerücht wissen wollte, die Absicht, sich mit seinen Millionen so jung noch zur Ruhe zu setzen und das tatenlose Leben eines reichen Müßiggängers zu führen? Daß er jetzt mit seiner Jacht irgendwo in fernen Meeren umherschwamm und den Abschluß des wichtigen Vertrages seinem Bevollmächtigten überließ, konnte vielleicht als eine Bestätigung dafür gelten.

Wie gründlich mochten die Herren der Grand Corporation die günstige Gelegenheit ausgenutzt haben und jetzt über den schwächlichen Erben des alten Roddington lachen! Unbegreiflich erschien seine Handlungsweise den Unzähligen, die sich an diesem Abend damit beschäftigten. Eine Erklärung dafür vermochte niemand zu finden.

*

Die öffentliche Meinung befand sich im Irrtum, wenn sie annahm, daß James William Roddington bei der Transaktion mit der Grand Corporation übervorteilt worden sei. Satz für Satz hatte er selbst den Kaufvertrag so entworfen, wie er ihn haben wollte, und seinen Bevollmächtigten Roger Blake mit einer genau vorgeschriebenen Marschroute an den Verhandlungstisch geschickt. Die Corporation hatte nur zwei Möglichkeiten: entweder den Vertragsentwurf Roddingtons unverändert anzunehmen oder die Verhandlungen scheitern zu lassen.

In den langen Wochen, durch welche die Verhandlungen sich hinzogen, war das den Leitern der Corporation klargeworden, und an jenem Februarnachmittag hatten sie sich endlich entschlossen, ihre Unterschriften neben diejenige von Blake unter den Vertrag zu setzen. Sie bekamen nicht alles, was sie haben wollten, und sie mußten für das, was sie erhielten, hoch und bar bezahlen.

So war die Laune von Mr. Price, dem Präsidenten der Corporation, nicht die allerbeste, als Frank Dickinson auf seine Einladung zu ihm kam. Frank Dickinson, der schon unter dem alten Roddington jahrelang Chefingenieur des Konzerns war und dessen unvergleichliche Tüchtigkeit nicht wenig zum Aufblühen des Konzerns beigetragen hatte. Ihn jetzt für die Corporation zu gewinnen, war der dringende Wunsch von Mr. Price, und deshalb hatte er ihn zu sich gebeten.

»Ich denke, Mr. Dickinson«, eröffnete er die Unterhaltung, »daß Sie bereit sind, Ihre alten Werke auch nach dem Übergang in unsere Gesellschaft weiter zu leiten. Ich wollte mit Ihnen über eine Erneuerung des Vertrages sprechen.«

Frank Dickinson legte ein Schriftstück auf den Tisch.

»Verzeihung, Mr. Price, es wäre nicht nötig, den Vertrag zu erneuern, er würde noch auf zwei Jahre laufen, wenn nicht . . .«

»Ich weiß, Mr. Dickinson«, fiel ihm der Präsident ins Wort, »Sie wollen sagen, wenn er nicht von Ihrer Seite gekündigt wird. Ich nehme nicht an, daß Sie daran denken. Aber wir möchten in unserer Gesellschaft in jeder Beziehung klare Verhältnisse haben. Ich schlage Ihnen deshalb vor, sofort in beiderseitigem Übereinkommen einen neuen Vertrag für die nächsten fünf Jahre mit uns zu schließen. Einen Entwurf dafür habe ich hier.«

Mit diesen Worten brachte Mr. Price auch seinerseits ein Schriftstück zum Vorschein, das nach Umfang und Inhalt dem vor Dickinson liegenden ziemlich ähnlich war. Er schlug es auf und schickte sich an es zu verlesen, als die Erwiderung des Chefingenieurs dazwischenkam.

»Sie irren sich, Mr. Price, ich habe in der Tat daran gedacht, den alten Vertrag zu kündigen. Mein Brief wurde vor zwei Stunden eingeschrieben an Sie aufgegeben, hier ist der Postschein darüber. Morgen früh spätestens dürfte mein Schreiben in Ihren Händen sein.«

Der Präsident der Corporation schnappte nach Luft, bevor er sich zu der Frage aufraffte: »Warum haben Sie das getan?«

»Ich tat es, als ich erfuhr, daß die Stahlwerke in Trenton im Besitz meines Freundes Roddington bleiben. Im anderen Falle hätte ich gern ein neues Abkommen mit Ihnen getroffen.«

Präsident Price biß sich auf die Lippen. Das war wieder dieselbe verwünschte Sache, um die er so lange und so erbittert mit Roger Blake gekämpft hatte. Alle die andern großen Anlagen des Roddington-Konzerns, die Automobilfabrik in Albany, die Flugzeugwerke in Oswego, die Lokomotivwerkstätten in Milwaukee, hatte die Corporation bekommen, die Stahlwerke in Trenton hatte James William Roddington sich ausdrücklich vorbehalten. Jetzt kam ihm auch der Chefingenieur mit den Trenton-Werken, auf die seine Gesellschaft so ungern verzichtet hatte. Erst nach längerem Überlegen antwortete Price.

»Ich glaube, Mr. Dickinson, es müßte Sie mehr reizen, ein Dutzend der größten Werke bei uns zu leiten, als ein einziges wenig bedeutendes Stahlwerk unter Mr. Roddington. Schon aus materiellen Gründen . . .«, fuhr er lebhafter fort, »das Trenton-Werk kann unmöglich ein Gehalt tragen, wie wir es Ihnen zu bieten willens sind.«

Ein leichtes Lächeln lief über die Züge Dickinsons, während er antwortete.

»Wir wollen uns über das Portemonnaie Roddingtons nicht den Kopf zerbrechen, Mr. Price. Ich habe Ihrer Einladung zu dieser Besprechung nur Folge geleistet, um nicht unhöflich zu erscheinen. Mein Entschluß steht unverrückbar fest. Ich bleibe bei Roddington und übernehme die Führung seiner Stahlwerke in Trenton. In der Stahlfabrikation werden wir Ihnen Konkurrenz machen, Mr. Price, aber deshalb brauchen wir noch nicht Feinde zu werden.«

Er erhob sich und streckte Price die Rechte hin. Auch der stand auf.

»Ist das Ihr letztes Wort, Dickinson?«

»Mein letztes, Mr. Price. Leben Sie wohl.« –

Price blieb allein in seinem Zimmer zurück. Verdrossen zerrte er an seinem buschigen grauen Schnurrbart und starrte mißmutig auf den Vertragsentwurf, der nun zwecklos geworden war.

»Genau so stur wie Blake ist der Mensch«, knurrte er vor sich hin, als es klopfte. Direktor Curtis trat ein, und er kam Price gerade recht, um sich seinen Ärger von der Leber zu reden.

»Hören Sie, Curtis, Dickinson will nicht zu uns kommen. Er hat seinen Vertrag gekündigt, geht nach Trenton.«

Curtis sah den Präsidenten verdutzt an.

»Verstehe ich recht, Mr. Price? Dickinson nimmt unseren Vertrag nicht an? Glänzendere Bedingungen kann ihm niemand in den Staaten bieten.«

Price schob den Vertragsentwurf brüsk beiseite.

»Er hat sie nicht einmal angehört, Curtis. Gleich zu Beginn unserer Unterredung sagte er mir klipp und klar, daß er mit Roddington zusammenbleibt.«

»Hm!« Curtis fuhr sich nachdenklich über die Stirn. »Dahinter muß etwas Besonderes stecken.«

»Richtig, Mr. Curtis!« knurrte Price. »Aber was dahintersteckt, müssen wir schleunigst herausbekommen. Setzen Sie unsere besten Leute an diese Aufgabe. Wenn Roddington den Kampf mit der Corporation will, soll er ihn schneller haben, als ihm vielleicht lieb ist.«

Direktor Curtis war eigentlich gekommen, um ein paar Verwaltungsfragen mit Price zu besprechen, doch bei der augenblicklichen Stimmung des Präsidenten zog er es vor, die Sache auf ein andermal zu verschieben.

