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Evas plötzliches Erscheinen in Gindarics und die peinlich geheimnisvolle Szene, die es daselbst abgegeben hatte, hatten Tancred in die äußerste Bestürzung versetzt. Sobald sie Astarten verlassen hatten, hatte er zwar Fakredin um Auskunft gebeten und um Rat gefragt, wie man der armen Eva helfen könnte – aber vergeblich. Der Emir schien zum ersten Male, seitdem er ihn kennen gelernt hatte, vollkommen geistesabwesend zu sein. Er war niedergeschlagen, ja, wie betäubt, seine Sprache ließ den gewohnten Zusammenhang vermissen und sein ganzes Wesen drückte die fürchterlichste Verzweiflung aus. Tancred schrieb zwar seine Ratlosigkeit der peinlichen Überraschung zu, die er ob der Gefangennahme der Tochter Bessos empfinden mußte, er konnte aber dennoch diesen plötzlichen Zusammenbruch aller seiner sonstigen Fähigkeiten, diese seine plötzliche Hilflosigkeit mit seiner früheren Fuchsklugheit und Gewandtheit in allen Lebenslagen kaum in Zusammenhang bringen.
Sobald sie in ihr Zimmer gekommen waren, warf sich Fakredin auf den Diwan und seufzte; dann sprang er wieder von seinem Sofa auf, lief im Zimmer aufgeregt auf und ab und rang in Verzweiflung seine Hände. Alles, was Tancred aus ihm herausbekommen konnte, waren Worte der Verzweiflung, Verwünschungen seiner selbst und Ausdrücke der Furcht und des Schreckens darüber, daß Eva in die Hände von Heiden und Götzenanbetern gefallen war.
Vergeblich suchte sich Tancred mit Keferinis in Verbindung zu setzen. Der Minister war und blieb unsichtbar. Trotz mannigfacher Beratungen mit Baroni und mancherlei vergeblicher Versuche, an Eva eine Mitteilung gelangen zu lassen, brach die Nacht herein, ohne daß man irgend etwas in dieser Hinsicht erreicht hätte. Tancred warf sich ermüdet auf sein Lager, jedoch nicht um zu schlafen, sondern um in einen unruhigen Traumzustand, der durch die Besorgnis um seine Freundin veranlaßt war, zu verfallen.
Als der Morgen dämmerte, stand er auf und sah sich nach Fakredin um, aber dieser hatte zu seiner Überraschung schon das Zimmer verlassen. In Gindarics schien an diesem Tage eine ganz ungewöhnliche Stille zu herrschen, auch nicht eine einzige Seele ließ sich blicken. Gewöhnlich herrschte bei Sonnenaufgang schon das größte Leben und kurze Zeit nachher pflegte Keferinis den Gästen seiner Königin die erste Aufwartung zu machen – aber heute schien Keferinis diese Zeremonie vergessen zu haben und Tancred, der des Rates und seiner Gesellschaft heute am meisten bedurft hätte, sah sich plötzlich ganz allein. Auch Baroni, der etwas über Evas Verbleib zu erfahren gesucht hatte, war nicht zu finden.
Tancred war schließlich zu dem Entschluß gekommen, sobald wie möglich Evas wegen eine Audienz bei Astarte nachzusuchen und dieser die Sachlage klarzulegen, was seiner Meinung nach vollkommen genügen würde, um die Königin zu einer gelinden Behandlung und schließlich zur Entlassung ihrer Gefangenen zu bestimmen. Die Tatsache, daß diese zu dem Emir in solch nahem verwandtschaftlichen Verhältnis stand und daß auch er selber ihr für ihre edle Hilfsbereitschaft sehr verpflichtet war, würde, wie er meinte, vollkommen genügen, selbst wenn es der Zauber ihrer Persönlichkeit allein nicht vermocht hätte, die Königin zu ihren Gunsten zu stimmen. Die Schwierigkeit lag nur darin, diese Audienz bei Astarte zu erhalten, denn weder Keferinis noch Fakredin ließen sich sehen und Tancred wußte nicht, auf welche andere Weise er sie sich verschaffen konnte.
