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XXX

Von Tarnowski war ein ungemein höflicher und reizender Brief eingetroffen, der seinem unendlichen Bedauern Ausdruck verlieh, daß geschäftliche Transaktionen ihn derzeit leider in Paris festhielten und es ihm unmöglich machten, den Aufenthalt seiner neuen liebgewonnenen Freunde zu teilen. Er hoffe auf ein Wiedersehen im Herbst.

Lilith atmete auf. Die gefahrdrohende Wolke war vorübergegangen. Sie fühlte sich gerettet und von einer unendlichen Angst befreit.

Aus diesem Gefühl der Befreiung stieg eine dankbare und zärtliche Neigung für Lobositz empor, die nichts mit den Stürmen zu tun hatte, die bisweilen in ihr aufzogen und sie schüttelten. Ihre Liebe gewann eine andere, eine dunklere Färbung, mehr von Herzblut durchtränkt. Sie empfand zum erstenmal die Überzeugung, daß es nicht bloß Abenteuerlust, Konjunkturausnützung und Lebenshunger war, was sie zu Lobositz geführt, sondern eine Neigung, die ihre Wurzel in die Tiefe trieb. Der Brief von Tarnowski und die Unschädlichmachung und Verabschiedung Ankas – beides zusammen mit dem Glauben an eine Dauerhaftigkeit ihrer inneren Beziehungen zu Lobositz, gaben ihrem Wesen einen ungeheueren Aufschwung ins Heitere und Lebensfrohe. Der Reichtum ihrer Natur begann wieder einmal aufzuwirbeln in Laune und Übermut und Temperament. Kurz und gut, Lilith war wieder bezaubernd und hinreißend, ein Bild blühender, dahinjagender, unwiderstehlicher Jugendkraft und Schönheit. Wie eine junge Gemse raste sie am steilen Pfad empor, der vom Riffelhaus zum Riffelberg führt – auf die grüne Bergwiese, wo jeder Baumwuchs aufhört und in den Löchern der Schnee niemals zur Schmelze kommt.

Lobositz sah ihr lächelnd und zärtlich nach. Er hatte zwar Geschäftsbriefe auf seiner kleinen Underwood Transportable erledigen wollen, aber eine wehe nachdenkliche Stimmung hatte ihn überfallen. Er machte im Geiste die Bilanz der letzten Wochen.

Am 23. April war er auf deutscher Erde gelandet. Jetzt war es Anfang Juli. Nicht viel über zwei Monate waren seit seinem Eintreffen in Europa vergangen. Und welcher Sturm des Erlebens! Wie hatte sich seine ganze Natur herumgeworfen! Ein sehnsüchtiger, früh gealterter, verdrossener Mensch war von Brasilien weggefahren. Und jetzt? Er wußte nichts von Alter, nichts von Müdigkeit. Die Flamme seines Lebens brannte hell und hoch. Jugend und Kraft und Schönheit und das Glück waren sein!

Und er war entschlossen, all dies festzuhalten – bis an den äußersten Rand der Möglichkeit.

Diese ewige Anka, diese Anka, die jedes Glücksgefühl hämisch besudelt hatte, war – Gott sei Dank – abgefertigt und erledigt. Er fühlte sich wie ein Schulbub, der seiner strengen Gouvernante glücklich entronnen war.

Und auch Lilith empfindet er anders als bisher. Das wundervolle Abenteuer seiner reifen Jahre – er vermeidet selbst in Gedanken das Wort seines Alters – wird ihm plötzlich mehr als ein Abenteuer. Er sieht Möglichkeiten, an die er nie gedacht. Lilith paßt sich so wundervoll an, sie geht so auf ihn ein. Ihr starker und lebhafter Geist ist nicht nur weibisch spielerisch auf die bunten Dinge des Alltages gerichtet. Es ist etwas von Skepsis und durchschauender Menschenverachtung und Klarheit der Vernunft in ihr, die dem »Nurweib« eigentlich versagt sind. Gewissermaßen männliche Einschläge in die weibliche Form, die Entwicklungsmöglichkeiten darstellen. Jetzt ist sie Traum und Jugend – aber richtig geleitet konnte sie vielleicht auch Lebenskamerad und Freund werden.