»Ich werde Palmer mit der Angelegenheit beauftragen«, sagte er und verabschiedete sich.

*

Mit leichtem Wiegen durchschnitt ein weißer Schiffsrumpf die tiefblauen Wasser des Stillen Ozeans. Es war die »Blue Star«, die Jacht Roddingtons, die unter halbem Dampf östlich von Mindanao kreuzte. Ein Sonnensegel über dem Achterdeck gab Schutz vor den Strahlen des Tagesgestirns, deren Wärme in der zehnten Vormittagsstunde schon recht fühlbar war. Eine leichte Ostbrise wehte von dem in der Ferne eben noch sichtbaren Land her und brachte einen leichten Duft von den Gewürzinseln mit sich.

Im Schatten des Segels saßen zwei Personen in bequemen Deckstühlen neben einem Tisch, auf dem eisgekühlte Getränke und andere Erfrischungen standen. Von der Brücke her kam ein Funkergast die Treppen hinunter und ging zum Achterdeck.

»Ein Funkspruch vom ›Seabird‹, Sir«, meldete er. Mit einer lässigen Bewegung nahm einer der beiden Herren ihm die Depesche ab. Das war James William Roddington, der Mann, über den sich die Einwohner der Hudson-Metropole vor einigen Tagen so sehr die Köpfe zerbrochen hatten. Eine sportgestählte Gestalt im blauen Dreß des Jachtklubs von New York, ein energisches klares Gesicht, ein Paar kühle, scharfe Augen, aus denen ein Strom von Energie strahlte. Der Mann sah nicht danach aus, als ob er sein Leben von nun an in zwecklosem Müßiggang verbringen wolle, aber er hatte auch nichts von dem Geschäftsmäßigen und Hastenden an sich, das für die Dollarjäger der New-Yorker City so typisch ist. Wer ihn nicht näher kannte, der hätte ihn wohl für einen Seemann von Beruf, etwa für den Kapitän der Jacht, halten können. Ohne sich zu übereilen, öffnete er die Depesche, überflog ihren Inhalt und legte sie danach auf den Tisch.

»Ist es was Wichtiges, Mr. Roddington?« ertönte es von dem andern Stuhl her. Die Frage kam aus dem Munde eines Mannes, der im Gegensatz zu Roddington den ausgesprochenen Typus des Gelehrten vertrat. Eine hohe Stirn, durchgeistigte Züge, kurzsichtige Augen hinter scharfen Brillengläsern sprachen dafür, und ein üppiges Haupthaar, das schon seit längerem für die Schere eines Friseurs reif war, verstärkte den Eindruck. Daß es ein Deutscher war, wurde unverkennbar, sobald er den Mund auftat, denn bei jedem Wort, das er sagte, schlug der deutsche Akzent durch.

»Blake und Dickinson kommen mit dem ›Seabird‹, Doktor Wegener. Das Flugzeug wird in einer halben Stunde hier sein«, beantwortete ihm Roddington seine Frage.

»Oh, Dickinson kommt hierher, Mr. Roddington?« Dr. Wegener griff wieder nach einem Heft voller Zahlen und Formeln, in dem er schon vor dem Eintreffen des Funkspruchs geblättert hatte. »Hoffentlich bringt er die neuesten Analysen aus Trenton mit!«

»Ich bat ihn, sie mitzubringen, Doktor Wegener. Nach den letzten Mitteilungen Dickinsons sind unsere Schmelzproben dem besten Stahl der Corporation um vierzig Prozent überlegen.«

»Um vierzig Prozent? All right, Mr. Roddington.« Dr. Wegener griff zum Bleistift und begann die wenigen Seiten in seinem Heft, die noch unbeschrieben waren, mit neuen Berechnungen und Formeln zu bedecken. –

In das leise Atmen der Schiffmaschinen mischte sich das Tacken von Flugzeugmotoren. In großer Höhe kam von Westen her der »Seabird« heran. In langem Gleitflug ging er nieder und setzte dicht neben der Jacht auf die schwach bewegte Wasserfläche auf. Trossen wurden übergeworfen, zwei Personen verließen das Flugzeug und kamen an Bord der »Blue Star«. Am Fallreep empfing sie Roddington und zog sich mit ihnen in seine Kabine zurück. Eine kurze Begrüßung, und die Besprechung begann. Aus seiner Aktentasche nahm Roger Blake ein größeres Schriftstück und legte es vor Roddington auf den Tisch.

»Hier ist der Vertrag, Sir.«

James Roddington blätterte in dem Dokument. »Wie nahm man den Passus über die Stahlwerke in Trenton auf?« fragte er Blake.

»Natürlich mit mehr als gemischten Gefühlen. Er gefiel den Herren gar nicht. Man befürchtet wohl, daß Sie in Trenton Vergrößerungen planen, die der Corporation unbequem werden könnten. Man wollte deswegen allerlei Klauseln in den Vertrag bringen. Erst als ich erklärte, dann die Verhandlungen abbrechen zu müssen, entschlossen sich die Direktoren der Corporation zur Unterschrift.«

Roddington blätterte in den letzten Seiten des Vertrages.

»Der Kaufpreis, Blake . . .?«

»Wurde in vierprozentigen Bonds der Vereinigten Staaten hinterlegt.« Roger Blake holte weitere Papiere aus seiner Aktentasche. »Hier sind die Bescheinigungen der National Reserve Bank darüber.«

Roddington tat den Vertrag und die Belege in seinen Schrank, dem er ein anderes Schriftstück entnahm.

»Gut, Blake, die Sache geht in Ordnung. Sie bleiben auch weiterhin mein Generalbevollmächtigter. Hier ist Ihr neuer Vertrag. Lesen Sie ihn nebenan im Rauchzimmer in Ruhe durch.«

Sobald Blake den Raum verlassen hatte, wandte sich Roddington an Frank Dickinson.

»So, mein lieber Frank, jetzt haben wir beide miteinander zu reden. In großen Zügen weißt du, was ich vorhabe. Bist du mit der Corporation klar auseinandergekommen?«

Dickinson nickte. »Jawohl, James, ich habe der Corporation gekündigt und Mr. Price gegenüber die Unterschrift eines neuen Vertrages abgelehnt. Es war keine sehr angenehme Viertelstunde, in der ich ihm das klarmachen mußte. Es ging ihm nur sehr schwer ein.«

Wie in einer plötzlichen Aufwallung drückte Roddington die Rechte des Chefingenieurs.

»Das werde ich dir nicht vergessen, Frank. Dort die Corporation mit verlockenden Angeboten und hier ein Mann, der im Begriff steht, sein ganzes Vermögen auf eine Karte zu setzen und vielleicht zu verlieren, die Wahl ist dir gewiß nicht leicht geworden.«

Kräftig erwiderte Dickinson den Händedruck des andern, während er sagte: »Da war überhaupt keine Wahl nötig. Ich war von dem Augenblick an entschlossen, mit dir zu gehen, als du mir das erstemal von deinen Plänen sprachst. So ganz scheinst du mich doch noch nicht zu kennen, James. Kannst du dir nicht vorstellen, daß man es schließlich überdrüssig wird, nach hergebrachtem Schema Automobile, Flugzeuge und Lokomotiven zu fabrizieren? Daß es etwas anderes Schöneres gibt, als im alten Trott weiterzuarbeiten . . . daß auch ich den Drang in mir fühle, etwas Neues, Bahnbrechendes zu schaffen?«

Roddington sah ihn verwundert an. So lebhaft, fast begeistert hatte er seinen Freund bisher noch nicht sprechen hören. Nur zögernd kamen die nächsten Worte über seine Lippen.