Ungefähr zwei Stunden vor der Mittagsmahlzeit kam Baroni mit der Nachricht, daß es ihm gelungen sei, Cypros ausfindig zu machen und daß er von ihr gehört hätte, daß Astarte zum großen Göttertempel gegangen sei. Tancred beschloß daraufhin, sofort in den Palast zu gehen und von dort aus den Weg zu dem geheimnisvollen Heiligtume ausfindig zu machen. Dieses war natürlich durchaus nicht leicht, aber dem Kühnen hilft oft der Zufall und sein Versuch wurde so von Erfolg gekrönt. Tancred durchschritt rasch die einzelnen Zimmer des Palastes, der gänzlich verlassen schien, in dem er jetzt aber schon sehr gut Bescheid wußte, und kam ohne große Schwierigkeit an das bronzene Tor, das zu dem Tunnel nach dem Tempel führte, aber dieses Tor fand er verschlossen. Ärgerlich und beinahe verzweifelt stand er so da, als von der Ferne Chorgesang an sein Ohr klang, worauf sich Schritte hören ließen und das Tor sich von innen langsam öffnete. Er war zunächst der Meinung, daß die Königin wieder zurückkehrte, aber er sah sich darin getäuscht, denn während er in einer Nische verborgen dastand, kamen eine Menge Pagen, Frauen und Priester, aber ohne die Königin aus dem Tore heraus an ihm vorbei, von denen ihn jedoch kein einziger bemerkte. Tancred faßte einen kühnen Entschluß und ging, sobald der letzte Teilnehmer der Prozession an ihm vorbei war, kühn durch das noch offene Tor hinein. Dieses schloß sich unmittelbar, und zwar mit einem merkwürdigen Tone, hinter ihm und Tancred befand sich in ziemlicher Dunkelheit gänzlich allein. Es kam ihm jedoch zustatten, daß er schon früher einmal hier gewesen war. Zunächst allerdings konnte sein Auge, das draußen an den Sonnenschein gewöhnt war, nichts sehen, dennoch gewöhnte es sich mit der Zeit an die Dunkelheit, so daß er, wenn auch undeutlich, einen Weg entdecken konnte. Tancred ging diesen entlang und bemerkte zu seiner Freude, daß die Dunkelheit mit jedem Schritte abnahm, so daß er schließlich wieder auf jene Lichtung herauskam, die dem Tempelberg am Ende der Schlucht gegenüberlag. Der Anblick, der sich ihm darbot, war jetzt womöglich noch wunderbarer und überraschender für ihn, da er ihn allein und mit den erwartungsvollsten Gefühlen genoß. Wie voll der Abenteuer ist das Leben! Langweilig ist es wahrhaftig nur für die Langweiligen! Zwar tun keine magischen Ringe und keine Zauberstäbe mehr ihre Wunder, es gibt auch keine feurigen Drachen mehr, die einem im Leben begegnen können und von denen unser Schicksal abhängt, aber die Beziehungen der Menschen zueinander sind viel zahlreicher und viel intimer geworden wie in früheren Zeiten, und in dem Spiele der Leidenschaften und in der schöpferischen Kraft großer Geister, die heute einen weiteren Spielraum für ihre Tätigkeit haben wie je, liegt auch eine geheime Zauberkraft verborgen, die bedeutend mächtiger ist, als die ganze schwarze Kunst von Merlin und Mönch Bacon.
Tancred betrat den Tempel, den letzten Zufluchtsort der olympischen Götter. Einer reinen Rasse verdanken wir diese unnachahmlichen Bilder, die in ihnen ein idealisiertes Abbild ihres eigenen Ichs schufen. Wenn ihre künstlerischen Grundsätze von einer anderen Rasse übernommen und befolgt werden, so können sie unmöglich zu denselben Schöpfungen führen. Und doch verschließen wir blindlings unsere Augen gegen diese größte aller Wahrheiten und erwarten von den Pikten und Sarmaten die Götterbilder eines Phidias und Praxiteles!
Tancred, der in Gegenwart von so viel Schönem und Erhabenem eine gewisse Beklommenheit verspürte, ging langsamen Schrittes durch das Höhlenheiligtum hindurch. Kein menschliches Wesen ließ sich blicken. Zu seiner Rechten bemerkte er den Altar, zu dem Astarte ihn bei seinem ersten Besuche geführt hatte. Er wollte gerade eintreten, als er vor der Statue Apollos von Antiochia die schöne Königin der Ansari selber bemerkte, die bewegungs- und sprachlos, mit über dem Busen gekreuzten Armen und mit starr auf das Götterbild gerichteten Träumerblicken auf ihren Knien lag.
