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Eva hatte sich, sobald sie die beiden Freunde erkannt hatte, wieder in ihre entfernte Ecke zurückgezogen und konnte darum nicht mehr hören, wie ihr Vater sie begrüßte: »Willkommen, edler Fremder! Unser edler Emir hier, dem ich ebenfalls meinen tausendfachen Gruß entbiete, hat mir schon erzählt, daß Sie gerne einmal einem Feste unseres Volkes beiwohnen möchten.«
»Ich würde jede Gelegenheit benutzen, um Ihnen meine Ehrfurcht zu bezeugen,« erwiderte Tancred, »aber dieser Festtag erscheint mir als ein besonders geeigneter.«
»Und wann, wenn ich fragen darf, sind Sie, edler Fremder, in Esch Scham eingetroffen?«
»Erst heute Morgen.«
Tancred fragte sodann nach Eva, und Besso führte ihn seiner Tochter zu.
Die Ankunft der neuen Gäste hatte inzwischen im Saale eine gewisse Aufregung hervorgerufen, die sich besonders unter den Fräulein Laurella sehr bemerklich machte. Ein junger Prinz aus dem Libanon war, welcher Religion er auch immer angehören mochte, auf jeden Fall eine ausgezeichnete und angenehme Bereicherung ihres gesellschaftlichen Zirkels, und in Tancred erkannten sie sofort den ihrem Herzen so nahestehenden zivilisierten Franken, d. h. einen Christen, der die Polka tanzen konnte. Seine weiße Kravatte und seine eleganten Pariser Lackstiefel waren ihren verschmachteten Augen darum wohlgefällig wie Quellen in der Wüste.
»Es ist heute eines unserer großen Feste,« sagte Eva und schüttelte bei diesen Worten leicht ihren Palmenzweig; »das Fest der hebräischen Weinlese, das Laubhüttenfest.«
Israel besitzt zwar keine Weinberge mehr, aber sein ewiges Gesetz befiehlt noch heute den Kindern dieses Volkes, das Fest der Weinlese zu feiern. Eine Rasse, die noch das Fest der Weinlese feiert, obgleich sie keine Trauben mehr sammeln kann, wird und muß einst ihre Weinberge wieder zurückgewinnen. Welch eine erhabene Unerbittlichkeit des Gesetzes! Welch eiserner Gehorsam! Welch ein unbezähmbarer Trotz in diesem Volke!
Leicht fällt es dem glücklichen Sephardi, Dem sogenannten spanischen Juden, im Gegensatz zu den deutschrussischen Juden, den Aschkenazim. dem Juden, der niemals die sonnigen Gestade des Mittelmeeres verlassen hat – leicht fällt es ihm, obwohl auch er sein Land verloren hat, in seiner schönen asiatischen Stadt oder in seinem maurischen und arabischen Garten jene schönen, alten Zeremonien zu befolgen, denn er lebt noch in einem glücklichen Klima, in einem Klima, welches diese Zeremonien verständlich macht. Aber man stelle sich einen Sohn Israels in einer schmutzigen Gasse einer kalten, nordischen Stadt vor, in die die Sonne, unter deren Strahlen allein die Trauben reifen, überhaupt niemals hineinscheint. Und doch feiert auch er das Weinlesefest des purpurnen Palästina! Das Gesetz befiehlt auch ihm, dem Bewohner eines eisigen Klimas, sieben Tage in einer Hütte zu wohnen, einer Hütte, die er sich aus den Zweigen dicker Bäume selbst errichten Muß: die Rabbiner haben ihm vorgeschrieben, daß diese dicken Bäume die Palme, die Myrte und die Bachweide sein sollen. Selbst in Rußland kann man ja einen Bachweidenzweig bekommen. Das Gesetz befiehlt ihm weiter, die Früchte schöner Bäume zu sammeln, und die Rabbiner haben zur Erklärung hinzugefügt, daß die Frucht schöner Bäume bei dieser Gelegenheit allein die Zitrone sein soll. Vielleicht sieht sich darum der nordische Jude in seiner Verlegenheit gezwungen, zum Kolonialwarenhändler zu gehen und daselbst eine einzuhandeln. Seine kaufmännischen Verbindungen setzen ihn dahingegen sicherlich in den Stand, sich, freilich nicht ohne großen Kostenaufwand, einige Palmblätter aus Kanaan kommen zu lassen, die er in seiner Synagoge schütteln kann, während er dabei, genau wie die Menge zu Jerusalem, als der göttliche Abkömmling Davids die Stadt betrat, ausruft: »Hosianna dem Höchsten!«
In dieser genauen Beobachtung orientalischer Riten inmitten unserer angelsächsischen, deutschen und slawischen Länder liegt etwas höchst Merkwürdiges. Oder ist es etwa nicht merkwürdig, daß die Abkömmlinge jener Beduinen, die Kanaan vor mehr als dreitausend Jahren eroberten, noch heute jenen Sieg feiern, durch den einst ihre Ahnen Trauben und Wein gewannen?