»Zwischen uns beiden, Frank, soll dann der alte Vertrag weiter laufen, den du der Corporation gekündigt hast?«

Dickinson machte eine abweisende Handbewegung.

»Das kannst du halten, wie du willst, James. Wenn ich auf Verträge aus wäre, hätte ich sie mit der Corporation schließen können. Hier geht's mir nur um die große Aufgabe. Dein Wort genügt mir.«

»Gut, Frank, dann wollen wir jetzt über deine nächsten Aufgaben sprechen.« Roddington holte aus seinem Schrank einen Stoß von Papieren, die er vor Dickinson ausbreitete. Es waren die Zeichnungen und Berechnungen für neue Anlagen in Trenton. Projekte so groß und gewaltig, daß Dickinson im ersten Augenblick der Atem stockte. Länger als eine Stunde saßen die beiden über diesen Plänen zusammen. Zahlen und immer wieder Zahlen flogen in Rede und Gegenrede zwischen ihnen hin und her. Zahlen, welche die zu investierenden Summen angaben, und andere Zahlen, welche die Eigenschaften des neuen Stahles betrafen.

Der Kopf schwindelte Frank Dickinson, als das Gespräch zu Ende ging. Wie einen kostbaren Schatz barg er alle die Dokumente in einer Mappe, die Roddington ihm zum Schluß übergab. Nicht nur diese nahm er mit, sondern auch Vollmachten, die es ihm gestatteten, in Trenton sofort mit unbegrenzten Mitteln die Errichtung der neuen Anlagen zu beginnen.

Dann mahnte das Spiel der stärker schlagenden Propeller zum Aufbruch. Eine Minute noch schäumte die See vor den Schwimmern, dann hob sich das Flugzeug von der blauen Fläche ab und stürmte mit voller Maschinenkraft nach Osten. Es trug Frank Dickinson und Roger Blake nach den Vereinigten Staaten zurück.

*

Dr. Wegener erfreute sich bei den Wachoffizieren der »Blue Star« keiner besonderen Beliebtheit. Sie hatten ihn zuerst als eine komische Figur, als einen überstudierten Dutchman, betrachtet und versucht, ihn zur Zielscheibe für bisweilen etwas derbe seemännische Scherze zu machen, aber die Lust dazu war ihnen schnell vergangen. Der deutsche Doktor hatte eine Art, den Betreffenden so merkwürdig durchdringend anzusehen und so sarkastisch zu antworten, daß er sich die Achtung erzwang, die man ihm anfangs verweigern wollte.

Jetzt hatte man an Bord der »Blue Star« Respekt vor ihm, aber man sah es jedesmal mit stillem Verdruß, wenn er mit seinen Instrumenten auf die Brücke der Jacht kam und etwa den Schiffsort überraschend schnell und genau feststellte. Am liebsten hätte man ihn dort überhaupt nicht geduldet, aber leider stand auch noch eine andere Autorität hinter dem Dutchman. James William Roddington hatte einen schriftlichen Befehl erlassen, daß alle Anordnungen seines Freundes ebenso auszuführen seien wie seine eigenen. Bisher hatte Dr. Wegener von dieser Vollmacht nur selten Gebrauch gemacht, dann aber auch durch die eigenartige zwingende Gewalt, die von seiner Person ausging, die Erfüllung seiner Anweisungen schnell und restlos durchgesetzt. –

Nach dem Dinner erschien Dr. Wegener wieder auf der Brücke der »Blue Star«, bepackt mit allerlei merkwürdigen blinkenden Instrumenten. Mit einem kurzen Gruß an den Zweiten Offizier, MacClure, der gerade die Wache hatte, ging er zu seinem gewohnten Platz an Steuerbord. Auf einem Tischchen baute er dort die Apparate auf und machte es sich in einem Sessel davor bequem.

Gleichmütig schritt MacClure auf der Brücke hin und her. Nur bisweilen warf er einen schiefen Blick auf Dr. Wegener und beobachtete, wie der mit seinen Instrumenten hantierte und dazu Notizen auf einem Schreibblock machte. Was für einen neuen wissenschaftlichen Humbug mochte der Deutsche da wieder vorhaben! Schon seit geraumer Zeit lag der Bleistift unbenutzt neben dem Block. Wie fasziniert starrte Dr. Wegener auf die Skalen seiner Instrumente. Jetzt sprang er auf, griff nach einem Fernglas und begann den Horizont nach allen Seiten abzusuchen.

»Verrückter Dutchman«, murmelte MacClure durch die Zähne, »weit und breit kein Schiff in Sicht. Was sucht der mit seinem . . .?«

Er schrak zusammen. Das letzte Wort blieb ihm im Halse stecken. Mit einem jähen Sprung war der Doktor an seiner Seite und schrie ihm einen Befehl ins Gesicht.

»Ruder hart backbord!«

Ohne erst das Kommando des Wachoffiziers abzuwarten, führte der Rudergast das Manöver aus. Derweil lag die Hand Dr. Wegeners schon an dem Griff des Maschinentelegraphen. Rasselnd dröhnte der Befehl »Volldampf voraus!« nach unten.

In kurzem scharfem Bogen stellte die »Blue Star« sich auf den neuen Kurs, stärker schlugen ihre Schrauben unter dem vollen Druck das Wasser.

Erst jetzt kam MacClure zur vollen Besinnung. Er wollte etwas sagen, in dem neuen Befehl, den Dr. Wegener ihm entgegenrief, ging es unter.

»Die Besatzung und die Passagiere alarmieren! Alle Mann unter Deck!«

Zwei-, dreimal mußte er es hinausschreien, bevor MacClure es begriff und den Befehl durch den Telegraphen unter Deck gab. Der wollte etwas sagen, wollte fragen. Dr. Wegener hatte keine Zeit, ihm zu antworten. Nur mit der Hand deutete er nach vorn, schob jetzt den Rudergänger beiseite, griff in die Speichen des Apparates und steuerte selbst.

MacClure schaute in die gewiesene Richtung, und sein Herzschlag stockte. Wie eine haushohe Wand lief es von vorn her mit unheimlicher Schnelligkeit auf die Jacht zu. –

Und dann war es da. Genau senkrecht schnitt der Bug der »Blue Star« unter der Führung des Doktors in den grünglasigen Wasserberg hinein. Die Jacht erhielt einen Stoß, daß sie in allen ihren Verbänden krachte. So tief war sie unter Wasser, daß die See in ihre Schornsteine eindrang und die Kesselfeuerungen löschte. Unrettbar wäre das Schiff verloren gewesen, gepackt, zerschmettert und in die Tiefe gerissen, wenn die heranbrausende Riesenwoge es nicht genau von vorn in der Richtung des geringsten Widerstandes getroffen hätte. Nur so vermochte sein Auftrieb sich nach überstandenem Anprall auszuwirken, es arbeitete sich wieder nach oben. Das blaugrüne Dunkel um Dr. Wegener wurde lichter. Schäumend und brodelnd wie ein Niagara strömte die Flut nach allen Seiten von dem Verdeck ab.

Der Untergang war vermieden, aber wie eine Nußschale tanzte die Jacht auf der schaumbedeckten, in wilder Dünung auf und ab wogenden See. Sie gehorchte dem Steuer nicht mehr, weil sie bei dem fürchterlichen Zusammenprall mit der Flutwoge alle Fahrt verloren hatte. Wie ein Spielball wurde sie auf dem entfesselten Ozean hin und her geworfen, jede der schwer heranrollenden Wogen konnte immer noch zur Katastrophe führen.

Dr. Wegener ließ das zwecklos gewordene Steuer fahren und gab durch den Telegraphen neue Befehle nach unten.