Die Strahlen der höhersteigenden Sonne fielen jetzt mit ganzer Macht auf die Statue, verliehen dem Marmor einen besonderen Glanz und vergoldeten seine Konturen mit einem breiten, goldenen Heiligenscheine. Sobald Tancred die Königin erkannt hatte, trat er einige Schritte zurück, wodurch sein Schatten an der glühenden Wand des Felsentempels deutlich sichtbar wurde. Astarte stieß einen unterdrückten Schrei aus, erhob sich aus ihrer Stellung und sah sich um. Ihre Augen trafen die Lord Montacutes. Die hohe Frau errötete und wandte ihren Blick ab.
»Ich wollte mich gerade zurückziehen«, murmelte Tancred.
»Und warum zurückziehen?« sagte Astarte mit sanfter Stimme und sah dabei wieder zu ihm auf.
»Es gibt Augenblicke der Einsamkeit, die heilig sind.«
»Ach, ich bin zu oft allein, und oft, besonders in den letzten Zeiten, drückt mich meine Einsamkeit schwer.«
Sie tat einige Schritte vorwärts und beide gingen wieder in den Haupttempel zurück und traten schließlich aus ihm heraus in den hellen Sonnenschein hinein. Sie standen zusammen unter dem breiten ionischen Portal und ergötzten sich an der prächtigen Aussicht ringsumher. Als Tancred bemerkte, daß Astarte nicht weiter gehen wollte, hielt er die Gelegenheit für günstig, seine Angelegenheit zur Sprache zu bringen und erzählte der Königin den Grund, warum er ihre Morgenandacht gestört habe. Er sprach mit jenem Ernst und mit jener leidenschaftlichen Ruhe – man verstehe dieses Wort wohl! – über die er so vollkommen verfügte. Er wies auf Bessos Charakter, seine großen Tugenden, seine liebenswürdigen Eigenschaften, seinen Edelmut und seine Freigebigkeit hin; er suchte in jeder Beziehung an Astartes gutes Herz zu appellieren, ihre Zuneigung für die Familie Evas und für Eva selber in ihr zu erwecken. Er sprach dabei mit der Beredsamkeit des Herzens, hob den lebhaften Geist, den hohen Sinn, die herrlichen Eigenschaften der Gefangenen mit Geschicklichkeit hervor, und wenn er es auch klugerweise einer anderen Frau gegenüber vermied, zu genau auf ihre persönlichen Reize einzugehen, so verbarg er doch nicht vor der Königin, wie tief er selber Eva, die seinetwegen eine romantische Reise in die Wüste unternommen hatte, verpflichtet sei.
»Sie können jetzt den Kummer verstehen,« so schloß er, »den ich empfinden mußte, als ich sie gestern hier als Gefangene behandelt sah. Der einzige Trost, den ich hatte, war der, daß ich weiß, in wessen Hände sie gefallen ist und darum werfe ich mich zu ihren Füßen, um Sie zu bitten, Eva die Freiheit zu schenken.«
»Ich verstehe dies alles recht wohl«, sagte Astarte in ruhigem Tone.
Tancred sah sie an. Ihre Stimme kam ihm verändert vor – der Ausdruck ihres Antlitzes beunruhigte ihn noch mehr. Er war gänzlich verschieden von jenem sanften und ergebungsvollen Gesichte, das er noch vor wenigen Augenblicken vor der Statue des Apollo gesehen hatte. Sie war ganz blaß, beinahe bläulichblaß geworden; ihre feinen Züge hatten plötzlich einen harten Ausdruck gewonnen und sahen wie verzerrt aus und alle schlechten Leidenschaften schienen sich plötzlich in jenem Antlitze, das gewöhnlich so sanft, so schön, so wahrhaft engelhaft lieblich aussah, ein Stelldichein gegeben zu haben.
»Jawohl, ich verstehe dies alles recht gut,« sagte Astarte, »aber ich werde keinen Finger rühren, um Sie in der Umgehung der Gesetze Ihres Landes und im Zuwiderhandeln gegen die Wünsche Ihrer Souveränin zu unterstützen.«
»Ich – die Gesetze meines Landes umgehen!« rief Tancred bestürzt aus.
