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Wenige Tage später berichtet »La Liste des Etrangers Montreux-Vevey«: Es haben Aufenthalt genommen: Montreux, Palacehotel: Baronin Anka Stoyanovic samt Nichte Lilith und Graf Alfred Lobositz, Sao Paolo, Brasil.
Über der Schweiz liegt noch der herbe Vorfrühling in seiner keuschen Anmut. Die Dents du Midi, der Grammont und die Savoyer Alpen sind noch tief verschneit, das blendende Weiß senkt sich fast bis zu dem türkisblauen Metallspiegel des Genfer Sees herab und bildet mit ihm einen entzückenden Gegensatz.
Auf den Hängen von »Les Avants« bis Glion hinüber, die den ganzen Tag der Sonne ausgesetzt sind, hat die Schneeschmelze bereits begonnen, und weiße Krokusblüten und violette Soldanellen überwuchern jedes Plätzchen fast augenblicklich, sowie es der Schnee freigibt. Die gesammelte Triebkraft der Frühlingsblumen bricht ungestüm der Sonne entgegen. Die tiefer gelegenen Wiesen erglänzen schon im jungen saftigen Grün und spannen einen weißen Spitzenschleier von Narzissen über ihren Grund. Die braunen bizarren Äste der Mandel- und Kirschenbäume tragen auf ihren verrunzelten Armen eine Last von weißem Blütenschnee, der bei jedem Windhauch zärtlich kosend niederrieselt.
Alle Fenster sind weit geöffnet, um die herbe frische Luft und die Sonnenwärme hereinzulassen.
Köstliche Tage sind für Lobositz und Lilith gekommen.
Sie haben in der zweiten Etage der Riesenkarawanserei, Palacehotel genannt, eine Flucht von Zimmern mit Balkonen und Terrassen. Über die Grande Rue, die Bäume des Parks, die Alleen der Strandpromenade geht der freie Blick auf See und Alpen.
Das Hotel ist fürstlich ausgestattet und bietet alles, was ein raffiniertes Luxusbedürfnis nur verlangen kann. Große Hallen und prunkvolle Säle, intime Salons und verglaste Galerien, die jeden Luftzug fernhalten und nur den Blick freigeben. Weitläufige Terrassen, mit exotischen Pflanzen geschmückt, laden zum Ruhen in weiten Korbstühlen ein. Über die Straße hinweg ein Sportpalast. Daneben der Tennisplatz, sauber mit roter Erde ausgelegt und alles umschlossen von einem herrlichen Park, der sich der Seepromenade zu öffnet.
Ein Paradies für reiche Leute. Keine Erinnerung an die Schwere des Lebens weit und breit. Alles ist ferngehalten, was das Wohlbehagen der kostbaren Gäste stören und ihr Behagen mindern könnte. Man zahlt für sein Glück – aber man ist glücklich und entlastet vom Druck des Lebens, das hier so leicht und fröhlich und schimmernd wird, als gebe es in diesem Erdenparadies weder Not, Elend, noch Sorgen. Es mag ja auch hier dunkle Winkel der Traurigkeit geben, aber kein Fremder bekommt sie zu Gesicht.
Lobositz hat einen Chrysler-Six gekauft, den neuesten Modewagen auf dem Automarkte. Und so rasen sie über die Rue des Alpes und die herrlichen gepflegten Hochstraßen der Suisse romandes nach Clarens und Vevey, nach Tour le Peilz und Lausanne hinauf in die Berge zu den Prunkhotels Les Pleyades oder Les Avants oder zu den Schlössern von Blonay und Chratelard oder gar bis nach Genf hinüber. Oder sie bummeln friedlich auf den Kais von Montreux und Territet oder in entgegengesetzter Richtung nach Clarens und Vevey – über den Blumen- und Obstmarkt von Vevey, der so üppig ist wie der Markt von Verona, begucken alle die schönen Villen inmitten gepflegter Gärten, die zu verkaufen sind und so hübsche Namen haben wie: les Sapins, oder: les Hirondelles, oder: les Pierres Blanches.
