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Vielleicht war es so, daß Gott seinem Musikanten Antonius die hiobschen Prüfungen auferlegen, viel Weltleid auf sein einfältiges Haupt häufen mußte, damit er, zwischen den Mächten der Verzagtheit und des Mutes, zwischen Martyrium und Glauben die Formen des gottverkündenden Kunstwerkes weiter baute.
Aber das Senfkorn seines Ruhms ging allmählich auf, und wie es zu geschehen pflegt, bereitete die Welt dem Künstler manche Ehrung, die vielleicht mehr seinem Alter und seiner Würde, vor allem der reinen Persönlichkeit galt, als dem – kaum ganz erkannten – Kunstwerk.
Noch im Januar 1874 hatte der oberösterreichische Landtag Bruckners Bitte um eine lebenslängliche Dotation aus Landesmitteln abgelehnt – sechzehn Jahre später (31. Oktober 1890) bewilligte die Vertretung Oberösterreichs auf Antrag des Bischofs Doppelbauer »dem vaterländischen Tonkünstler zum Zeichen seines dem Lande zur hohen Ehre gereichenden Wirkens« diese Ehrengabe im Betrage von 400 Gulden auf Lebenszeit. Dazwischen liegt der Umschwung im äußeren Leben. Noch 1877 bemüht sich Bruckner, die Kapellmeisterstelle in der Pfarrkirche »Am Hof« (Zu den neun Chören der Engel) zu erlangen, 1878 wird er wirkliches k. k. Hofkapellenmitglied und bleibt es bis 1892, wo er, auf sein Ansuchen enthoben, zwar das Grundgehalt fortbezieht, aber der Dienstlast ledig wird. Hatte er früher nach Stellen gefahndet, so ist es seinem letzten Alter vorbehalten, freier Künstler zu werden: 1892 scheidet er auch aus dem Dienst des Konservatoriums.
Seit der Wiener Aufführung der Siebenten Sinfonie nahen sich ihm die Mächtigen der Erde. Auf Antrag des Hofkapellmeisters Hellmesberger und des Fürsten Hohenlohe-Schillingsfürst verleiht der Kaiser von Österreich ihm den Franz Josefs-Orden (8. Juli 1886), und der gute Altösterreicher geht freudigbewegt zur Dank-Audienz, an welche die Legende noch Bruckners vertrauensselige Gelegenheitsbitte um Schutz vor dem – Hofrat Hanslick knüpft. Der Kaiser hatte einen Orden zu verleihen, der Künstler als Gegendank eine Sinfonie, die den Namen Franz Josef ehrenvoll in die Kunstgeschichte einträgt. Bruckner war überhaupt ein Komponist, der gern widmete. So trägt die Dritte Sinfonie, wie erwähnt, den Namen Richard Wagners, die Vierte den des Fürsten Hohenlohe-Schillingsfürst, die Siebente den des Königs Ludwig von Bayern, die Neunte aber – ungeschrieben – den des lieben Gotts, den innerlich alle Sinfonien tragen. Und da es dazwischen noch einige Mächtige gab, denen man irgendwie dankverschuldet war, so hatte er die Sechste Sinfonie seinem – Hausherrn, dem Herrn von Oetzelt, zugedacht …
Um jene Zeit kam Bruckner auch einmal nach Linz zurück. Dort führte am 15. April 1886 Kapellmeister Floderer mit dem Frohsinn das große Te Deum auf. Zwanzig Jahre war es her, daß Bruckner, dem Ungewissen einer Zukunft entgegen, zögernd die Heimat verließ. Nicht als Untergegangener, als verlorener Sohn, sondern nach vielem Ungemach und starkem Erleben ein Aufrechter, kam er wieder. Die schöne Aufführung machte Eindruck, danach gab es im Kreis des Frohsinn einen Festkommers, und, auf eine Ansprache erwidernd, sprach auch Bruckner. Er schilderte die schweren Jahre der Mißgunst in Wien »wo selbst Einheimische gewöhnlich zurückstehen müssen«, erwähnte »unsres hochseligen, unvergeßlichen Meisters«, der seine Werke aufführen wollte und nun, durch den Tod abberufen, ihm gleichsam Vormünder bestellt habe, die Kapellmeister Nikisch, Levi und Richter. Und schließlich sei es auch die Heimat, die sich seiner angenommen. – Vielleicht war ihm das das wichtigste.