»Ja, ich weiß alles. Ihre Pläne sind wirklich die eines Helden und außerdem recht schmeichelhaft für uns. Wir sollen unsere Lanzen dazu hergeben, um eine Person auf den Thron Syriens zu setzen, der der Aufenthalt in Ihrem eigenen Lande, geschweige denn die Regierung daselbst, auf das bestimmteste verboten ist.«
»Aber bitte, wovon sprechen Sie eigentlich?«
»Ich spreche von der Jüdin, die Sie heiraten wollen,« sagte Astarte mit leiser aber deutlicher Stimme und dabei einen scharfen Blick auf Tancred werfend, »von der Jüdin, die Sie gegen alle göttlichen und menschlichen Gesetze heiraten wollen.«
»Sie meinen Ihre Gefangene?«
»Nun, meinetwegen nennen Sie sie meine Gefangene – ich habe mich ihrer wenigstens gut genug versichert.«
»Wie ist es nur möglich, daß Sie mich für den Bräutigam der Tochter Bessos halten können?« fragte Tancred ernst. »Ich trage das Kreuz im Herzen – das ist mir das Höchste auf Erden – ich habe eine himmlische Mission zu erfüllen und keine irdische Lockung soll mich davon abbringen. Aber selbst wenn ihre Tugend und ihre Schönheit mehr Eindruck auf mich gemacht hätten, so ist sie ja doch schon verlobt und mit jemand verlobt, dem meiner Meinung nach auch ihr Herz gehört.«
»Verlobt?«
»Nicht allein verlobt, sondern sie wäre jetzt schon verheiratet, wenn dieses traurige Abenteuer nicht dazwischen gekommen wäre. Sie befand sich gerade auf dem Wege von Damaskus nach Aleppo, um sich ihrem Vetter zu vermählen, als sie von den Ihrigen zur Gefangenen gemacht und hierher gebracht wurde, wo Sie sie, wie ich hoffe, nicht zu lange zurückhalten werden.«
Astartes Antlitz veränderte sich, es verlor seinen schmerzlichen, rachsüchtigen Ausdruck, drückte aber noch immer ein großes Mißbehagen aus. Nach einer Weile sagte sie: »Könnte dies wahr sein?«
»Wer kann Ihnen dies nur erzählt haben?«
»Einer, der ihr und ihrer Familie feindlich gesinnt ist,« fuhr Astarte mit leiser Stimme fort und die Worte kamen wie geistesabwesend aus ihrem Munde, »einer, der mir seinen langgehegten Haß gegen sie und ihre Familie eingestanden hat.«
Sie drehte sich bei diesen Worten kurz gegen Tancred um und sah ihm mit einem scharf prüfenden Blicke ins Gesicht. Sein Auge wich dem ihrigen nicht aus, sein Antlitz drückte Teilnahme und zu gleicher Zeit Milde und Freundlichkeit aus.
»Nein,« sagte sie, »Sie können nicht lügen.«
»Warum sollte ich denn lügen? Wer hat nur meinen Namen mit all diesen Dingen in Verbindung gebracht?«
»Warum Sie lügen sollten? Ja, das ist es eben,« sagte Astarte mit sanfterer, trauriger Stimme, »was liegt Ihnen überhaupt an uns?« Und sie begann zu weinen.
»Es tut mir leid, Sie so traurig zu sehen«, sagte Tancred, indem er einen Schritt näher trat, mit teilnahmvoller Stimme.
»Ich bin mehr als traurig: dieses unglückliche Mädchen –« hier konnte Astarte vor Schluchzen nicht mehr weitersprechen.
»Nun, Sie werden sie in Sicherheit und mit ehrenvollem Geleite zu den ihrigen zurücksenden,« sagte Tancred begütigend. »Ich bin beinahe zu der Ansicht gekommen, daß ihr Vater nicht tot ist. Mein Reisemarschall hat mir nämlich erzählt, die türkischen Soldaten hätten gesehen, daß er vom Schlachtfelde weggetragen worden sei. Sie werden sich mit Genugtuung sagen können, daß Sie Ihre Gefangene freundlich und edelmütig behandelt haben, wie es bei Ihrem guten Herzen nicht anders zu erwarten stand, und die Tochter Bessos wird, wenn sie die eine Hand ihrem Vater und die andere ihrem Gatten reichen kann, bald alles vergessen haben.«
»Es ist zu spät«, sagte Astarte mit Grabesstimme.