Seit zwei Monaten geht er müßig, ist nichts als jung und selig – kann das so bleiben? Wird er das aushalten? Ein Leben ohne Tätigkeit? Er muß sich auf etwas stürzen, irgend etwas meistern, bezwingen, unterkriegen, formen und durchführen. Eine neue Freudigkeit ist über ihn gekommen. Er weiß noch nicht, wo anpacken – aber irgend etwas wird er anpacken. Ein großes Unternehmen. Diesmal hier in Europa. Sein Haus drüben soll nicht darunter leiden. Er wird bald drüben, bald hier sein. Aber Lilith immer dabei. Sie hat ihn jung gemacht, sie ist sein Elixier der Verjüngung, die Quelle seiner Kraft und Heiterkeit. Er muß sie an sich fesseln – innig, fest und stark.

Eine heiße Zärtlichkeit durchrieselt ihn. Er ist ihr so dankbar. Sie hat ihm so viel gegeben. Zuerst ihre Jugend und Schönheit und jetzt dieses Lebensgefühl, das ihn so wundervoll durchbraust.

In späten, aber nicht allzu späten Tagen ist die Liebe mit aller Macht noch einmal in ihm auferstanden. Nicht der Rausch, nicht der Taumel, sondern die Liebe, die aus dem Herzen geboren, den ganzen Menschen wie ein holdes Fieber ergreift.

Er kann es kaum erwarten, daß Lilith von ihrem Spaziergang zurückkehrt. Er will sie fragen, ob aus dem Spiel Ernst werden soll. Ob sie den Mut hat, seine Frau zu werden – um mit ihm hinüberzufahren – als seine Königin.

Einen Moment lang steigt ihm die Erinnerung an Azulena, seine dunkle, kleine Freundin, auf. Aber er schüttelt den Gedanken rauh ab. Gegen Leidenschaft gibt's keine Gewalt und keine Vernunft. Azulena wird verzichten und vergessen. Vielleicht auch – sterben ... Mag sie! Die Leute im Licht fragen nicht nach den Seelen im Dunkeln. Mag sich ihr Weg vollenden, wie es ihre Natur befiehlt. Er kann ihr nicht helfen. Sie ist glücklich gewesen, hat ihre Zeit gehabt. Jetzt kam für ihn die Zeit des Glückes mit Lilith. Wenn er die Schalen abwägt: hier Lilith – hier Azulena, so steigt Liliths Schale froh ins Licht, und die andere sinkt ins Dunkel.

Azulenas Schicksal ist entschieden. Ihr Stern ist gefallen.

Der Gong hat bereits zum zweiten Male angeschlagen und zum Lunch gerufen, als Lilith endlich erhitzt den Weg herabgestürmt kommt und Lobositz in die Arme läuft.

»Endlich bist du da! Ich habe dich so erwartet und nach dir ausgeschaut.«

»Und ich war so ungeduldig und habe mich auf einmal so gesehnt, daß ich den ganzen Weg im Laufschritt zurückgelegt habe. Du mußt an mich gedacht haben, denn ich habe auf einmal das Gefühl gehabt, du rufst mich.«

»Ich habe dich auch gerufen!«

»Ich bin am Riffelsberg oben auf der Felsnase gelegen und habe hinübergestarrt auf den Theodulgletscher und aufs Breithorn und dabei bin ich eingeschlafen. Und auf einmal bin ich aus dem tiefsten Schlaf aufgefahren, weil ich meinen Namen plötzlich gehört habe – aber weit und breit war kein Mensch. Und da habe ich gewußt: du hast mir ein Zeichen gesandt – weil du mich brauchst.«

»Du hast es erraten! Ich brauche dich, mehr als du denkst. Ich brauche dich so sehr, daß ich dich nie wieder hergeben will.«

Lilith wird es auf einmal schwach ums Herz. Sie hat das Gefühl: wieder ist eine entscheidende Wendung in meinem Leben eingetreten.

»Wie meinst du das?« fragt sie zögernd und leise.

