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Nachwort des Übersetzers

»Tancred« war Disraelis liebster Roman: noch lange Jahre nach seiner Veröffentlichung stand er seinem Herzen, wie seinem Verstande nahe, noch als Greis las er dieses Buch seines kräftigsten Mannesalters mit Vergnügen, ja schöpfte er aus ihm Trost, Mut und Belehrung in Stunden der Trauer und Niederlage. Die bekannte Schriftstellereitelkeit, so meint man? Aber nein: Disraeli konnte sich selber mit dem kühlsten Kopfe gegenüberstehen, und die blöde Affenliebe schriftstellender Väter war ihm viel zu gut bekannt und viel zu verächtlich, als daß er sie an sich selber nicht gerne vermieden hätte. Was ihn, den überaus kritischen und selbstkritischen Kopf, immer wieder zur Achtung vor dem eigenen Geisteskinde zwang, war die richtige Erkenntnis, daß er hier sein Innerstes bloßgelegt, daß er hier in die tiefsten Schächte seiner Persönlichkeit hineingeleuchtet, daß er hier allen mit Augen Begabten die Quelle seines reichen Charakterschatzes, die Herkunft des Edelmetalles seiner Seele bloßgelegt hatte. Und es war ein wunderbarer Schatz, dem der intellektuelle und moralische Reichtum eines Disraeli entstammte, ein Schatz, der so mächtig war, daß er sich einst über die ganze Welt ergießen konnte, ein Schatz, der trotz seines hohen Alters immer noch nicht erschöpft war – es war die Religion seiner Väter, der die Weltanschauung und die Lebensprinzipien des späten Enkels entstammten. Nur durch die Erkenntnis der religiösen Wurzel seiner Kraft wird uns ein Verständnis der Politik des größten englischen Staatsmannes des neunzehnten Jahrhunderts, der den Zeitgenossen als Teufel galt und noch den Nachkommen ein Rätsel ist, ermöglicht, und nur ein Buch legt wißbegierigen Seelenforschern diese Wurzeln bloß, nur einer unter den vielen Disraelischen Romanen enthält des Dichters politisch-religiöses Glaubensbekenntnis – der Tancred.

Schon in frühester Jugend war die schwere Not seiner Zeit Disraeli zu Herzen gegangen. Hereingeboren in ein sich auflösendes Zeitalter und begabt mit jenem aufnahmefähigen und aufnahmegewandten Nervensystem, das gegen Auflösungssymptome und Zersetzungserscheinungen besonders empfindlich ist, hatte er durch alle Geschäftigkeit, Heiterkeitspose, Begeisterungsbombastik und Hoffnungsbezechtheit hindurch die tiefen Leiden und Schäden seines Jahrhunderts erkannt. Oftmals, so wird erzählt, war er inmitten großer, lebhafter Gesellschaft plötzlich verstummt und in ein dumpfes Schweigen versunken, aus dem ihn kein gütiger Zuspruch mehr erretten konnte und das schließlich für das angesehen wurde, was es wohl auch meistens ist, nämlich für die einstudierte Weltschmerz-Attitüde eines jungen Herrn, der sich interessant machen will. Und doch war es mehr als Affektion und selbstbewußte Pose: es war Kummer und Besorgnis um die Mitwelt, die sein scharfes Auge so schonungslos sezierte und die in ihrer Haltlosigkeit seiner so dringend bedurfte, es war aber auch tiefe und schwere Sorge um sich selber und seine Zukunft, denn wie kann ein zu einem Rettungswerk Berufener wissen, ob die innere Stimme ihn nicht täuscht, ob er ein Recht hat, auf die Mahnung seines Herzens zu hören? Und wie kann einer sich hörbar machen unter Tausenden von Unberufenen und Millionen von Tauben und Blinden? Hatte nicht selbst sein großer Ahnherr Moses gezaudert, als er berufen wurde, hatte nicht dieser mit jener Bescheidenheit, die jeden genial Veranlagten vor der ersten Kraftprobe seines Könnens auszeichnet, geantwortet: »Herr, wer bin ich, daß ich zu Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten wegführen sollte?« Auch Disraeli hat, wie Moses, zunächst gezaudert: seine Lebensgeschichte, sowie seine ersten Romane geben uns den Beweis für seine Unsicherheit. Aber wie der große Moses, hat auch er schließlich seinen Lebensweg gefunden, hat auch er seine Mission erkannt, hat auch er sich seines Volkes, der Israeliten angenommen, und er hat mehr getan als dies: er hat auch den Engländern, ja den Europäern neue Wege gewiesen. Denn die Europäer waren ja Christen, und ist das Christentum nicht die logische Konsequenz des Judentums? Ist, wie Disraeli sich so klassisch ausdrückte, das Christentum nicht Judentum fürs Volk, daher immer noch Judentum? Kann ein Jude ruhig zusehen, wenn die christliche Welt in Trümmer geht, wenn sie sich zu falschen Propheten und Philosophen wendet, wenn sie sich dem Teufel des Materialismus verschreibt? Ist ein Jude nicht verantwortlich für das, was die Christen begehen, sind die Christen nicht seine Kinder, sind sie nicht Fleisch von seinem Fleisch und noch mehr Geist von seinem Geiste? Kann ein Vater, kann eine Mutter mit stumpfem Herzen, trockenen Augen und achselzuckenden Schultern der Unbesonnenheit, der Unerfahrenheit, dem Zusammenbruch der eigenen Nachkommenschaft zusehen, angenommen selbst, daß dieser Nachwuchs, nach Art modernen Nachwuchses, gegen die eigenen Eltern sich recht unehrerbietig benimmt und benommen hat? Lieben echte Eltern nicht auch die ungeratenen Kinder? Und wurde nicht der verlorene Sohn noch mehr geliebt als jener, der brav zu Hause und stets gehorsam blieb?