Wenn er zurücksah, wie er es begonnen hatte, in jenem oberösterreichischen Abseits, als Schulgehülf' hinter Welt und Zeit, und dann in Linz, zwar Organist, aber immer ein Stück Lehrer in sich, als könne ein rechter Mensch nichts anderes sein als Lehrer und Musikant, so mußte er sich sagen, daß er's weit gebracht: Lektor auf der ersten Hochschule des Reichs. Er war immer ein Lernender gewesen, immer zeugnis-süchtig, verlangend nach Bestätigung, Siegel und Urkunde. Aber es war doch, als ob noch etwas fehle, wenn er, der in jeder Hinsicht »Vielgeprüfte«, der Kontrapunkt-Gelehrte, nicht auch den Doktor erhielt. Johannes Brahms erhielt den Doktorhut von Breslau schon 1881 – ja die Deutschen, da war Zusammenhalten! – Nicht daß Bruckners Seelenreinheit Neid und Hoffart kannte; aber er hätte nicht Künstler sein müssen, nicht Künstler in der gleichen Stadt und mit der gleichen Kunstart vor demselben Publikum wirkend, um nicht für seine Sache gleiches zu hoffen.
Und nun kam das auch. Am 7. November 1891 verlieh der Akademische Senat in Wien auf Antrag der philosophischen Fakultät dem Candidatus philosophiae Anton Bruckner, der eben 67 Jahre alt geworden, den Doctor honoris causa unter Ansprachen des Rektors Adolf Exner und des Promotors Prof. Stefan. Am 12. Dezember darauf wurde das Ereignis vom Akademischen Gesangverein im Sofiensaal gefeiert, und es nahm daran eine stattliche Versammlung von Studenten und Nichtstudenten, die ganze Brucknersche Gemeinde teil.
Der Gekrönte sprach damals zu seinen lieben »Gaudeamusern« – eine echt Brucknersche Wortbildung – herzliche Dinge über Kunst und Wissenschaft. Auch Adolf Exner, der Rektor, war gekommen und schloß seine Rede mit dem seither berühmt gewordenen Satz: »Wo die Wissenschaft Halt machen muß, wo ihr unübersteigliche Schranken gesetzt sind, dort beginnt das Reich der Kunst, welche das auszudrücken vermag, was allem Wissen verschlossen bleibt. Ich, der Rector magnificus der Wiener Universität, beuge mich vor dem ehemaligen Unterlehrer von Windhaag …!«
Da saß nun der alte Meister in Erschütterungen, umbraust von der Stimme der Jugend: Gaudeamus …! Er hatte Ursache, sich zu freuen. Durch Finsternisse und Trübsal führte der Weg zuletzt doch ins Hohe und Helle und über Wünsche hinaus. Exner, nicht nur römischer Jurist, sondern in artibus erlebnisfähig, erhöhte sich in jener Stunde selbst, indem er sich beugte, im Bewußtsein, daß Menschenwissen nur Mitteltatsachen feststellt und zuletzt doch mit dem Ignorabimus vor den Urtatsachen zurückweicht, die der Ungelehrt-Gläubige weiß, das Unfaßliche in Gleichnissen verkündend.
In diese Jahre fällt noch ein Ereignis: Bruckners Reise nach Berlin. Nach dem ersten wenig andauernden Erfolg, den die Siebente Sinfonie 1886 unter Karl Klindworth hätte, wagte es erst 1891 Siegfried Ochs, mit dem jungen Philharmonischen Chor ein Brucknersches Werk aufzuführen, und zwar das Te Deum. Die Aufführung muß außerordentlich gewesen sein, denn Bruckners Dankbrief aus Wien (21. Juni 1891) ist überschwenglicher als sein gewöhnlicher Überschwang: »Wunderbarer Director … Noch heute höre ich das fff Tu Rex gloriae … Nie werde ich mein Werk so hören … Das war eine paradiesische Zeit …! Daß in Berlin kein abfälliges Blatt war, verdanke ich Ihnen. Ewiger Dank voll Bewunderung sei Herrn Director nochmals gebracht! Hoch! Hoch! Hoch!« Im naiven Hochgefühl seiner Rührung hatte Bruckner die Damen des Chors umarmt, aber doch noch mit so viel Unterscheidungsvermögen, daß er die schöneren vorzog … Er lernte die bedeutendsten von Berlins Musikern kennen und fand eine im allgemeinen vernünftige, keinesfalls witzig-gehässige Presse. (Siehe Hans Teßmer: Bruckner in seinen Beziehungen zu Berlin, Neue Musik-Zeitung, Stuttgart, 21. Juni 1917.)