Man stelle sich ein menschliches Wesen vor, das in der Judenstraße zu Hamburg oder Frankfurt oder, wenn man will, in der Nähe von Houndsditch oder Minories, Zwei von armen Juden bewohnte Stadtteile des östlichen Londons. geboren ist, ein Wesen, das nur geschaffen scheint, um die erblichen Beleidigungen seines Volkes pflichtschuldigst entgegenzunehmen, das keinerlei Erziehung genossen hat, nicht den geringsten Schönheitssinn besitzt, noch irgend welchen besseren Geschmack in sich entwickeln kann – man stelle sich solch ein menschliches Wesen vor, das in Nebeln und Schmutz fast verkommt, das sich mit der gemeinsten, wenn nicht gar entehrendsten Arbeit abgibt, das beständig darauf lauert, wen es betrügen oder bewuchern kann, das sich in den entwürdigendsten Verhältnissen befindet, in Verhältnissen, die schon längst irgend eine unreine, nichtkaukasische und nicht das mosaische Gesetz befolgende Rasse erdrückt haben würden – man stelle sich im Geiste solch ein Wesen vor und zugleich mit der Vorstellung – ich weiß es wohl – wird in das Herz eines jeden Vorurteil, Abneigung, nein Abscheu und Haß einziehen. Und doch, wenn die Jahreszeit herankommt, so ziehen in das Herz selbst dieses verachteten Wesens Gefühle und Vorstellungen ein, die zu allen Zeiten als die schönsten und heitersten der Menschheit gegolten haben, Gefühle der lebhaften Freude und des überschäumenden Dankes, Gefühle, die Poeten begeistert und Götter geschaffen haben, Gefühle, die nur eine einzige Veranlassung den Kindern dieser Erde einflößen kann: die Weinernte im Heimatlande der Traube.
Frühmorgens steht er auf, geht auf einen der Marktplätze Whitechapels und kauft dort einige Weidenzweige, die er schon vorher bestellt hat und die wahrscheinlich von den Flußufern der Grafschaft Essex stammen. Dann geht er rasch wieder nach Hause, räumt den kleinen Hof seines erbärmlichen Wohnhauses aus, baut seine Laubhütte, deckt ihr Dächlein mit den schönsten Früchten und Blumen, die er sich besorgen konnte und unter denen die Myrte und Zitrone einen besonderen Platz einnehmen und schmückt die Decke mit bunten Lampen aus. Wenn dann der Abendgottesdienst in der Synagoge zu Ende ist, so nimmt er hier in der freien Luft mit seiner Frau und seinen Kindern das Abendessen ein, ganz, als ob er sich noch in den lieblichen Dörfern Galiläas und unter dem sanften Sternenhimmel Syriens befände.
Und dann folgt das Kidduschgebet, der jüdische Segen über die jüdische Mahlzeit, wobei das Brot gebrochen und verteilt und ein Schluck Weines aus dem bereitstehenden Becher getrunken wird – und der arme Jude befolgt mit diesem Kiddusch genau dieselbe Zeremonie, die einst der göttliche Fürst aus israelitischem Stamme bei dem denkwürdigen Mahle beobachtete und die von jener Zeit an in der Christenheit als Abendmahl bezeichnet wird. Vielleicht spricht er auch gerade den besonderen Dankessegen des Laubhüttenfestes, einen Segen, der Jehova für die Weinlese preist, die seine Kinder nicht mehr feiern können, aber der den großen Gott auch an sein Versprechen erinnert, daß sie eines Tages wieder dazu imstande sein werden. Und während seine Frau und seine Kinder einstimmen mit ihrem frommen Hosianna! – das heißt »gib uns Heil!« – geht eine Gesellschaft von Engländern an dem Hause vorbei: brave, angesehene Leute, die ihre Steuern regelmäßig bezahlen, sich gerade heute, wenn auch nicht zu Ehren des Weinlesefestes, einen kleinen Rausch angetrunken haben und nun folgende Unterhaltung vom Stapel lassen:
»Sag mal, Buggins, was ist denn da los?«
»Pah! Das ist wieder einmal diese verfluchte Judenbande – wir haben ihrer nur zu viel in der Stadt. Sie feiern heute eines ihrer schauderhaften Feste. Der Lord-Mayor sollte wirklich dagegen einschreiten. Allerdings ist die Sache nicht mehr ganz so schlimm wie früher, da sie unter großem Heidenlärm noch kleine Jungens dazu kreuzigten, während sie heute sich wenigstens darauf beschränken, nur stinkende Schweinewürste zu essen.«
»Ja, ja,« antwortete ein anderer, »die Welt macht doch Fortschritte.«