»Die Feuerungen in Ordnung bringen! Dampf aufmachen! Volle Fahrt voraus!« –

Kommandos, die niemand befolgte. Aus dem Schacht zum Kesselraum taumelte das Maschinenpersonal auf Deck, weißer Dampf quoll hinter ihnen her. Geblendet und halb verbrüht waren sie nach oben geflohen, als die Sintflut in die Feuerungen hereinbrach und alles in brodelnden Dampf hüllte. Noch halb von Sinnen starrten sie auf das Bild der Verwüstung, das sich hier oben ihren Blicken bot. Alle Rettungsboote weggeschlagen, ein Teil der Decksaufbauten zertrümmert . . . sie hörten die Befehle nicht, die ihnen Dr. Wegener von der Brücke her zubrüllte, bis seine Stimme sich heiser überschrie. –

Eine Hand legte sich auf dessen Schulter. Roddington stand neben ihm.

»Was ist, Doktor Wegener?«

»Runter mit den Kerls, Roddington! An die Kessel mit ihnen! Dampf machen, Fahrt machen, trifft uns die nächste Welle dwars, sind wir erledigt.«

Ohne ein Wort zu erwidern, stürmte Roddington von der Brücke. Seine Gegenwart und seine Stimme brachten die Leute wieder zu Sinnen. Unter seiner Führung drangen sie in den Kesselraum vor. Noch umwogten sie dichte Dampfschwaden, während sie über die schmale eiserne Leiter hinabstiegen. Bis über die Knie wateten sie unten in dem heißen Wasser, aber es gelang ihnen, sich bis zum Maschinenraum durchzutasten. Die Ventilatoren kamen wieder in Gang, Frischluft drang nach unten und verjagte den Dampf. Die Kessel hatten noch einen Druck, der genügte, um die Pumpen in Betrieb zu nehmen. In breitem Schwall schleuderten sie die trübe heiße Flut in die See, welche die Kessel- und Maschinenräume überschwemmte.

Ein Hantieren danach an Ventilen und Düsen. Die Ölbrenner flammten wieder auf, zischend wie feurige Zungen leckten ihre Flammen durch die Feuerungen. Von Sekunde zu Sekunde wuchs ihr Brausen und Brummen, nun brannten sie wieder mit voller Kraft. Vor den Kesseln stand Roddington und blickte auf die Manometer. Zusehends stieg der Druck. Nicht mehr lange, und man würde die beiden Hauptmaschinen der Jacht wieder angehen lassen können. –

Dr. Wegener fand einen Augenblick Zeit sich umzuschauen und sah, daß er allein auf der Brücke stand. Verschwunden waren der Wachoffizier und der Rudergänger, fortgerissen, über Bord gespült von der ersten Riesenwoge, welche die Jacht traf. Nur dadurch, daß er selbst in jenem Moment verhältnismäßig geschützt hinter dem Ruderrad stand, war er dem gleichen Schicksal entgangen.

Sein Blick ging in die Runde. In wolkenloser Bläue wie ein Azurschild wölbte sich der Himmel über ihm, aber schaumig grau und wild kochte die See. Nach allen Richtungen liefen die Wogen durcheinander. Dabei war die Luft fast völlig unbewegt. Es war kein Sturm, der die Wasser aufpeitschte. Irgendeine andere unsichtbare, unheimliche Kraft mußte es sein, die den Ozean in wilden Zuckungen erbeben ließ. –

Von der Seite her lief wieder eine schwere Welle an. Dumpf dröhnte es durch den Rumpf der »Blue Star«, als die Wassermasse sie an Backbord traf. Im Augenblick des Anpralles kämmte die Woge über. Donnernd stürzten ungezählte Tonnen weiß brodelnden Wassers auf das Deck der Jacht, schwer legte das Schiff sich unter dem gewaltigen Druck auf die Seite.

Wie ein Rasender zerrte Dr. Wegener den Hebel des Maschinentelegraphen hin und her, immer wieder riß er ihn auf das Kommando »Volldampf voraus!« Wie ein Alarmsignal schrillte die Telegraphenglocke durch das Schiff, bis die unten bei den Maschinen endlich den Befehl ausführten. Die Schrauben der »Blue Star« begannen sich zu drehen, langsam kam das Schiff auf Fahrt und gehorchte wieder dem Steuer.

Höchste Zeit war es, daß das geschah, denn Steuerbord voraus stürmte schon wieder eine schwere See an. In letzter Minute gelang es dem Doktor, die Jacht zu wenden und den Stoß mit dem Schiffsbug aufzufangen. So ging der Anprall glimpflich ab, doch es war noch längst nicht der letzte. In immer neuen Stößen erbebte das Weltmeer, unaufhörlich mußte er den Kurs ändern, um das Schiff vor der Vernichtung durch die aufgeregten Wassermassen zu bewahren.

Er wußte es selber kaum mehr, wie lange er hier auf der Brücke stand, wie oft er wieder und immer wieder die »Blue Star« dicht am Untergang vorbeisteuerte. Waren es Minuten, waren es Stunden, er hätte es nicht zu sagen vermocht. Wie aus weiter Ferne drang die Stimme Roddingtons an sein Ohr. Der hatte inzwischen mit der Besatzung in den Maschinen- und Kesselräumen Ordnung geschafft und kam jetzt mit dem Ersten Offizier und einem Matrosen auf die Brücke zurück. Seine Hände griffen neben denen des Doktors in die Speichen des Ruderapparates.

»Lassen Sie mir das Steuer, Doktor Wegener. Ich kenne die Jacht genau. Ich denke, wir kommen mit ihr durch.«

Der Doktor trat zurück und lehnte sich an die Wand des Kartenhauses. Erst jetzt, von der ungeheuren Verantwortung befreit, spürte er, wie erschöpft er war, fühlte auch, daß er keinen trockenen Faden mehr am Leibe hatte. Seine Knie begannen zu zittern, matt ließ er sich in einen Sessel niedersinken. –

Die Zeit verrann. Allmählich fühlte er seine Kräfte wiederkehren.

Durch halb geschlossene Lider sah er, wie Roddington die Jacht meisterhaft führte, und empfand auch, daß der Aufruhr der Elemente langsam nachließ. Flacher wurden die Wogen, weniger wild liefen sie durcheinander. Nur noch eine starke Dünung wurde es schließlich, die für das steuerfähige Schiff keine unmittelbare Gefahr mehr bedeutete.

Roddington überließ das Ruder einem Mann der Besatzung, Dr. Wegener hörte, wie er mit dem Ersten Offizier einige Worte sprach, sah ihn in das Kartenhaus hineinkommen.

»Wo ist MacClure?« fragte er. Roddington deutete mit einer vielsagenden Bewegung nach achtern. Der Doktor ließ den Kopf sinken. Er wußte, was es bedeutete, bei solcher See über Bord gerissen zu werden.

»Noch mehr Verluste, Roddington?« fragte er nach einer drückenden Pause.

»Wenigstens kein Leben, Doktor. Kapitän Powell liegt mit gebrochenem Oberschenkel in seiner Kabine. Er stürzte von der Grating, als er zur Brücke wollte. Sonst ist niemand ernstlich verletzt. Ein paar Beulen und blaue Flecke zählen nicht.«

Roddington warf einen langen Blick auf die Verwüstungen an Deck.

»Die ›Blue Star‹ ist übel mitgenommen. Wir müssen auf schnellstem Wege Manila anlaufen. Kapitän Powell gehört in ein Krankenhaus, und die Jacht bedarf einer gründlichen Überholung.«

Dr. Wegener stützte den Kopf in die rechte Hand.

»Danken wir unserm Schöpfer, Roddington, daß wir so gnädig davongekommen sind. Das war ein Seebeben, von dem man an den Küsten des Pazifik noch lange sprechen wird. Wir hatten gut und gern sechstausend Meter Wasser unter uns, als der Teufel losging. Wie mächtig muß der Seeboden gebebt haben, wie gewaltig muß er sich verschoben und verlagert haben, wenn es sechs Kilometer darüber noch solche Sturzwellen geben konnte.«

»Sie sprechen von Verlagerungen des Seebodens«, fiel ihm Roddington ins Wort.