»Was würdest du sagen, wenn ich dich fragen würde: willst du meine Frau werden?«

Lilith ist ganz blaß geworden. Das ist schneller gekommen und ohne daß sie erst Schlauheiten und Künste anwenden mußte. Die Frage kommt schlicht und ehrlich, und ein Herzenston klingt daraus, der ein Echo bei ihr weckt und alles in ihr ans Licht holt, was gut ist und unverdorben. Und mit echter Bescheidenheit erwidert sie einfach:

»Wenn du glaubst, daß du mich brauchen kannst und ich nicht zu wenig für dich bin.«

»Kind, Geliebtes, Süßes! Alles bist du mir! Rausch und Trost und Freude und Heiterkeit!«

Und er zieht sie auf dem einsamen Vorplatz des Hotels bedenkenlos an sich und küßt sie leise und zärtlich ... nicht mit wilder Gier des Verlangenden, sondern mit dem Herzen des Liebenden.

Traulich kehren sie aneinandergeschmiegt ins Hotel zurück.

»Ach Gott, wir dürfen ja allein zusammen Mittag essen. Anka ist fort. Wir werden nicht mehr überwacht, gemaßregelt und ausspioniert.«

»Und nicht mehr verhetzt«, setzt Lilith bedeutungsvoll hinzu.

»Verhetzt? Wieso?« fragt Lobositz.

Und nach dem Lunch im stillen Terrassenwinkel spielt Lilith ihren großen Trumpf aus, den sie mit weiblicher Geschicklichkeit im Erzählen noch zu einem Effekt für sich aus- und umbaut.

»Ja, hast du denn wirklich nicht gemerkt, was mit Anka los war?«

»Nichts habe ich bemerkt. Was war denn mit ihr los?«

»Verliebt ist sie in dich gewesen. Gestört habe ich sie in ihren Absichten auf dich.«

»Was hat sie sich eingebildet?«

»Daß sie dich dazu bringen wird, sie zu heiraten.«

»Ich? Die alte Anka?«

»Sie hat sich jung gefühlt. Und ich sollte ihr Platz machen.«

»Und das hat sie dir so ohne weiteres gesagt?«

»Ach so dumm ist sie nicht gewesen. Auf den Tarnowski hat sie mich gehetzt. Tag und Nacht hat sie mir von ihm vorgeschwärmt und mir erzählt, daß ich viel besser zu ihm passen würde als zu dir. Und wenn ich den Tarnowski nur ein bißchen ermutigen wollte, er würde glücklich sein. Er hätte ihr gestanden, daß er mich bis zur Raserei liebt und nur auf ein Zeichen von mir wartet. Er wage es nicht aus Zartgefühl und Verehrung – aber innerlich verbrenne er doch trotz aller äußeren Zurückhaltung.«

»Und du ... dir war dieser schöne, junge Mann gleichgültig?«

»Vollkommen«, sagte Lilith, ohne eine Sekunde zu zögern. »Du siehst, ich habe ihm das Zeichen nicht gegeben. Er ist abgereist und nicht wiedergekommen.«

»Ich danke dir, Lilith. Du bist lieb und gut, und ich habe zu dir grenzenloses Vertrauen und glaube dir jedes Wort.«

»Ich glaube, ich habe mir dein Vertrauen verdient.«

»Und warum hast du nicht früher gesprochen und mich über Ankas Feldzugsplan aufgeklärt?«

»Ich wollte sie nicht um ihre Stellung bringen und dann ...«, fügte sie spitzbübisch hinzu, »... und dann habe ich mir gedacht, vielleicht gefällt sie dir wirklich besser als ich und du schickst lieber mich eines Tages fort.«

»Du bist der süßeste und impertinenteste Fratz, der je da war«, erklärte Lobositz lachend und küßte ihr die wunderschönen, zart aufgebogenen, feinen Fingerspitzen – eine nach der anderen.

In dieser Nacht hatten Lobositz und Lilith das Gefühl, als hätten sie sich zum erstenmal gefunden, als wäre der Unterschied der Jahre verwischt, als hätte sie sich nie nach Tarnowski gesehnt und er nach ihrer Mutter, als sie noch ein Mädchen war.

Eine Leidenschaft, die aus den Nerven und dem Blut ins tiefste Wesen übergegangen war, hatte sie allem Anschein nach ergriffen, und sie glaubten alle beide ganz fest an eine unwiderrufliche Bindung auf Leben und Tod und an die große, alle Schranken niederbrechende Liebe.


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