Irgendwo auf diesem wundervollen Fleck Erde, wo der Frühling, Sommer und Herbst so herrlich sind, will sich Lobositz ein Nest bauen für sein spätes Glück, das ihm ins Haus geflogen kam, und das er festhalten will mit eisernem Griff – koste es, was es wolle. Leicht wird es nicht sein, denn dieses Teufelsmädel hält einen verflucht in Atem. Müdewerden ist verboten! Aber wer wird schon müde?! Er gewiß nicht! Er fühlt sich stählern und allem gewachsen. Das Glück macht jung und stark – und die paar grauen Haare – mein Gott ... wenn man das Haar ganz kurz trägt, merkt das kein Mensch. Und was den Körper anbelangt – Lilith hat Fechtstunden bei Professor Romilly, und Lobositz hat die Kunst seiner Jugend hervorgeholt. Er spielt mit Lilith und kämpft mit Professor Romilly und ist ihnen beiden gewachsen an Kraft, Geschmeidigkeit und Ausdauer. Und sein sehniger Körper sieht in dem schwarzen Trikot des Fechters wie in Erz gegossen aus.
Auch Lilith übt in Männerkleidern mit Breeches und Trikot und entwickelt sich zur gewandten und gefährlichen Partnerin, die ihr Florett kühn und gewandt handhabt.
Fechten, Tennis – aber auch Tanz stehen auf der Tagesordnung.
Lobositz lernt die meisten Modetänze mit rührendem Eifer, mit der Begeisterung und Ausdauer eines Jünglings. Er mag mit nichts – aber auch mit gar nichts zurückbleiben. Denn jeden Abend nach dem Diner wird im weiß-gelben Tanzsaal mit den Damasttapeten und den Riesenspiegeln, die an den Marmorwänden zur Decke emporsteigen, unermüdlich getanzt. Ein alter Franzose, weit über siebzig, ist der eifrigste Tänzer. Er hat Zahnschmerzen und Gliederreißen, und die Perücke verschiebt sich ihm bei jedem pas. Aber er tanzt und flirtet und erzählt mit lallender Zunge zynische Witze.
Und da sollte Lobositz nicht tanzen! Und sich vielleicht gar alt fühlen! Lächerlich! Er denkt nicht daran abzudanken und zurückzustehen hinter anderen! Und wenn es auch nur auf die Dauer eines Shimmy oder Charleston wäre! Und so wackelt er tiefernst mit, als müßte das so sein, ja als hätte er zeitlebens keine anderen Interessen gehabt.
Aber Lilith vervollkommnet sich nicht nur in allen Richtungen des Sports – sie lernt auch große Toilette machen und tragen. Ihr Geschmack wird fein und wählerisch. Sie weiß sich in Szene zu setzen und aufzutreten, als wäre sie immer eine Grande Dame gewesen. Madame Guyonnet, Genf-Paris, liefert die neuesten Roben. Pochelon Frères Joaillerie liefern Schmuck: wundervolle blaßgrüne Chrysoprase in Diamanten gefaßt, lange Ohrgehänge, die zwischen den rotbraunen Locken exotisch hervorleuchten.
Rotgelbe Kamtschatkafüchse und weiße Polarfüchse geben das kleine Pelzwerk für den Tag. Ein weißer Hermelinmantel dient für die große Abendtoilette.
Wegelin Fils, die zweite große Juwelenfirma Genfs, liefert eine ganze Serie jener breiten, mit Diamanten und Saphiren besetzten Armbänder, die nach neuester Mode vom Gelenk bis zum Ellenbogen hinauf die Arme panzern.
Aber so üppig und strahlend gekleidet Lilith abends erscheint – dem Vormittag gehört der Sportdreß. Ohne Mütze, mit wehenden Locken, lenkt sie selbst den Chrysler und lacht den bewundernden Spaziergängern mit fröhlicher Lausbubenhaftigkeit zu, wenn sie diese beinahe überfahren hat.
In allen Auslagen der Photographen von Genf bis Schloß Chillon prunkt ihr Bildnis als Dame und als Fechterin, bekleidet und unbekleidet, träumerisch und frech.
Sie entwickelt sich mit unheimlicher Geschwindigkeit. Ihre mühsam verhaltene Triebkraft und Lebensstärke schießt übermächtig empor, jetzt, wo der Druck von ihr genommen und ihr alle Möglichkeiten gegeben sind. Das gilt aber ebenso für das Geistige. Zum Lesen findet sie zwar wenig Zeit, aber sie lernt durch die anderen. Sie fragt – fragt immer wieder bis in jedes Detail und jede Möglichkeit und verlangt die präziseste Antwort.