Sein ganzes Leben hat Disraeli gegen den Materialismus und Utilitarismus, aber auch gegen den Idealismus und die Romantik seiner Zeit gekämpft: in ersteren sah er nur Gemeinheit, in letzteren nur Phantasterei. Der Kapitalismus, der alle patriarchalischen Bande zerriß, der Industrialismus, der in seinen Fabriken die Volkskraft erschöpfte, die Nationalökonomie, die den Reichtum als die einzige Basis des Wohlergehens der Völker ansah und die hysterische Mutter aller dieser häßlichen Kinder, die romantische Demokratie, die in der Theorie die arbeitende Klasse für frei erklärte und in der Praxis die brotlosen Freien desto sicherer ausbeutete – das waren die feindlichen Strömungen seiner Zeit, gegen die er mit Wort und Feder immer wieder zu Felde zog. Und doch waren alle diese Schäden für ihn nur Oberflächensymptome, die wahre Krankheit – das konnte seinem scharfen Auge nicht entgehen – saß tiefer.

»Unsere Zeit glaubt an nichts – weder an ihre Religion, noch an ihre Regierung, noch an ihre Moral, noch an ihre Politik –, und wo kein Glaube, da kann auch keine Pflicht sein«, sagt der Held unseres Romans. Was kann es darum nützen, sich mit der Welt einzulassen, im Parlament einen Wahlkreis zu vertreten und dort mit anderen Nichtwissern und Gesetzesexperimentatoren aufs Geratewohl loszuregieren? Wo ist die leitende Idee, auf Grund deren regiert wird, wo sind die Prinzipien, nach denen gehandelt wird, wohin geht diese ganze geräuschvolle und geschwätzige Reise? Nicht die Freunde, nicht die Eltern, nicht die Erzieher, weder staatliche noch kirchliche Würdenträger können Tancred eine befriedigende Antwort geben, und da Tancred ein gewissenhafter Mensch ist, der nicht wie andere brave Leute im Dunkeln fechten und ins Blaue hinein steuern will, so verfällt er in seiner Ratlosigkeit auf den für seine Umgebung unverständlichen Gedanken, in das Heilige Land zu pilgern, in der frommen Hoffnung, daß ihm dort, wo die Menschheit schon oftmals wichtige Lehren empfangen hat, Erleuchtung und Aufklärung in all seinen Zweifeln zuteil werden möge.