Drei Jahre später, im Januar 1894, kam Bruckner ein zweites Mal in das ihm lieb gewordene Berlin, um die Siebente Sinfonie und abermals das Te Deum zu hören. Er erschien zugleich mit Hugo Wolf, dessen Feuerreiter und Elfenlied von Siegfried Ochs aufgeführt wurde, Dr. Muck und Richard Sternfeld warteten auf dem Anhalter Bahnhof und sahen zu ihrer Heiterkeit als letzten den Meister, der Kälte wegen ganz in Wolle gewickelt, dem Zug entsteigen. Bruckner erlebte einen Triumph und telegraphierte an Helm in Wien: »Die Aufnahme der 7. Sinfonie war glänzend wie noch nie. Mußte mich von der Loge aus und am Schluß vom Podium oft und oft bedanken. Aufführung herrlich unter Dr. Mucks genialer Leitung. Tedeum gestern unter ausgezeichneter Leitung Directors Siegfried Ochs spottet jeder Beschreibung. Wurde mit Trompeten und Pauken am Podium empfangen, Jubel großartig. Lorbeerkranz. Bruckner.«
Außer diesen Aufführungsreisen gab es in Bruckners Leben nur noch die Heimatreisen: die Sommerfahrten, die nicht bloß ein »Ausspannen« bedeuten, sondern ihn aus der gepflasterten Wiener Diaspora in die Seelenheimat bringen. Da war Stadt Steyr, an der sein Herz hing, wo er Freunde hatte wie die Stadtpfarrer Arminger und Aichinger, sowie den begeisterten Almroth, der eigens aus Mailand zu einer Brucknerschen Aufführung nach Wien fuhr, und endlich seinen Liebling, den Regenschori Franz Bayer, der u. a. 1893 die große Messe in D mit Bruckner an der Orgel in der Stadtpfarrkirche aufführte. In der uralten Eisen- und Waffenstadt, deren Mittelpunkt für ihn der Pfarrhof war, wünschte Bruckner begraben zu sein, wenn es in Sankt Florian nicht möglich sein sollte. Hier erhielt er auch sein erstes Denkmal.
Da war aber noch Kremsmünster, das Prachtstift aus der Thassilo-Zeit, nur übertroffen von Sankt Florian, und dort lebten Freunde wie P. Oddo Loidol (einer seiner Schüler und Komponist), dann P. Georg Huemer, Prof. Romuald u. a. Er war 1874 dort und 1877 (zur Jubelfeier des elfhundertjährigen Bestehens), kam im Herbst 1883 wieder, 1884, 1888, 1889, zuletzt 1892, wurde in der Klosterequipage vom Bahnhof geholt, saß ein Bruder unter den Brüdern im Refektorium, war Gast an der Extratafel im Kaisersaal, labte sich und die Zuhörer an der Orgel und schuf bei seinem letzten Besuch an der letzten Sinfonie.
Der Kaiser, der Geldbeiträge zum Druck der Dritten und Achten Sinfonie stiftete, gab Anton Bruckner, als er 1891 aus dem Konservatorium schied, eine eigene Wohnung im Seitentrakt des Belvederes, des Prinz Eugen-Palastes in der Heugasse mit dem figurengeschmückten Barockgarten. Dort lebte Bruckner – zuletzt durch einen Sekretär unterstützt – seiner Arbeit. Das Barock, das seine Jugend umgab, umgab sein Alter. Es war eine in den Abendglanz natürlich verlaufende Linie. In Bruckner atmete der landbeschreitende Bauersmann, der Erderhalter, der einen Herrenberuf ausübt, der anbetende und zuversichtliche Mensch des Non confundar. Aus diesen innern Kräften bestimmte sich ein anderes Ende als die Tragödie des knirschenden, taumelnden Wolf und des sich verbrennenden Gustav Mahler.