Madame Stoyanovic soll sich informieren, wenn sie etwas nicht weiß. Sie soll lernen, nachsehen, suchen. Ihr, Lilith, genügt es, wenn man ihr die Essenz des letzten Resultats serviert.
Und dabei hat sie ein unheimliches Gedächtnis. Sie vergißt nichts, was sie einmal erfahren und gelernt und was sie im Wesen begriffen hat. Sie hält sich nie bei Nebensachen auf. Instinktiv fühlt sie immer den wichtigsten Punkt aller Dinge heraus und bemächtigt sich seiner. Die Klarheit ihres Denkens ist so intensiv wie die Naivität ihres Egoismus. Es erscheint ihr selbstverständlich, daß sich alles nach ihr richtet – nicht nur Madame Stoyanovic, sondern auch Lobositz.
Und er tut es wirklich. Er genießt dieses Aufbrechen und Entfalten, dieses Ansichreißen der Welt mit dem Geschmack und dem Verstand eines seelischen Feinschmeckers. Er unterhält sich königlich über Fragen und Urteile, über Bosheiten und Witzigkeiten und – liebt, liebt dieses prachtvolle, wilde Geschöpf mit seiner ungeheueren Lebensgier und unermeßlichen Spannkraft, die niemals locker läßt und unersättlich auf Lebensraub aus ist.
Rücksichten kennt sie nicht – weder gegen sich noch gegen andere. Sie hat kein Gefühl dafür, daß andere vielleicht nicht mitkommen könnten in diesem Eilzugstempo des Lebens, das ihrer eigensten Natur entspricht.
Madame Stoyanovic seufzt – sie hat sich ihre Stellung bequemer vorgestellt. Dieses Herumgejagtwerden paßt ihr nicht. Wenn nicht der geheime Plan wäre, den sie von erstem Augenblick, wo sie die Beziehung Lobositz und Liliths überschaute, gefaßt hatte – wenn dieser Plan und die Hoffnung nicht wäre, daß er sich doch verwirklicht – sie hätte Lust, sich abfertigen zu lassen und zu verschwinden. Aber noch besteht die Hoffnung, daß es ihr gelingen wird, das ungleiche Paar zu sprengen, Lilith zu einem Abfall von Lobositz zu bewegen und bei ihm die Trösterin zu spielen – so lange, bis er sie zu seiner Frau macht. Sie fühlt sich zu dieser Position weit eher berufen, als diese junge, freche Person mit ihrer unerschöpflichen Vitalität, der das Glück unverdient in den Schoß gefallen war.
Madame Stoyanovic beschließt, bei Lobositz vorsichtig anzubohren, sobald sich ein Schimmer einer Gelegenheit zeigt, bei der man einsetzen kann.
Vorläufig aber läßt Lobositz kein Zeichen der Müdigkeit merken. Er gibt sich jung und immer bereit und hält Schritt mit Lilith. Auch ihn ermüdet scheinbar keine durchtanzte Nacht, keine stundenlange Autofahrt. Er läßt, selbst bei schärfster Beobachtung, keine Gedanken an den beträchtlichen Altersunterschied aufkommen, der ihn von Lilith trennt.
Scheinbar hat auch er einen Körper von Stahl und kann zu jeder Stunde alles und fühlt sich wohl in diesem Wirbel, der ständig um Lilith kreist und der scheinbar das Element ist, in dem sie sich wohlfühlt.
Wo sich immer im Bannkreis des Genfer Sees etwas ereignet, erscheinen Lobositz, Lilith und Madame Stoyanovic.
In Evians Les Bains, am französischen Ufer des Genfer Sees, war ein Grand Gala de Danse gewesen. Um ein Uhr nachts hatte die Yacht »Eviana«, die dem Kasino Municipal gehört, die Gäste quer über den See nach Montreux zurückgebracht.
Lilith hatte getanzt, hatte bei der Roulette das Geld mit vollen Händen hinausgeworfen, bei der Blumenschlacht Hekatomben von duftenden Blüten verschleudert – war der strahlende Mittelpunkt der wirbelnden Menge gewesen, hatte gesprüht von Laune und Temperament, hatte keinen Tango und keinen Shimmy ausgelassen, hatte noch um drei Uhr ein heißes Bad genommen und war um sieben Uhr morgens aufgestanden, als ob nichts gewesen wäre.