Das asiatische Land, auf dem trotz seines Niederganges noch immer die Ruhe des patriarchalischen Zeitalters liegt, ein Land, das trotz aller Leiden, die ihm die Entwicklung des jungen Europas gebracht hat, noch immer der Natur näher steht und darum glücklicher ist, als das plan- und sinnlos gehetzte und verhetzte Morgenland, macht auf den jungen Pilgersmann sofort einen unvergeßlich-wohltuenden Eindruck. Aber die gewünschte Erleuchtung kommt ihm nicht sogleich, selbst nicht in jener Nacht, die er stundenlang betend in der heiligen Grabeskirche verbracht hat. Da macht er eines Tages bei einem Spaziergange aus den Toren Jerusalems heraus die Bekanntschaft der schönen, jungen Eva, der einzigen Tochter des reichen jüdischen Kaufmanns Besso, auf dessen Haus er von London aus einen Kreditbrief hatte. Zwischen den beiden jungen Leuten entspinnt sich ein längeres Gespräch, in welchem die kluge Jüdin den edlen Engländer über manches Rätsel aufklärt und ihm besonders durch ihr energisches Eintreten für die eigene Rasse aufs höchste fasziniert. Die Worte Evas, die den jungen Mann auf die große Bedeutung des Judentums für das Christentum und der jüdischen Rasse für die moderne Christenheit hinweisen, werden in dem Geiste Tancreds noch stärker durch eine Unterhaltung mit einem spanischen Abte eingebrannt, der im Laufe des Gesprächs das Wort fallen läßt: »Der Sinai hat uns zum Kalvarienberg geführt – vielleicht ist es richtig für Sie, von dem Kalvarienberg nach dem Sinai zurückzupilgern.« Tancred befolgt den Rat und tritt sofort unter dem Schutze einer Beduinentruppe seine Reise durch die Wüste nach dem heiligen Berge an.

Nach mancherlei Fährlichkeiten erreicht er schließlich das Endziel seiner Pilgerfahrt. Bei Nacht erklimmt er die heilige Stätte, auf der einst die Offenbarung stattgefunden hat, und schickt aus einsamer Felsenwildnis zum Himmel ein verzweifeltes Gebet, das von dem Verfall der alten Sitten und Pflichten Europas berichtet, das den schweren Kummer des äußerlich so leichtfertigen Erdteils beklagt, und die Vorsehung um Erleuchtung für das eigene und der Mitmenschen Wohl bittet. Dem Auge des frommen Pilgers erscheint eine überlebensgroße Gestalt, die sich als der Schutzengel Arabiens kundgibt, jenes Landes, das die Welt regiert, denn »die Macht ist weder das Schwert, noch der Schild, die wie der Wind vergehen, nein, die Macht sind die Gedanken, denn sie sind göttlich«. Der Schutzengel verkündet, daß das Leid Europas und der Menschheit durch die Revolutionen und den Abfall von den alten Göttern verursacht seien, daß Europa um so unglücklicher sei, je irreligiöser es geworden wäre, und daß demgemäß gerade die fortgeschrittensten Völker die beklagenswertesten seien. Nur durch die Rückkehr zum alten Glauben, nur durch die Erneuerung der ewigen semitisch-arabischen Prinzipien, die von alters her den Bekehrten so viel Gutes erwiesen hätten, könne die schwere Krankheit der Menschheit geheilt werden, und selbst die Gleichheit, nach der sie verlangen, könne nur unter der Führung Gottes und der von seinen Lehren inspirierten Männer durchgeführt werden.

