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»Gibt es etwas Neues?« fragte Adam Besso Issachar, den Sohn Selims, der der geschickteste Arzt Aleppos war und Tag für Tag an jenem Bette saß, auf dem die Hoffnung und der Stolz der syrischen Hebräer ruhte.
»Es gibt etwas Neues, aber die Botschaft ist noch nicht zu uns gedrungen«, erwiderte Issachar, der Sohn Selims, ein Mann mit weißem Bart, dessen klares Auge und freundliches Gesicht aber eine feste Gesundheit verrieten.
»Es gibt auch Perlen in der See, aber was sind sie wert?« murmelte Besso.
»Ich habe eine Kabbala zu Rate gezogen,« sagte Issachar, der Sohn Selims, »und ich habe dreimal das heilige Buch geöffnet. Ich fand drei Worte darin, und der Anfangsbuchstabe jedes Wortes ist der Name einer Person, die hier in dies Zimmer kommen wird, und jede dieser Personen wird eine Nachricht bringen.«
»Aber welche Art Nachricht?« seufzte Besso. »Die Nachricht Tophets oder die von zehntausend Dämonen?«
»Ich habe eine Kabbala befragt,« sagte Issachar, der Sohn Selims, »und die Nachricht wird gut sein.«
»Für wen gut? Gut für den Pascha vielleicht, aber nicht für mich! Gut für das Volk von Aleppo, aber nicht für die Familie Bessos.«
»Gott wird die Seinigen beschützen. Aber ich muß jetzt diesen Verband wechseln, edler Besso. Laß mich diesen Arm auf dies Kissen legen, und du wirst weniger Schmerzen empfinden.«
»Ich habe leider Wunden, liebster Issachar, die tiefer sind als jene, die deine Sonde ergründen kann.«
Die Geduld, die den Orientalen eigentümlich ist, hatte Besso in seinem großen Kummer aufrechterhalten. Er klagte nicht und stöhnte nicht. In Gedanken versunken lag er da und wartete ruhig, welchen Erfolg die zu Evas Befreiung ergriffenen Maßregeln haben würden. Die Aussicht auf ein Gelingen dieser Maßnahmen hielt ihn aufrecht, aber im Falle ihres Fehlschlagens wäre auch ihm das Leben wertlos geworden. Die einflußreichen Beziehungen der Familie Bessos hatten den Pascha, dem übrigens die Ansari schon lange ein Dorn im Auge gewesen waren, bewogen, sofort einen Schritt zu tun, der allerdings schon lange beschlossene Sache war, der aber nach türkischer Gewohnheit bis in die Unendlichkeit hätte aufgeschoben werden können. Drei europäisch ausgebildete Linienregimenter, etwas Artillerie und eine starke Kavallerieabteilung hatten sofort den Befehl erhalten, in das angrenzende Gebiet der Ansari einzufallen. Hillel Besso hatte seinen Onkel in seinem väterlichen Hause zurückgelassen und sich den Truppen angeschlossen. Er konnte dieses leichten Herzens tun, denn die Wunden Adam Bessos waren zwar ernster Natur, aber anscheinend nicht lebensgefährlich.
Vier Tage schon waren verflossen, seitdem die türkischen Truppen Aleppo verlassen hatten. Hillel sollte, bevor man zu offenen Feindlichkeiten überging, den Versuch machen, auf gütlichem Wege die Freilassung der Gefangenen zu bewirken – zu diesem Zwecke hatte man ihm reichliche Geldmittel mitgegeben. Hillel hatte auch schon an Adam Besso einen Boten geschickt, der einen Brief überbracht hatte, demzufolge die Königin der Ansari Eva schon freigegeben hätte, aber Hillel hatte darin seiner persönlichen Meinung Ausdruck gegeben, daß er die ganze Sache für Schwindel hielte. Diese Unterredung hatte, seinem Berichte zufolge, an der Grenze stattgefunden, und die Truppen des Paschas sollten am nächsten Tage ihren Weg durch die Pässe erzwingen.
Ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang desselben Tages, an dem Issachar, der Sohn Selims, die Kabbala befragt hatte, sahen die Einwohner von Aleppo von den Wällen ihrer Stadt herab einige Reiter ziellos über die Ebene galoppieren. Man erkannte bald, daß sie zur Kavallerie des Paschas gehörten, und man nahm an, daß sie die eiligen Überbringer der ersten Siegesbotschaft seien. Unter ihnen befand sich, mit Schweiß und Staub bedeckt, auch Hillel Besso. Er raste auf seinem Gaule durch die Vorstadt hindurch, warf den ihn Fragenden nur einige unverständliche Worte hin und machte erst im Hofe seines eigenen Hauses halt.