Aus den Gärten Bessos von Damaskus erschallt jetzt frohe Musik. Der Gastgeber geht auf Tancred und den Emir zu, ladet sie ein, ihm zu folgen und alle Welt geht, ohne Ordnung und ohne etwa den Vortritt dem zarten Geschlechte zu lassen (das ganz im Gegenteil hintendran nachfolgt), durch die sarazenischen Fenster hindurch in den Garten hinein. Man sah jetzt, daß Bessos großer Palast genau in der Mitte der Anlagen gelegen war. Nach keiner Richtung hin konnte man ein anderes Dach oder Gebäude erkennen und doch war das Haus vollkommen in der Mitte der Stadt gelegen, und jener Eindruck der Unbegrenztheit der Anlagen kam von den mächtigen, schattenspendenden Platanen, die die Aussicht auf andere Häuser angenehmerweise versperrten. Das Haus war, obwohl es für ein orientalisches Gebäude recht stattlich war, nur einen Stock hoch und hatte vorne eine äußere und doppelte Treppe, die die Gäste nach einer kurzen Promenade im Garten hinanstiegen. Sie führte auf das Dach und die Terrasse des Hauses, die ein längliches und ziemlich großes Viereck darstellte, und ebenfalls einen Garten aufzuweisen hatte. Ziemlich hohe Myrtenbäume, zwischen denen andere Blumensträucher sich erhoben, waren dicht an den vier Seiten des Daches angepflanzt und bildeten ein undurchdringliches Spalier, durch das kein Späherblick von der Stadt oder von einer benachbarten Terrasse hindurchdringen konnte. Diese grünen Wälle erfuhren jedoch in jeder der vier Ecken eine Unterbrechung, denn hier stand je ein vorspringender Pavillon aus weißem Marmor, eine leichte, mit gewürfeltem Schnitzwerk versehene Kuppel, die auf einer Anzahl bekränzter Säulen ruhte. Von diesen kleinen Pavillons aus hatte man die herrlichste Aussicht auf die Stadt und deren Umgegend, auf eine Menge dunkelgrüner Haine, weißer Minaretts, herrlicher Gärten und gekuppelter Dome. Im Süden und Osten der Stadt, dort, wo die fruchtbare Ebene zu Ende ging, bemerkte man den grellen Glanz der Wüste, im Westen sah man die Kette des Libanons, während im Norden andere Berge auftauchten, die Tancred noch unbekannt waren.
In der Mitte der Terrasse befand sich ein nur für die Gelegenheit errichtetes Zelt von ganz merkwürdiger Art. Es war ungefähr vierzig Fuß lang, halb so breit und ziemlich hoch. Das Dach des Zeltes wurde von zwölf Palmenbäumen, von denen eine Menge reifer Früchte herabhingen, getragen und war selber aus einer Anzahl geschickt ineinander geschlungener Baumzweige geflochten, an denen ihrerseits wieder prächtige Früchte, wie Zitronen, Orangen, Granatäpfel, Feigen, Melonen und Bananen, und zwar in solcher Menge herunterhingen, daß das Ganze in seiner reichen Farbe wiederum wie die geschnitzte Decke im Innern des Hauses aussah, eine Ähnlichkeit, die durch die kronleuchterartig herunterhängenden, mächtigen Weintrauben noch erhöht wurde. Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Palmen waren mit einem natürlichen Flechtwerk von blühenden und mit Früchten beladenen Orangebäumen versehen, die hier und da einen bogenförmigen Raum freiließen, durch den der Eintritt und Ausgang erfolgte.
Im Zelte selber stand ein mächtiger Tisch, der mit einem weißen, goldbesetzten Damaszener Seidentuch gedeckt war, und neben jedem Gedeck befand sich eine Serviette aus demselben Stoff. Alles, was man bei solchen Gelegenheiten in Europa zu finden gewöhnt ist, Blumenschmuck, Tafelaufsätze, kostbares Porzellan, war auch hier vorhanden, denn was könnte sich ein Mann von Geschmack, Geld und Einfluß nicht verschaffen? Da war das schönste Porzellan aus Frankreich, da waren goldene Becher, die in der Bondstreet gekauft und deren Muster wahrscheinlich ein paar Rennpreise von Ascot oder Goodwood gewesen waren, da war das schönste böhmische Glas zu finden und dazwischen blitzten triumphierende Messerklingen aus Sheffield auf, und das in einer Stadt, die für ihre Schmiedearbeit einst hochberühmt war. Um den Tisch herum ging ein Diwan in bernsteinfarbigem Satin mit vielen Kissen darauf, so daß die Gäste sowohl der europäischen, wie der orientalischen Sitzweise pflegen konnten. So sah die Laubhütte Bessos von Damaskus aus, in der dieser den siebenten Tag des Weinlesefestes feierte.