»Schwere Verlagerungen, Mr. Roddington. Wir werden sie später feststellen müssen. Vielleicht hat dies gewaltige Naturereignis alle unsere Pläne unmöglich gemacht . . . vielleicht aber auch . . . ich sehe da eine Möglichkeit . . . könnten unsere Absichten dadurch eine unerwartete Förderung erfahren haben.«

»Sie glauben, Doktor Wegener?«

»Im Augenblick läßt sich gar nichts sagen, Mr. Roddington, ich bin auch der Meinung, daß wir erst einmal Manila anlaufen und alles andere einer späteren Untersuchung überlassen. Es wird nötig sein, daß wir dafür unsere Einrichtungen an Bord noch vervollständigen. Was wir dazu brauchen, können wir in Manila bekommen.« –

Mit Volldampf steuerte die ›Blue Star‹ nach Norden, zwei Tage später erreichte sie Manila. Die Jacht war nicht das einzige Schiff, das bei dem großen Seebeben schwere Havarien davontrug. Zahlreiche Seedampfer lagen dort schon im Hafen, alle mehr oder minder schwer beschädigt. Viele andere galten als verschollen . . . verloren. Ein verzweifeltes SOS war das letzte, was man in den Stunden der Katastrophe von ihnen gehört hatte.

*

»Kommen Sie sofort zu mir, Palmer!« beendete Präsident Price das Telephongespräch und warf den Hörer auf die Gabel, daß es knallte. Erregt sprang er auf und lief in seinem Arbeitszimmer im fünfundzwanzigsten Stock des Cleveland Building hin und her, bis ein Boy ihm die Karte von George Palmer hereinbrachte.

Gleich danach betrat der Gemeldete den Raum. Price schüttelte ihm die Hand.

»Setzen Sie sich, Palmer. Hier sind Zigarren, bedienen Sie sich und schießen Sie los! Was gibt es Neues in Trenton?«

»Allerlei, Mr. Price. Im Betrieb der Trenton-Werke werden Veränderungen vorgenommen, die der Corporation auf die Dauer nicht gleichgültig sein können.«

»Hm! So?! Was haben Sie darüber in Erfahrung gebracht?«

»Es gelang mir in Trenton, Fühlung mit einem Werkmeister zu nehmen, der für Zehndollarnoten nicht unempfänglich ist.«

Price zuckte die Achseln.

»Ein Werkmeister? . . . Glauben Sie, daß Frank Dickinson einem simplen Werkmeister die Geheimnisse der Trenton-Werke auf die Nase bindet?«

»Die Bekanntschaft mit einem Oberingenieur der Werke wäre mir natürlich auch lieber gewesen, Mr. Price, aber dazu bot sich bisher noch keine Gelegenheit. Immerhin ist auch das, was ich von Werkmeister Campell erfuhr, nicht uninteressant.« Während Palmer sprach, holte er ein Blatt mit allerlei Aufzeichnungen hervor. »Da wäre zuerst zu berichten, Mr. Price, daß Dickinson zehn große Elektroöfen aufstellen läßt, die nach dem Hammerstein-Dahlström-Verfahren arbeiten sollen. Das neue Schmelzverfahren, die Erfindung eines deutschen Ingenieurs Hammerstein und von einem Schweden Dahlström weiterentwickelt, soll einen Qualitätsstahl höchster Güte liefern.«

Price hatte sich weit vorgebeugt und schaute sein Gegenüber starr an.

»So! So?! Das wußte Ihr Werkmeister in Trenton?«

»Er wußte noch mehr, Mr. Price. Jeder der neuen Öfen hat eine Leistung von zweihundert Tonnen Stahl pro Tag. Macht bei zehn Öfen zweitausend Tonnen tägliche Ausbeute.«

Price rieb sich das Kinn, während er über das eben Gehörte nachdachte. »Zweitausend Tonnen pro Tag, sagen Sie, Palmer . . . macht einige siebenhunderttausend Tonnen im Jahr. Wo wollen die Trenton-Werke mit dem Segen hin? Wo wollen sie Absatz für diese Mengen finden?«

Palmer zuckte die Achseln.

»Darüber konnte mir mein Gewährsmann noch nichts sagen. Aber er wußte, daß neben der alten Gießhalle in Trenton ein Neubau von mehr als hundert Meter Länge im Entstehen begriffen ist. Man könnte danach vermuten, daß die Werke große Aufträge auf Stahlguß an der Hand haben.«

Palmer schwieg, im Kopfe des Direktors wirbelten die eben gehörten Zahlen durcheinander.

»Weiter, Mann! Weiter! Sie müssen doch noch mehr darüber gehört haben.«

Ich habe dir schon einen ganzen Sack voll Nachrichten auf den Tisch gelegt, dachte Palmer bei sich, während er antwortete: »Ich möchte Sie nicht mit Dingen behelligen, Mr. Price, die vorläufig mehr auf Vermutungen als auf Tatsachen beruhen.«

»Raus damit, immer 'raus damit, Palmer!« fiel ihm Price ins Wort. »Auch Vermutungen können wertvoll für uns sein.«

Nach kurzem Überlegen sprach Palmer weiter. »Es könnte sein, daß man in Trenton in der neuen Halle nach einem Schleudergußverfahren arbeiten will . . .«

»Verrückt muß Dickinson sein, vollkommen verrückt!« fiel ihm Price ins Wort.

Palmer fuhr fort. ». . . und es sieht fast so aus, als ob es sich dabei um Gußstücke von ganz ungewöhnlichen Ausmaßen handeln könnte, um Stücke, Mr. Price, von mehr als hundert Meter in der Länge.«

»Weiter, Palmer! Weiter!« kam es ungeduldig von den Lippen des Direktors.

Palmer warf den Rest seiner Zigarre in den Aschbecher und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn.

»Ich bin fertig, Mr. Price. Sie haben mich ausgepreßt wie eine Zitrone, jetzt wissen Sie alles, was ich zu sagen hatte.«

Eine Weile saß Price überlegend da. Plötzlich fragte er unvermittelt.

»Ist Ihre Person in Trenton sehr bekannt, Palmer?«

»Außer dem Direktor Dickinson und Werkmeister Campell kennt mich dort niemand.«

»Hm, Palmer . . . für die nächsten Monate entbinde ich Sie von jeder anderen Tätigkeit für die Corporation. Es wird Ihre alleinige Aufgabe sein, die Vorgänge in Trenton zu beobachten und mir laufend darüber zu berichten. Vielleicht gelingt es Ihnen dort noch andere nützliche Bekanntschaften zu machen.«

Price griff nach einem Schreibblock, warf ein paar Zeilen auf das Papier und schob das Blatt Palmer hin.

»Senden Sie Ihre Berichte an diese Adresse. Sie können dieselbe Chiffre weiterbenutzen, in der Sie uns Ihre Berichte aus Milwaukee zukommen ließen.«

Palmer stand auf und empfahl sich. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als Price zum Telephon griff und längere Gespräche mit seinen Kollegen Gilbert und Curtis führte. Die Mitteilungen, die er eben von George Palmer, einem seiner tüchtigsten Leute aus der Nachrichtenabteilung der Corporation, bekommen hatte, erregten ihn viel stärker, als er es diesen merken ließ, und er war entschlossen, beizeiten seine Maßnahmen zu treffen.