Tancred hat seinen Zweck erreicht, aber die göttliche Botschaft hat in seinem Innern eine derartige Aufregung hervorgerufen, daß er in einen Verzückungswahn verfällt, der seinen Freunden Gründe zu den schwersten Besorgnissen gibt. Tage- und nächtelang wälzt sich der Kranke irreredend und schlaflos auf seinem Lager im Beduinenzelte, das fern von aller Zivilisation und ärztlicher Hilfe inmitten der starren arabischen Steinwüste aufgeschlagen ist. Schon wird das Schlimmste befürchtet, als Eva bei ihren Verwandten, jenen Beduinen, in deren Zelten Tancred krank daniederliegt, eintrifft. Sie besitzt Erfahrung in der medizinischen Wissenschaft, und es gelingt ihr, aus einigen am Flußrande gepflückten Blumen einen Schlaftrunk zu bereiten, der den todkranken Patienten wieder herstellt. Mit der Gesundheit erwacht auch wieder die Reiselust unseres Helden, der nunmehr seine Wanderung fortsetzt und sie erst beschließt, nachdem er das Bergvolk der Ansari besucht hat. Zu diesem Bergvolk hat noch nie ein Europäer Zutritt gefunden, denn es will weder mit Moslem noch Christen etwas zu tun haben, es wünscht sich von allem Verkehr mit Fremden fernzuhalten, um ungestört der Ausübung seiner alten Religion obliegen zu können. Diese alte Religion der Ansari stammt aus grauer Vorzeit, aus einer Zeit, die weder von Christus noch Mohammed wußte: hier betet man noch zu den alten heidnischen Göttern, deren prächtige Statuen pietätvoll in einem alten Felsentempel aufbewahrt und behütet werden. Die heidnischen Götterstatuen sind die Götter Griechenlands, die durch ihre edle Ruhe und erhabene Schönheit Tancred ebenso überraschen wie anziehen. »Auch hier sind Götter,« so sieht er schließlich ein und verkündet, als Frucht seines Nachdenkens und seiner Pilgerfahrt: »Der Hellene und der Hebräer gehören zu den höchsten Typen, die die Menschheit hervorgebracht hat.«

Kristallklar gewahren wir durch die romanhafte Einkleidung hindurch die klassisch ernsten Züge Disraelis, der in seiner enigmatischen Ruhe von den Zeitgenossen »die Sphinx« getauft wurde, und der von ihnen selber in Anlehnung an seinen »Tancred« als das »asiatische Mysterium« bezeichnet wurde. Nein, ein Mysterium war er wirklich nicht: er war im Gegenteil der einzige unmystische Denker einer verworrenen Zeit, und die Nebel, die seine Gestalt umwallen und verdunkeln, stammen einzig und allein aus den Köpfen seiner Kritiker, die im besten Falle kluge Gelehrte waren und darum nach Gelehrtenart an Religionsblindheit, an Blindheit für religiös gefärbte Charaktere litten. Denn war es wirklich so unverständlich, so hirnverbrannt, so mysteriös, daß Disraeli sich inmitten eines herzlos-kommerziellen Gemeinwesens, in dem ein jeder nur an sich selber dachte und denken durfte, des durch schwere Fronarbeiten erschöpften Volkes annahm? »Du sollst dich nicht schlafen legen über dem Pfande eines Dürftigen, du sollst dem Armen seinen Lohn nicht vorenthalten, du sollst das Recht des Fremdlings und der Waise nicht beugen und sollst der Witwe nicht das Kleid nehmen. Und wenn du auf deinem Acker geerntet und eine Garbe vergessen hast auf dem Felde, so sollst du nicht umkehren, sie zu holen, sondern sie soll des Fremdlings, der Waise und der Witwe sein, auf daß dich der Herr, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hände. Und du sollst gedenken, daß du selbst Knecht in Ägypten gewesen bist – darum gebiete ich dir, daß du solches tuest.« »Die Reichen und Mächtigen haben auch Pflichten, nicht nur Rechte,« so verkündet Disraeli in Anlehnung an diese Grundsätze,« und wenn diese Reichen und Mächtigen ihre Pflichten vergessen, wenn sie mit verschränkten Armen zusehen, wie geschwätzige Fabrikherren unter der Ägide einer falschen Wissenschaft – wie das grausame Manchestertum unter Berufung auf Darwins Lehre – sich an die Entkräftung, Ausbeutung und Verpöbelung des Volkes machen, so begehen sie ein schweres Unrecht, ein Unrecht, das sich nicht nur an den Bedrückten, sondern auch an den Bedrückern und ihren Helfeshelfern einstmals rächen wird.« Die Predigt erscholl nicht mehr im sonnigen Palästina, sondern im Nebellande der Briten, sie handelte nicht mehr von Ackerbau, sondern von der Industrie, sie war auch sonst etwas modern verändert und neumodisch-wissenschaftlich aufgeputzt – aber war sie wirklich so neu? Sie war so wenig neu, wie jene Rasse, welcher der Verkünder dieser Lehren angehörte, und jene Lehre selber war noch immer die alte, die schon vor Tausenden von Jahren einer unwilligen Mitwelt gepredigt wurde, und die alten Prediger selber waren es, die den späten Enkel inspirierten, ihm Mut zum Angriff, Kraft zum Aushalten, Trost in der Niederlage spendeten: Disraeli, die ehemalige »Sphinx« und das »asiatische Mysterium«, Disraeli, der seinerzeit die Rückkehr zum patriarchalischen Prinzip, zu den arabischen Gesetzen, zu den Religionen vom Sinai und Kalvarienberg predigte, war der letzte der jüdischen Propheten.