»Na, Gott sei Dank!« rief er aus, als er das Tor seines Hauses verschloß. »Eine Schlacht ist etwas sehr schönes, aber ich meinerseits bin auch zufrieden, wenn sie wieder vorbei ist.«
»Was bedeutet dies?« fragte Adam Besso, der ein Geräusch vernommen hatte.
»Es ist der Buchstabe der ersten Kabbalah«, erwiderte Issachar, der Sohn Selims.
»Ich bin es, Onkel,« sagte Hillel und trat näher.
»Sprich,« sagte Adam Besso mit aufgeregter Stimme, »mein Auge ist getrübt.«
»Ich komme leider allein!« sagte Hillel.
»So begrabet mich im Tale Josaphat«, murmelte Besso und sank in die Kissen zurück.
»Aber ich bringe trotzdem Hoffnung, lieber Onkel.«
»So sprich denn von der Hoffnung«, erwiderte Besso, indem er sich plötzlich wieder aus seinen Kissen erhob.
»So wahr Gott lebt – ich habe ein Kind der Berge gesprochen, das mir auf das genaueste versichert hat, daß Eva entflohen ist.«
»Vielleicht auf eines Feindes Rat. Sind die Berge unser? Wo sind die Truppen?«
»Wären die Berge unser, so wäre ich nicht hier, lieber Onkel. Wer jetzt von den Stadtwällen in die Ebene herabblickt, wird sie voller Truppen finden, und wenn diese Truppen nicht mehr vollzählig sind, so kommt es daher, daß den Flinten und Lanzen der Ansari so mancher der Unsrigen erlegen ist.«
»Ah – sie sind die Söhne des Feuers.«
»Als die Königin der Ansari sich weigerte, die Gefangenen auszuliefern und erklärt hatte, daß Eva nicht mehr bei ihr sei, beschloß der Pascha, am nächsten Morgen in zwei Abteilungen in die Pässe einzudringen. Der Feind befand sich gerade vor uns, zog sich aber nach schwachem Widerstande zurück. Unsere Artillerie schien zu diesem Erfolge das meiste beigetragen zu haben. Aber«, fügte Hillel mit Achselzucken hinzu, »der Krieg ist nicht wie ein Handelsunternehmen, denn, als wir gesiegt zu haben vermeinten, hatten wir tatsächlich schon eine vollkommene Niederlage erlitten. Der Feind hatte uns durch seine vermeintliche Flucht nur in die Pässe hereingelockt, und als wir einmal darin waren, wurde von allen Seiten auf uns gefeuert und mächtige Steinblöcke rollten von den Höhen auf unsere Truppen hernieder. Unsere große Anzahl, unsere Kanonen, unsere gute Ausrüstung gereichten uns unter diesen Umständen nur zum Unheil – denn es entstand sofort eine große Verwirrung, unsere Truppen zauderten und zogen sich schließlich zurück. Und gerade im Momente der größten Unordnung, als wir im Begriffe waren, aus den Pässen heraus wieder die Ebene zu gewinnen, wurde unser Nachtrab von Reitersleuten, Kurden und anderen Giaurs angegriffen, die mit einem mächtigen Wutgeheul auf uns losritten und uns mit ihren Lanzen schwere Verluste beibrachten. Ich meinerseits dachte, daß alles vorüber sei, aber ein gutes Pferd ist auch etwas wert, und so bin ich denn, lieber Onkel, nach einem ununterbrochenen Ritte von zwanzig Stunden hierselbst wieder gesund und munter angelangt.«
»Wann hast du diesen Sohn der Berge, der dir von unserer Verlorenen Nachricht gab, gesprochen?« fragte Besso mit leiser, gebrochener Stimme.
»Am Abend vor der Schlacht,« sagte Hillel. »Er war mit einem Briefe zu mir geschickt worden, war aber, leider! auf seinem Wege zu mir von unseren Truppen aufgefangen und ausgeplündert worden und hatte dabei auch seinen Brief verloren. Er bat seine Angreifer jedoch, ihn wenigstens zu meinem Zelte zu führen und überbrachte mir mündlich die Botschaft, daß unsere liebe Verwandte wirklich die Berge verlassen, und daß der Anführer der Ansari mir dieses in dem verlorenen Briefe mitgeteilt hätte.«
»So gibt es noch Hoffnung! Was war das?«
»Es ist der Buchstabe der zweiten Kabbalah«, sagte Issachar, der Sohn Selims.