*

Einen Monat nach dem großen Seebeben befand sich die »Blue Star« ungefähr wieder an der gleichen Stelle, an der sie damals von dem gewaltigen Naturereignis überrascht wurde. Während eines mehrwöchigen Aufenthaltes im Hafen von Manila waren alle Beschädigungen, welche die Jacht in jenem Aufruhr der Elemente davongetragen hatte, beseitigt worden. Vollzählig hingen die Rettungsboote wieder in den Davits, und in neuem Farbenschmuck schimmerten die Decksaufbauten. Kapitän Powell war noch nicht an Bord, er machte eben unter Benutzung eines Krückstockes die ersten Gehversuche in Manila. An seiner Statt hatte vorläufig der Erste Offizier, George Royer, die Führung der Jacht übernommen. Als es Mittag glaste, erschien er auf der Brücke, um seine Wache anzutreten. Grüßend legte er die Hand an die Mütze, als er im Kartenhaus Roddington zusammen mit Dr. Wegener erblickte.

Die beiden saßen an einem Tisch und beschäftigten sich mit einem Apparat, der während des letzten Aufenthaltes in Manila in die »Blue Star« eingebaut worden war. Die Jacht hatte zu dem Zweck sogar ins Trockendock gemußt. Mittschiffs, etwa ein Meter unter der Wasserlinie, hatte man dort auf Steuer- und auf Backbord mit dem Schweißbrenner zwei kreisrunde Löcher in den Rumpf der Jacht geschnitten, und zwei gußeiserne Gehäuse waren in die so gewonnenen Öffnungen eingefügt worden. Kabelleitungen führten von diesen zu einer Stromquelle im Schiffsinnern und weiter zu dem blinkenden Instrument im Kartenhaus, über dem Roddington und Dr. Wegener jetzt die Köpfe zusammensteckten.

Während der Erste Offizier auf der Brücke hin und her schritt, sah er, wie Dr. Wegener eine blanke Messingtaste niederdrückte, und glaubte im gleichen Augenblick ein Geräusch, ähnlich einem Schuß oder einer Detonation, zu hören, das von Steuerbord her aus dem Wasser zu kommen schien. Mit einer kurzen Schulterbewegung setzte er seinen Gang fort. So konnte er nicht mehr beobachten, wie Roddington und Dr. Wegener verwundert auf die Skalenscheibe des Apparates blickten, auf der ein Zeiger bei der Zahl 9800 stehengeblieben war.

Als Leutnant Royer am Steuerbordende der Brücke angekommen war und eben kehrtmachte, hörte er zum zweitenmal einen Knall aus dem Wasser herauf. Als er wieder auf der Mitte der Brücke vor dem Kartenhaus stand, wurde er von Roddington angerufen.

»Sie wünschen, Mr. Roddington?«

»Bitte, nehmen Sie noch einmal ein neues Besteck, Mister Royer.«

Kopfschüttelnd griff der Offizier nach dem Sextanten, was sollte dieser Befehl? Hatte doch sein Vorgänger auf der Brücke erst vor einer knappen Viertelstunde das Mittagsbesteck genommen und den Schiffsort danach in die Seekarte eingetragen.

Mit einem wenig freundlichen Blick auf Dr. Wegener machte er sich an die Arbeit und kam nach kurzer Zeit mit einem Blatt Papier, auf dem ein paar Zahlen standen, in das Kartenhaus zurück.

»Bitte, Mr. Roddington, hier ist die Ortsbestimmung, neun Grad vierzig Minuten Nord, einhundertsechsundzwanzig Grad fünfzehn Minuten Ost.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Royer«, sagte Roddington. Der Wachoffizier ging wieder auf die Brücke hinaus. Fragend schauten sich Wegener und Roddington an.

»Was halten Sie davon Doktor Wegener?« brach Roddington das Schweigen.

»Betrachten wir die Tatsachen, Mr. Roddington. Die eben von Royer gemachte Ortsbestimmung ist zweifellos genau. Die Seekarte gibt hier eine Meerestiefe von sechstausend Meter an. Die Angabe ist unbedingt zuverlässig. Die Lotungen stammen von dem deutschen Vermessungsschiff ›Emden‹. Die Lotungen, die wir eben nach dem Echoverfahren vornahmen, gaben eine Tiefe von neuntausendachthundert Meter. Also ist nur der einzige Schluß möglich, daß der Meeresgrund sich hier während des großen Seebebens um dreitausendachthundert Meter gesenkt hat.«

Roddington sprang auf. »Ist etwas Derartiges denkbar, Doktor Wegener? Eine Bodensenkung um fast vier Kilometer? Haben Sie eine Erklärung dafür?«

Der Deutsche strich sich mit beiden Händen durch seinen Schopf.

»Ich will es versuchen, Mr. Roddington, Ihnen die Sache in Kürze zu erklären. Es gibt da eine sehr plausible Theorie, die vor Jahren von einem Namensvetter von mir aufgestellt wurde. Die Philippinen treiben unter der Wirkung von Flutkräften langsam, aber stetig nach Westen, und auf ihrer Ostseite muß sich dabei zwangsläufig ein Einbruchgraben bilden. Es ist die sogenannte Emdentiefe, über der wir uns hier bereits befinden. Etwas weiter nach Osten hat die ›Emden‹ schon vor Jahren die größte überhaupt bekannte Tiefe mit mehr als zehn Kilometer gelotet. Das letzte große Seebeben war das äußere Anzeichen dafür, daß die Geschichte inzwischen noch weiter nach unten gesackt ist. Solch ein Einbruchgraben ist wie ein Sprung in einem Glase. Ist er erst einmal da, hat er die Neigung, immer tiefer zu reißen.«

Roddington nickte. »Ich verstehe Sie, Doktor . . . wie wird's da weiter östlich aussehen?«

Dr. Wegener zuckte die Achseln.

»Das läßt sich nicht voraussagen, Mr. Roddington. Vielleicht hat sich der Seeboden dort gehoben, vielleicht ist er noch tiefer gesunken. Wir müssen weiterfahren und loten, bis wir die tiefste Stelle haben. Je tiefer, desto besser für unsere Zwecke.« –

Während der nächsten Stunden kamen Roddington und Dr. Wegener nicht von der Brücke. Längst hatte Royer die Wache an den nächsten Offizier abgegeben, nicht ohne ihm dabei ein paar kritische Bemerkungen über das Tun und Treiben Roddingtons und des deutschen Doktors zuzuraunen. Schon kam die Nacht herauf, aber sie hinderte die beiden nicht, ihre Messungen fortzusetzen und von dem Wachhabenden jede halbe Stunde ein neues Ortsbesteck zu fordern. Ein Steward mußte ihnen das Abendessen auf die Brücke bringen, und auch in die dritte Wache hinein ging das Spiel weiter. –

Die Uhr im Kartenhaus verkündete die Mitternacht. Seit einer halben Stunde fuhr die Jacht nur noch mit Vierteldampf und bewegte sich in immer enger werdenden Kreisen. Roddington hatte inzwischen die Tür geschlossen, so daß kein anderer hören konnte, was sie miteinander sprachen.

»Wir sind über dem tiefsten Punkt, Doktor.«

»Zweifellos, Mr. Roddington. Das Echolot meldet hier eine Tiefe von vierzehneinhalb Kilometer. Wenigstens vierzehneinhalb Kilometer, Roddington!«

»Warum ›wenigstens‹, Doktor?«

»Weil wir nicht wissen, ob das Seewasser unter dem immensen Druck in dieser Tiefe den Schall nicht noch schneller leitet. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß die See hier ein bis zwei Kilometer tiefer ist.«

»Teufel, Doktor! Das wäre ja über alles Erwarten günstig.«

»Etwas anderes ist noch günstiger, Mr. Roddington. Wir befinden uns hier noch innerhalb der amerikanischen Gewässer.«

Roddington beugte sich über die Karte und setzte den Finger auf eine Stelle, die von weitem wie ein grauer Schmutzfleck aussah. Es war ein Gewimmel von Zahlen, die der Doktor während der letzten zwölf Stunden mit Bleistift eingetragen hatte.