»Was heißt das?«
»Es ist zu spät. Die Tochter Bessos ist nicht mehr.«
»Der Himmel helfe uns!« rief Tancred aufs tiefste erschüttert aus, »sagen Sie das noch einmal! Was war das?«
Astarte schüttelte ihren Kopf.
»Weib!« sagte Tancred und faßte sie beim Handgelenk, aber die Gedanken schossen ihm zu schnell durch das Hirn, um Ausdruck zu finden, und er blieb blaß und nach Luft schnappend stehen.
»Die Tochter Bessos lebt nicht mehr – und ich bedauere es nicht, denn Sie haben sie geliebt.«
»O gnädiger Gott!« sagte Tancred mit einem Schmerzensschrei und bedeckte nach einem Blicke gen Himmel sein Gesicht mit den Händen. »Ich habe sie geliebt, wie ich die Sterne und den Sonnenschein liebte.« Nach einer Weile wandte er sich wieder zu Astarte: »Diese entsetzliche Tat – wann ist sie geschehen?«
»Ist sie wirklich so entsetzlich?«
»Ebenso entsetzlich wie diese Worte von weiblichen Lippen. Verflucht sei die Stunde, in der ich jemals diesen Ort betrat.«
»Nein, nein, nein!« sagte Astarte und ergriff verwirrt ihn beim Arm. »Nein, nein! Keine Flüche!«
»Es ist nicht wahr!« sagte Tancred, »es kann nicht wahr sein! Sie ist nicht tot!«
»Wenn ihr Tod mir Flüche einbringen sollte, wäre es besser für mich, sie wäre am Leben geblieben.«
»Sagen Sie mir, wann es geschehen ist?«
»Vor einer Stunde – mindestens.«
»Ich glaube es nicht. Es gibt keinen Arm, der sie zu berühren gewagt hätte. Wir wollen zu ihr. Es ist noch nicht zu spät.«
»Leider ist es zu spät,« sagte Astarte. »Ein Feindesarm hat die Tat vollbracht.«
»Ein Feind! Wie konnte Bessos Tochter unter Ihrem Volke einen Feind haben!«
»Sie hatte einen tödlichen Feind, einer, der die Gelegenheit benutzte, um eine lange unterdrückte Rache zu üben; einer, der Jahre hindurch der Feind, ja, das Opfer ihrer Rasse und ihres Hauses gewesen ist! Es ist keine Hoffnung mehr!«
»Ich bin außer mir! Wer könnte das gewesen sein?«
»Ihr Freund, Ihr sogenannter Freund wenigstens: der Emir des Libanons.«
»Fakredin?«
»Der nämliche.«
»Er, der Feind und Mörder Evas!« rief Tancred mit einem Seufzer der Erleichterung aus. »Hier muß irgend ein Irrtum vorliegen. Lassen Sie uns sofort ins Schloß gehen.«
»Er hat sich selber zu dem Henkersamte angeboten,« sagte Astarte. »Er hat seine Rache damit befriedigen und auch meiner verletzten Ehre Genugtuung verschaffen wollen.«
»Dadurch, daß er seine beste Freundin umbrachte, sie, die das einzige Wesen war, der er wirklich ergeben war, sie, die ihm mehr als Freundin, nämlich die Pflegeschwester war, die einst dieselbe Brust gesäugt hatte – sie, die Verbündete und Beraterin seines Lebens, die er selbst hätte heiraten können, wenn die Sitte ihrer Rasse und ihrer Religion nicht die Verheiratung mit Fremden und Nazarenern verböte.«
»Seine Pflegeschwester!« murmelte Astarte.
In diesem Augenblicke erschien Cypros in der Entfernung und lief mit bestürztem Gesichte auf Astarte zu. Sie schien aufs äußerste erregt.