Er war wirklich der letzte, und er hat es gewußt, zum mindesten geahnt, daß er der letzte war. Trotz seiner äußeren Erfolge, die ihn an die Spitze der mächtigen Aristokratie des mächtigsten Weltreiches brachten, hat er sich nicht verhehlt, daß seine religiöse Mission, die er weit höher als seine politische stellte, gescheitert war. Es ist dem jüdischen Sozialaristokraten nicht geglückt, England und Europa zu patriarchalischen Formen zurückzubekehren, und das Fehlschlagen seiner Hoffnungen und Bestrebungen hat sicherlich seinem Gesichte jenen kummervollen Ausdruck gegeben, den aufmerksame Beobachter selbst dann noch an ihm bemerkten, als er schon das Ziel seines Ehrgeizes erreicht hatte und auf dem Gipfel seiner Macht stand. Je mehr Disraeli sich dem Ende seiner Tage näherte, desto deutlicher hat er eingesehen, daß er zu früh gesät, daß der starre Acker des neunzehnten Jahrhunderts für seine Ideen nicht empfangsbereit war. Aber bald nach seinem Tode ward es in England beklagt, daß seine Worte auf unfruchtbaren Boden gefallen waren, und gerade heute wieder geben einsichtsvolle Männer des Inselreichs dem Bedauern Ausdruck, daß der große Staatsmann seiner Zeit nicht jene diktatorische Gewalt in den Händen gehabt habe, die ihn befugt hätte, seine Ideen auch gegen das Parlament und die öffentliche Meinung durchzusetzen. Denn ängstlich sehen sich heute Adel und Kirche des britischen Weltreiches nach dem mächtigen Verteidiger um, dem sie während seines Lebens mißtraut haben, dem sie noch am Abend seiner Laufbahn die Worte »Mephistopheles«, »Abenteurer«, »unmoralischer Orientale« nachgerufen haben, und dem nach seinem Tode immer noch kein Nachfolger, kein wirksamer Beschwörer des demokratischen Hexenzaubers erstehen will.

Sie hoffen mit Unrecht auf ihn: ein neuer Disraeli würde wie der alte scheitern, und was der große Jude und letzte Prophet Israels nicht vermocht hat, würde kein anderer Großer, kein anderer Prophet, welchen Stammes er auch immer sein würde, zuwege bringen. Der Kampf Disraelis gegen Liberalismus und Materialismus, gegen Unglauben und Anarchie, gegen Romantik und Mondscheinidealismus mußte mißlingen, denn nicht der Unglauben, wie er vermutete, war sein Feind, sondern der Glaube. Die französische Revolution, jene große Bewegung, die er im »Tancred« als »Abfall von den semitischen Prinzipien« bezeichnet, war keineswegs ein Abfall vom alten Glauben, sie war die logische Folge dieses Glaubens und seiner Moral, denn der semitisch-christliche Glaube predigt in seiner letzten Entwicklungsphase – wie in seiner ersten – die Gleichheit aller Menschen. Alle jene abstrakten Menschheilsbeglücker, alle jene mondsüchtigen Idealisten, heuchlerischen Liberalen, verzückten Humanitarier, gläubigen Nonkonformisten, entrüsteten Sozialisten, die Disraeli so bitter bekämpft hat, sie waren in Wahrheit gläubiger als er, denn er glaubte nur an das Beiwerk der Religion, an Gott, Kirche und Dogma, sie aber an den Kern des Glaubens, an die christliche Moral. Wie konnte Disraeli durch Wiederherstellung derselben Prinzipien Gegner besiegen, die gerade die wörtliche, die sklavische Befolgung dieser Prinzipien zu seinen Gegnern, zu den fanatischsten Gläubigen gemacht hatte? Demokratie wie Romantik, Materialismus wie Liberalismus stammen ja aus dem Christentum – wie kann man dieses Christentums durch die Wiederbelebung jener semitischen Grundlehren Herr werden, die es geschaffen haben? Wie kann man einen Morphinisten durch mehr Morphium kurieren? Wie den Christen, den Übersemiten, durch mehr Judentum? In Wahrheit war der Semit Disraeli der am wenigsten Semitisierte im ganzen englischen Parlament seiner Zeit: er war Realist, sie waren Luftschiffer, er war Aristokrat, sie waren Demokraten, er war Dichter, sie Nationalökonomen, er war Weltmann, sie Gelehrte, er war kühl, sie romantisch, er war sarkastisch, sie beredt, er war aufrichtig, sie verheuchelt, er war intelligent und sie moralisch. Wie konnte er mit Erfolg die Ergebnisse der christlichen Moral mit ihrer Mutter, der jüdischen Religion, zu bekämpfen hoffen?