»Sie haben recht, Doktor Wegener, wir sind noch in der Dreißigmeilengrenze von Siargao . . . hm . . .! Gilt die Dreißigmeilenzone überhaupt noch? Das war doch nur eine Prohibitionseinrichtung, um die Bootlegger besser fassen zu können . . . haben wir jetzt nicht wieder die alte Dreimeilenzone?«

»Sie muß gelten, Roddington! Ich habe niemals gehört oder gelesen, daß die Vereinigten Staaten sie wieder aufgegeben hätten, und wenn sie nicht mehr gälte, müßte sie wieder eingeführt werden. Unsere Sache ist tausendmal wichtiger als die ganze Prohibition.« –

Royer kam auf die Brücke, um die Wache wieder zu übernehmen, da öffnete sich die Tür, Roddington und Dr. Wegener traten heraus. Mit einem leichten Kopfnicken erwiderte Roddington Royers Gruß.

»Die ›Blue Star‹ soll bis nach Sonnenaufgang an dieser Stelle bleiben, Mr. Royer. Machen Sie nur so viel Fahrt, um den Platz zu halten, und nehmen Sie jede halbe Stunde das Besteck. Gute Nacht, Mr. Royer!« –

Glatt wie ein Spiegel lag die See, als die Sonne des neuen Tages heraufkam. Fast unwahrscheinlich blau erschien das Meer, über dem sich ein wolkenloser Himmel wölbte. Kein Lüftchen regte sich. Mit abgestellten Maschinen lag die »Blue Star« bewegungslos auf dem Wasser. Vorn am Bug der Jacht stand Dr. Wegener, neben ihm lehnte sich Roddington an eine eigenartige Winde.

»Ein Prachtwetter, Mr. Roddington, das beste, das wir uns für unsere Arbeiten wünschen können«, meinte Dr. Wegener. Die Hand Roddingtons strich wie liebkosend über den blanken feinen Stahldraht, der die Trommel der Winde bedeckte.

»Wir wollen anfangen, Doktor«, sagte er mit leichter Ungeduld, »lassen Sie die Leute hierher an die Winde kommen.«

Dr. Wegener schüttelte den Kopf.

»Wir werden es anders machen, Mr. Roddington. Das ruhige Wetter gibt die Möglichkeit dazu. Kommen Sie mit nach achtern, heute soll mein neues Wurflot zeigen, was es zu leisten vermag.«

Befehle schallten über Deck. Die Davits eines Rettungsbootes schwangen nach Außenbord. Eine Ladeluke wurde geöffnet. Ein Kranhaken senkte sich hinein, hob einen großen Korb aus dem Bauch der Jacht empor und setzte ihn in das ausgeschwungene Boot ab.

Vier Matrosen mit Riemen und ein Steuermann kletterten in das Boot. Roddington und Dr. Wegener folgten ihnen. Die Riemen tauchten in das Wasser, acht kräftige Arme pullten das Boot hundert Meter von der »Blue Star« fort.

Dr. Wegener öffnete den Korb. Etwas Langes, Blinkendes, Gläsernes entnahm er ihm und einen schweren Bleiklotz. Außerdem noch eine fremdartige Metallkonstruktion, aus Ketten und eigenartigen Klammern zusammengesetzt.

»Wollen Sie so gut sein, Mr. Roddington, das Wurflot senkrecht zu halten? Vorsichtig, bitte! Es ist zwar auf einen Druck von dreitausend Atmosphären geprüft, aber außerhalb des Wassers doch ein gläsernes und daher zerbrechliches Ding.«

Während Roddington das Wurflot hielt, schäkelte es Dr. Wegener mittels der Klammervorrichtung mit dem Bleiklotz zusammen. Der Klotz war wohl über einen Zentner schwer. Er mußte zwei Matrosen zur Unterstützung heranrufen, die den Block anhoben und über Bord des Bootes hinaushielten, während er selbst Roddington den Glaskörper aus der Hand nahm und darüberhielt.

»Block fall!« kommandierte der Doktor.

Klatschend fiel der Bleiklotz in die See. Leicht glitt der Glaskörper aus Dr. Wegeners Hand und folgte ihm. Nur einen Moment war beides noch sichtbar, dann hatte die Tiefe es verschlungen. Schon hatte der Doktor seine Uhr gezogen und nach der Zeit gesehen.

»Genau sieben Uhr zwölf Minuten, Mr. Roddington.«

Ohne recht zu wissen, warum er es tat, blickte Roddington auch auf seine Uhr.

»Stimmt, Doktor Wegener. Was jetzt weiter?«

»Jetzt wollen wir zur ›Blue Star‹ zurückfahren und in Ruhe frühstücken.«

»Haben wir soviel Zeit, Doktor?«

Der nickte. »Block und Lot sind so bemessen, daß sie zusammen mit vier Meter in der Sekunde nach unten gehen. Mit der gleichen Geschwindigkeit steigt der Glaskörper allein, wenn er sich beim Stoß auf den Seegrund vom Block gelöst hat, nach oben. Danach können Sie sich leicht ausrechnen, daß das Lot erst nach zwei Stunden wieder auftauchen kann.«

Die Riemen senkten sich in die Flut. Das Boot fuhr zum Schiff zurück, aber es wurde nicht an Deck gehievt. Roddington befahl das Fallreep auszulegen und ließ es daran vertäuen. –

Von Dr. Wegener gefolgt, begab er sich zu seinem Lieblingsplatz auf dem Achterdeck, wo die Stewards bereits alles für das Frühstück vorbereitet hatten. Der Doktor rückte sich seinen Sessel so, daß er die Decksuhr im Auge behalten konnte. Während der Mahlzeit drehte sich ihr Gespräch in der Hauptsache um das Experiment, auf dessen glückliche Beendigung sie hier warteten.

»Eigentlich eine tolle Idee von Ihnen, lieber Doktor«, meinte Roddington. »Ihr Lot sinkt, sich selbst überlassen, zwei geographische Meilen in die Tiefe. Das ist eine verteufelt lange Strecke . . . trotzdem . . . ich will einmal annehmen, es fällt wirklich wie ein Stein in der Luft genau senkrecht nach unten. Dort löst sich der Glaskörper von dem Bleigewicht und steigt, von der Last befreit, wieder nach oben. Ob das aber auch noch senkrecht geschieht, ist mir mehr als zweifelhaft. Nur eine kleine Abweichung von der Senkrechten müßte genügen, um es ein paar hundert, ja ein paar tausend Meter von der Stelle entfernt, an der Sie es herabwarfen, wieder an die Oberfläche zu bringen. Wie wollen Sie es dann wiederfinden?«

Dr. Wegener setzte seine Teetasse auf den Tisch zurück, während er gelassen antwortete.

»Die endgültige Form meines Wurflotes ist das Ergebnis vieler Versuche. Der Glaskörper ist mit schraubenartigen Flossen versehen, die ihn auch beim Aufstieg genau in der Senkrechten halten. Ich bin überzeugt, daß das Lot trotz der gewaltigen Tiefe dicht bei der Abwurfstelle auftauchen wird.«

Roddington machte eine scherzhafte Verneigung vor Dr. Wegener.

»Meine Hochachtung, Doktor! Wenn Sie das erreicht haben, können Sie mehr als Brot essen. Warum ließen Sie dann überhaupt noch die neue Lotwinde aufstellen, wenn wir sie doch nicht mehr nötig haben?«

Dr. Wegener faltete die Hände und senkte den Kopf, als ob er ein Schuldbekenntnis ablegen wolle.