In diesem Augenblicke trat ein treuer Sklave ins Zimmer, der dem Arzte zuwinkte, worauf dieser sich erhob und mit dem Boten eine längere, leise Unterhaltung hatte. Hillel blieb inzwischen an Bessos Bett sitzen. Nach einigen Minuten kam Issachar wieder zu seinem Patienten zurück und sagte: »Hier ist jemand, o Herr und Freund, der gute Nachrichten von deiner Tochter bringt.«
»Gott meiner Väter!« rief Besso leidenschaftlich aus, indem er sich dabei plötzlich aufrichtete.
»Ruhe, nur Ruhe!« bat Issachar.
»Laß mich mit ihm sprechen«, sagte Besso.
»Es ist jemand, den du kennst und gut kennst,« sagte Issachar, »es ist der Emir Fakredin.«
»Der Sohn meines Herzens,« sagte Besso, »der mir eine Nachricht überbringt, die meinem Munde süß wie Honig schmeckt.«
»Hier bin ich, Vater meiner Väter«, sagte Fakredin, indem er leise auf das Sofa zutrat.
Besso ergriff seine Hand und sah ihm ernst in das Gesicht. »Sprich von Eva«, sagte er schließlich mit erstickter Stimme.
»Sie ist gesund, sie ist in Sicherheit. Jawohl, ich habe sie gerettet,« sagte Fakredin und begrub dabei sein Gesicht in Bessos Kopfkissen. »Dank dem Himmel, ich habe nicht umsonst gelebt«, fügte er mit erschöpfter Stimme hinzu.
»Möge deine Fahne über tausend Schlössern wehen,« sagte Besso. »Mein Kind ist gerettet, gerettet vom Bruder ihres Herzens. Der Gott unserer Väter hat uns wohl beschützt. Du hast in Zukunft nur noch zu wünschen, lieber Fakredin, und es soll geschehen.« Mit diesen Worten sank Besso beinahe bewußtlos wieder in das Kissen zurück, machte einen vergeblichen Versuch, sich wieder aufzurichten und murmelte: »Eva!«
»Sie wird sehr bald hier sein,« sagte Fakredin, »sie ruht sich nach den überstandenen Strapazen nur noch ein wenig aus.«
»Will der edle Emir nach seiner langen Reise nicht etwas zu sich nehmen?« fragte Hillel.
»Mein Herz jubelt derartig in meiner Brust, daß mein Körper keinerlei Verlangen verspürt«, sagte der Emir.
»Das mag sehr wahr sein,« sagte Hillel. »Ich meinerseits bin aber immer der Meinung gewesen, daß man für den Körper ebenso sorgen müsse, wie für den Geist.«
»Tretet vom Sofa zurück,« sagte Issachar, der Sohn Selims, zu den anderen. »Mein Herr und Freund ist in Ohnmacht gefallen.«
Allmählich kehrte die Flut des Lebens wieder zu Besso zurück, sein Herz begann kräftiger zu schlagen, und seine Hand wurde wieder warm. Schließlich öffnete er seine Augen wieder und sagte: »Ich habe von meinem Kinde geträumt, ich sehe es noch immer vor mir.«
Ja, sein Traum war ein so lebhafter gewesen, daß Besso selbst jetzt, da er sein Bewußtsein wieder erlangt und sich auf seine Umgebung und seinen Zustand wieder ganz genau besinnen konnte, jetzt, da er ganz genau wieder wußte, daß er sich verwundet in seines Bruders Haus in Aleppo befände und soeben mit Fakredin gesprochen hatte, nicht davon loskommen konnte. Noch immer schwebte vor seinem aufgeregten und entzückten Auge die Vision seiner lieblichen Tochter, die vielleicht ein wenig blasser aussah als gewöhnlich, auf deren Antlitz die Besorgnis anscheinend die sonstige Sanftmut verscheucht hatte, aus dem aber noch dieselben, ihrem Vater so wohlbekannten prächtigen Augen hervorleuchteten. »Selbst jetzt sehe ich sie noch vor mir«, sagte Besso.
Mehr konnte er nicht sagen, denn die schönste Gestalt der Welt hatte ihre Arme um ihn geschlungen.
»Es ist der Buchstabe der dritten Kabbalah«, sagte Issachar, der Sohn Selims.