Und eine Ahnung von dieser Unmöglichkeit, eine Ahnung von dem großen Vergebensfazit, das wir Jüngeren unter sein Lebenswerk schreiben müssen, ist dem genialen Manne, der den tiefempfundenen »Tancred« geschrieben hat, nicht erspart geblieben. »Ich habe ein unsicheres Gefühl,« so sagt Eva, die das Judentum in unserem Romane verkörpert und das Sprachrohr des Dichters ist, »ich habe ein unsicheres Gefühl, als ob heldenhafte Bestrebungen zu einem Nichts geführt, als ob edle Kräfte nutzlos verschwendet worden wären, und doch ist es vielleicht niemandes Schuld. Vielleicht haben wir die ganze Zeit von etwas Unerreichbarem geträumt und uns auf Abwege leiten lassen. Der Hauptgrund unserer Enttäuschung liegt vielleicht in unserer irregeleiteten Phantasie.« Und der Held unserer Erzählung findet am Schlusse seiner Reise bewundernde Worte für die Götter der Griechen, die Schöpfungen einer gesunden, nicht irregeleiteten Phantasie, die Abbilder einer diesseitigen auf Schönheit, nicht einer jenseitigen auf Moral basierten Kultur, einer Kultur, die zwar von Israel besiegt wurde, die aber dennoch der Welt so manches übermittelt hat und übermitteln wird, was weder Synagoge, noch Kirche, noch Moschee ihr je geben können und werden. Der Versöhnung dieser beiden tausendjährigen Feinde, Hellas und Judäa, hat somit auch Benjamin Disraeli – wenn auch nicht mit derselben Offenheit wie der gesunde Heine – das Wort geredet: auch er hat dem Griechentum eine Gasse eröffnet, durch welche es siegreich wieder einziehen und der übergeistigten, moralverfinsterten, schönheitsverhungerten Welt nach langer Winteraskese einen neuen Kulturfrühling bescheren kann.