»Damals, Mr. Roddington, als wir sie aufstellten, rechneten wir mit einer Tiefe von höchstens zehn Kilometer. Jetzt aber müssen wir uns auf fünfzehn gefaßt machen.«

»Was machen ein paar Kilometer mehr oder weniger aus?« warf Roddington ein. »Sie haben ja in Manila fünfzig Kilometer Draht besorgt. Die Philippinen sind in Klaviersaitendraht ausverkauft!«

»Für den Notfall tat ich das, mein lieber Mr. Roddington. Wenn es ohne Draht geht, ist es mir lieber.«

»Aber warum denn, Doktor Wegener?«

»Sie vergessen die Zerreißlänge, Mr. Roddington. Auch der beste Stahldraht, die festeste Stahlstange reißen unter der Last ihres eigenen Gewichtes ab, wenn ihre Länge zehn Kilometer überschreitet.«

Roddington lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloß die Augen. Sein Gesicht wurde abwechselnd rot und blaß. Es war unverkennbar, daß die letzten Worte des Doktors, obwohl sie doch nur eine nüchterne physikalische Tatsache betrafen, ihn stark erschütterten. Minuten vergingen, bevor er seine Fassung zurückgewann und wieder zu sprechen vermochte.

»Herr des Himmels, die Zerreißlänge, Doktor! Das wirft alle unsere Absichten über den Haufen. In der alten Emdentiefe hätten wir unser Vorhaben gerade noch ausführen können. Diese neuen Veränderungen des Seebodens . . . sie schienen uns zuerst so willkommen zu sein . . . jetzt bringen sie uns Schwierigkeiten, die . . .«

»Ich habe diese Veränderungen in meinen letzten Berechnungen bereits berücksichtigt, Mr. Roddington«, fiel ihm der Doktor ins Wort. »Machen Sie sich deshalb keine unnötigen Gedanken, sorgen Sie nur mit allen Mitteln dafür, daß Ihr Stahl auch wirklich die verlangten guten Eigenschaften hat. Der Mordsdruck in der neuen Tiefe macht mir mehr Sorge als die Zerreißlänge. Die Technik kennt verschiedene Mittel, um sich mit der abzufinden, aber ein Druck von fünfzehnhundert Atmosphären ist kein Pappenstiel. Denken Sie immer daran, daß in der riesigen Tiefe da unten auf jedem Quadratzentimeter Ihrer Stahlkonstruktionen ein Druck von anderthalb Tonnen lasten wird.«

»Auf unsern Stahl können wir uns verlassen«, rief Roddington, der aus den Worten des Doktors frische Zuversicht schöpfte. In seinen letzten Funksprüchen meldete Dickinson Fortschritte, die seine kühnsten Erwartungen noch übertrafen. –

Langsam war der Zeiger der Uhr inzwischen weitergerückt. Dr. Wegener stand auf.

»Nach meinen Berechnungen müßte das Lot in zwei bis drei Minuten auftauchen. Kommen Sie, Mr. Roddington, wir wollen an die Reling gehen. Es wäre vielleicht zweckmäßig, wenn die ›Blue Star‹ ein wenig Fahrt machte, ganz langsam nur, gerade soviel, daß sich nichts, was von unten kommt, unter ihrem Kiel fangen kann.«

Roddington griff zum Telephon und gab den Befehl auf die Brücke. Mit langsamster Fahrt setzte die Jacht sich in Bewegung. Intensiv spähte Dr. Wegener nach der Gegend hin, wo er das Wurflot versenkt hatte. Unaufhaltsam wanderte der Minutenzeiger der Decksuhr weiter. Die Stirn des Doktors krauste sich.

»Jetzt müßte es kommen«, murmelte er vor sich hin. »Ah, da ist es! Sehen Sie, da kommt ein Teil von dem wieder, was wir vor Stunden ins Wasser geworfen haben. Nur zwei Minuten Verspätung. Tadellos . . . ganz vorzüglich. Wir wollen das Lot holen.« –

Gleich darauf stieß das Boot von der Jacht ab. Der Doktor ließ es sich nicht nehmen, sein Lot selbst aus dem Wasser zu ziehen. Wie einen Schatz hielt er das gläserne Gebilde in seinen Armen. Während das Boot zur »Blue Star« zurückkehrte, wies er Roddington die Stelle, bis zu der ein innerer dunkler Belag des langen Glasrohres, das den Oberteil des Lotes bildete, hellgelb verfärbt war. Eine »15« zeigte die Röhrenskala an diesem Punkt.

»Fünfzehn Kilometer«, flüsterte er Roddington zu. »Haben Sie es gesehen? Genau fünfzehn Kilometer ist die See hier tief.«

Noch einmal sah sich Roddington das Lot genau an.

»Es ist richtig, Doktor! Fünfzehn Kilometer.«

»Gut, Sie haben es auch gesehen.« Dr. Wegener beugte sich über Bord, tauchte die Hand in die See und ließ von oben her ein paar Tropfen Wasser in die Röhre rinnen. Im Augenblick verfärbte sich der innere Belag seiner ganzen Länge nach hellgelb. Niemand hätte mehr sagen können, welche Tiefe mit dem Lot zuletzt gemessen wurde.

Als sie an Bord zurückkamen, konnte sich Roddington einer Frage nicht enthalten.

»Warum verwischten Sie vorhin die Marke an Ihrem Lot, Doktor Wegener?«

»Ich hielt es für zweckmäßig, Mr. Roddington. Es gibt mehr Leute, die sich für unser Tun und Treiben hier interessieren, als Sie vielleicht denken!«

Roddington sah den Doktor verwundert an.

»Haben Sie einen bestimmten Verdacht? . . . Etwa auf die Corporation?«

Dr. Wegener zuckte die Achseln. »Vorsicht ist die Mutter der Weisheit, Mr. Roddington. Sie erinnern sich wohl, daß in Manila zwei Leute unserer Besatzung die Gelegenheit benutzten, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.«

»Ach, an die beiden Halunken denken Sie noch! Wir bekamen ja glücklicherweise gleich Ersatz. Das war doch eine alltägliche Geschichte.«

»Ich weiß nicht, Mr. Roddington, vielleicht mache ich mir unnötige Gedanken . . . ich frage mich nur, warum die beiden von Bord gegangen sind?«

Roddington machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Tausend Gründe gibt es dafür, vielleicht eine gute Stellung in einer der Zuckerfabriken oder in einem Sägewerk . . . vielleicht auch reine Abenteuerlust. Wer kann wissen, was plötzlich in so einem Matrosenschädel vor sich geht?«

»Sie vergessen, mein lieber Mr. Roddington, daß die Kerls ihre Heuer im Stich gelassen haben. Das tut ein Seemann sonst nicht so leicht. Es wird jedenfalls gut sein, wenn wir den beiden Neuen, die wir in Manila dafür bekamen, etwas auf die Finger sehen. Ich habe für dies philippinische Mischblut nicht viel übrig. Bis jetzt konnte ich nichts Verdächtiges an ihnen bemerken. Aber Vorsicht kann in keinem Fall schaden. Wenn sich irgend jemand bemüßigt fühlt, an dem Lot herumzuschnüffeln, soll er wenigstens nicht erfahren, welche Tiefe wir damit gemessen haben. –«

Eine lange Unterredung gab es danach zwischen Roddington und Dr. Wegener, die sich in der Hauptsache um die eben gelotete Tiefe und die dadurch bedingten Änderungen ihres ursprünglichen Planes drehte, bis sich Roddington zu dem Entschluß durchrang, das große Unternehmen, mit dem er sich schon seit Monaten trug, auch in einer neuen, größeren Form durchzuführen.

Er war sich wohl bewußt, daß er dabei alles auf eine Karte setzte. Mißglückte sein Vorhaben, dann würde er fast ein Bettler sein. Führte es zu dem erwarteten Ziel, dann wäre ihm nicht nur neuer großer Reichtum sicher, darüber hinaus würde man ihn auch als den Schöpfer einer neuen Technik und als den Wohltäter, ja als den Retter seines Landes feiern. Ein riesenhaftes Experiment war es, in das er seine hundert Millionen stecken wollte. Unendlich viel konnte er dabei gewinnen, aber auch alles verlieren.

*


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