»Gnädigste Königin,« sagte sie schließlich, als sie zu Atem gekommen war, »ich begab mich, wie mir befohlen, zur bezeichneten Stunde zum Emir Fakredin, aber ich vernahm, daß er das Schloß verlassen hatte. Dann eilte ich zu der Gefangenen, aber, weh mir! sie war nicht mehr zu finden!«
»Nicht mehr zu finden!«
»Das Gewand, das sie trug, lag auf dem Boden des Gefängnisses. Ich glaube, sie ist entflohen.«
»Sie ist mit ihm entflohen, der uns alle betrogen hat,« sagte Astarte, »denn es war der Emir des Libanons, der mir erzählt hat, Sie seien mit der Tochter Bessos verlobt und der mich davor warnte, einer Frau zum Throne Syriens zu verhelfen, welche nach den Gesetzen Ihres eigenen Landes nicht einmal Ihre rechtmäßige Gattin sein könnte.«
»O der Ränkeschmied!« sagte Tancred, »der alte, nichtswürdige Ränkeschmied!«
»Und doch ist es gut so,« sagte Astarte. »Ich fühle mich erleichtert.«
»Ich wünschte, Eva wäre in der Begleitung eines anderen«, sagte Tancred nachdenklich vor sich hin.
»Ihre Gedanken weilen bei der Tochter Bessos,« sagte Astarte. »Sie möchten ihr nacheilen, sie in Ihren Schutz nehmen und sie wieder ihrer Familie zuführen.«
Tancred sah auf und seine Augen begegneten sich mit jenen der Königin der Ansari, die ihn traurig, aber voller Liebe ansah.
»Ich glaube, ich muß fort von hier, denn mein Besuch, gnädigste Königin, hat Ihnen wahrlich schon genügend Unannehmlichkeiten bereitet.«
Astarte brach in Tränen aus.
»Lassen Sie mich statt Ihrer gehen,« sagte sie, »Sie bedürfen eines Thrones, der meine ist zwar ein kleiner, dennoch bitte ich Sie: nehmen Sie ihn an. Sie brauchen Soldaten; die Ansari sind unüberwindlich. Mein Schloß kann zwar nicht mit jenen Palästen Antiochias, von denen wir so oft gesprochen haben und die Ihrer würdiger wären, einen Vergleich aushalten, aber Gindarics ist uneinnehmbar und würde ein guter Stützpunkt für Sie sein, wenigstens bis zu dem Augenblicke, da die Welt, deren geborener Herr Sie sind, zu Ihren Füßen liegt.«
»Ich habe unbewußterweise in kleinlichen Klatschereien mitwirken müssen,« sagte Tancred, »ich muß in die Wüste, um mir meine Reinheit wiederzugewinnen. Nur Arabien kann der Welt wieder neues Leben einflößen.«
In diesem Augenblicke winkte Cypros, die von den beiden entfernt stand, mit ihrer Schärpe und rief: »Gnädigste Königin, ich sehe in der Ferne unseren immer getreuen Boten;« Astarte blickte auf und entdeckte am Himmel einen schwarzen Fleck, der dem ungeübten Auge Tancreds noch gänzlich verborgen geblieben war. Der Fleck wurde jede Sekunde größer, bis schließlich alle einen Vogel erkennen konnten, der auf die Königin zuflatterte.
»Es ist unser getreuer Karagus,« sagte Astarte, »oder ist es die Rotlippe, die uns immer frohe Botschaft bringt?«
»Es ist der Karagus,« sagte Cypros, als der Vogel sich näherte, »aber es ist nicht der Karagus von Damaskus. Ich erkenne sie am Halsringe, es ist der Karagus von Aleppo.«
Die Taube schwebte jetzt nur einige Meter über dem Kopfe der Königin. Ermüdet, aber mit entschlossenem Auge, flatterte sie ein paarmal in der Luft herum und setzte sich dann auf ihren Busen nieder. Cypros ging auf sie zu, hob ihren müden Flügel und löste die Spule, die eine kurze, wichtige, überraschende Botschaft enthielt:
»Der Pascha beabsichtigt, morgen an der Spitze von fünftausend regulären Truppen Aleppo zu verlassen und in unser Land einzufallen.«
»Gehen Sie,« sagte Astarte zu Tancred, »es wäre jetzt gefährlich für Sie, zu bleiben. Wir müssen dem getreuen Boten dankbar sein, der Ihnen Zeit gibt, aus unserem Lande zu flüchten, aus diesem Lande, dessen Thron Sie verschmäht haben, und wo man Sie nur zu sehr geliebt hat.«
»In der Stunde der Gefahr kann ich es nicht verlassen,« sagte Tancred. »Dieser Einfall der Ottomanen kann zu ganz unerwarteten Ereignissen führen. Ich werde Ihren Feinden an der Spitze Ihrer Truppen entgegentreten!«