Er hat auch dem modernen Judentum den Weg gewiesen, er gab ein rühmliches Beispiel seinem eigenen ehrwürdigen Volke, das heute in nur zu berechtigter Verärgerung stumm beiseite steht, das in nur zu begreiflichem Egoismus heute nur an sich selber denkt, oder das sich gar noch aktiv an der Auflösungs- und Zersetzungsarbeit unserer Zeit beteiligt. Welch ein Verbrechen oder – was noch schlimmer – welch ein Mangel an Voraussicht! Das Großfeuer der Demokratie leckt noch immer mit unverminderter Stärke um sich, es hat schon so manches alte Haus der Vergangenheit verzehrt, es wird vor dem ältesten, dem Hause Israel wahrlich nicht haltmachen, ja gerade dieses Haus in seiner alten Würde, in seiner den Zeiten trotzenden Unvergänglichkeit, wird den Appetit seines Flammenmaules noch besonders reizen. Und die alten Erben und Besitzer dieses Hauses tragen unermüdlich selber Reisig und Petroleum, Pulver und Dynamit herbei, um das Feuer noch weiter zu stärken! Welch ein Frevel! Ein demokratischer Jude ist zu guterletzt ein Brandstifter am Hause seiner Väter – und wenn er ein unbewußter Brandstifter ist: nicht der energische Stifter seiner Religion, sondern der mildere »Fürst aus dem Hause Davids« vergab denen, die nicht wissen, was sie tun. Bei einem alten und erfahrenen Volke darf mangelnde Intelligenz nie verziehen werden, und wenn die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts in die Fußstapfen der des neunzehnten treten und fortfahren, eine morsch gewordene Gesellschaft zu unterminieren, so hat der Haß ihren Verstand geblendet: sie zerstören ohne die zwingenden Gründe ihrer Vorfahren, die noch ein echter und edler Haß beseelte, die ihrerseits ein Recht auf Revolution hatten, die sich auf ihre wirksame Durchführung auch vorzüglich verstanden haben. Denn von uralten Zeiten bis auf heute, von Ägypten bis in das moderne Deutschland und Rußland hinein, von Moses bis auf Lassalle und Karl Marx waren die Juden immer gute Revolutionäre, Revolutionäre, die vor jedem Tribunal der Welt bestehen können, denen keiner das Heldentum absprechen kann, so lange es für ehrenvoller gelten wird, sein Leben für Ideen einzusetzen, als sicher und behaglich im Besitze des Überkommenen zu leben. Aber heute, wo die Revolution gesiegt hat, heute, wo alles untergraben ist, heute, wo alles krankt und schwankt, heute, wo wir nur noch auf den Trümmern der alten Ordnung, auf den Ruinen der alten Kultur und Weltanschauung wandeln – welch eine Ehre kann heute die Revolution bringen, welch ein Mut, welch eine Selbstaufopferung, welch ein Draufgängertum gehört heute zu einer Auflehnung gegen die Oberen, die selber kaum noch an sich glauben, gegen die Autorität, die von wirklicher Autorität kaum noch ein Schatten und Fetzen ist? Die Revolution von heute ward zum Zeitungsgeschwätz und zum Parlamentsschacher, sie ward zur Statistik und zum Professorenthema, sie ward zu einer Revolution, an der sich Frauen beteiligen, an der sich demnächst auch Kinder beteiligen werden, sie ward zu einer Revolution, die die Majorität der Völker beschwatzt und für sich gewonnen hat, sie ward von einer europäischen zu einer asiatischen, zu einer Türken-, Perser- und Chinesenrevolution – – ist es würdig eines Volkes, das immer in der Minorität war, daß trotz seiner Minorität alle Völker zu seinen Anschauungen bekehrt hat, ist es des Volkes der wirklichen Revolutionäre würdig, sich an einer Allerweltsauflehnung zu beteiligen und Schulter an Schulter mit Revolutionsphilistern und Revolutionspharisäern zu kämpfen?

Eines solchen Volkes ist nur eine Revolution würdig, eine, die auch persönliche Gefahren mit sich bringt, und deren gibt es heute nur noch eine: die, welche sich dem Geist der Zerstörung entgegenwirft und zu neuem Schaffen und Aufbau leitet – die Revolution gegen die Revolutionäre. Das war die Lebensaufgabe, die der große Disraeli sich gesteckt hatte, eine Aufgabe, an der er gescheitert ist, weil er die Ursachen der Zeitkrankheit, die Gründe der Revolution nicht richtig erkannt hat. Für uns, die wir sie kennen, die wir durch Nietzsche wissen, daß unsere Religion selber den Menschheilsschiffbruch hervorgerufen, selber die revolutionäre Pestkrankheit von heute verursacht hat, ist das Rettungswerk an der Christenheit – und nicht nur an der Christenheit –, ist der Wiederaufbau und die Wiederbelebung Europas – und nicht nur Europas – eine doppelt heilige Pflicht. In der gewissenhaften Erfüllung dieser Pflicht werden wir unser eigenes Leid vergessen, wir werden den Massenhaß der Völker verwinden, ja, wir werden ihn überwinden, denn nicht durch Haß wird der Haß besiegt in dieser Welt, sondern nur durch Liebe. Und wir werden im Sinne des großen Mannes handeln, der vor uns als Einsamer und Einziger in Israel den Weg der Liebe ging, der vor uns die Welt auf die in Israel schlummernde Heil- und Heilskraft hinwies und der in seinem schönen Roman den kranken Tancred durch die Hilfe der klugen Eva gesunden und zu neuem Leben erstehen läßt.

London, Januar 1914.

Oscar Levy.

 


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