Der siebzigste Geburtstag kam. Schon am Cäcilientag 1870 hatte seine Heimatgemeinde Ansfelden in einer von zwölf ehrlichen Bauernunterschriften bedeckten Urkunde ihn zum Ehrenbürger ernannt, damit »ein Widerschein Ihres Glanzes auch auf jenen Ort fällt, wo Ihr Vater wirkte und Ihre Wiege gestanden«. Und nun, 1894, wiederholte die Landeshauptstadt Linz die Ernennung zum Ehrenbürger mit dem gleichen naheliegenden Gedanken, und es folgt die übliche Ernennung in Körperschaften (Schubertbund), nachdem ihn die Gesellschaft der Musikfreunde schon bei seinem Austritt aus dem Konservatorium ernannt hatte. Gedenktafeln wurden aufgerichtet, Brunners erste Biographie erschien, kurz, die Welt bot, was sie zu bieten hatte.
»Post molestam senectutem –« schrieb Bruckner 1892 aus Steyr an Loidol, seine vielfachen Gebresten zusammenfassend: er rüstete sich der empfangenden Erde zu. Immer urgesund, war er in den letzten Jahren erkrankt, seine strotzenden Züge blichen, sein Antlitz erlosch, die Wassersucht, die Beethovensche Krankheit, ergriff seinen Körper. Er verfiel. Der er gern mit Freunden und Schülern beim Schoppen saß – Gause in der Johannesgasse war sein Lieblingsaufenthalt – mußte nun auf den Rat der Ärzte, manche Gewohnheit aufgebend, das Leben ohne überkommenen Musikantendurst fristen.
Die unfertige Arbeit drückte ihn, die Sorge um die Neunte Sinfonie, deren Adagio den »Abschied vom Leben« enthält. Er fühlte, daß er auf der Märtyrerbank des Todes nicht mehr die Kraft zum Finale besitze. Er sprach den Wunsch aus, daß das große Tedeum als ein Finale bei den Aufführungen dienen solle. Er dachte an eine Überleitungsmusik, aber sie blieb unvollendet.
Hugo Wolf hat erzählt, daß Bruckner unter religiösen Wahnvorstellungen gelitten habe. Schon früher plagten ihn indes seine Nerven: zeitweilig sah er sich Gedanken-Komplexen ausgeliefert, die immer wiederkehrten. Einer davon war der Mexiko-Komplex, ein anderer der Nordpol-Komplex. Alles, was den Kaiser Max von Mexiko oder Nordpolfahrten betraf, begann in seinem Denken zu kreisen und sich auszubreiten. Eine andere Störung verursachte die Zählmanie, die schon in Linz auftrat. Er blieb stehen und zählte alle Fenster des königl. Schlosses in München, immer von neuem beginnend, wozu noch die Punktmanie kam: das Bewundern von Punkten bei Unterschriften und auf Türtafeln. (So auch bei Kaulbach, als er ihn 1885 in München aufsuchte.)
Bald neigten sich Bruckners Tage. Am 11. Oktober 1896 verschied er im Belvedere am versagenden Herzen. Seine treue Wirtschafterin Kathi, sein Schüler, Freund und Sekretär Anton Meißner pflegten ihn im Sterben. Vormittag arbeitete er noch am Finale der Neunten Sinfonie … Die Bildhauer Sinsler und Herberger nahmen die Totenmaske ab. Sie zeigte ein Überwinderlächeln um den eingesunkenen Mund.
Ferdinand Löwe und Josef Schalk stellten in seinem Nachlaß 75 Partiturbogen fest, die die Skizzen zu jenem letzten Finale enthielten. Der Nachlaßverwalter Dr. Theodor Reisch eröffnete das Testament. Danach kamen alle Handschriften an die Hofbibliothek. Sein Vermögen sowie die Erträgnisse aus seinen Werken fielen seinem Bruder Ignaz und seiner Schwester Rosalie zu: das Vermögen betrug etwa 10 000 Gulden, und von den Erträgnissen, bisher kaum nennenswert, wünschte Bruckner, daß sie von nun an reichlicher ausfielen. Endlich noch ein Kodizill: auf Grund der vom hochw. Herrn Prälaten von Sankt Florian zugesicherten Bewilligung sollte Bruckners Leib in der Gruft der Stiftskirche Sankt Florian beigesetzt werden und zwar in jener Weise, wie der Propst Jodok Stülz beigesetzt war, also in einem freistehenden Sarg, nicht in einem mit Erde bedeckten Grab. »Am offnen Friedhof von Sanct Florian will ich nicht begraben sein … für den Fall, als ich nicht in der Gruft von Sanct Florian beigesetzt werden könnte, so will ich nach meinem Tod am Friedhof zu Steyr ruhen.«
Die Einsegnung fand in der Karlskirche statt. Unter den Trauernden stand auch Johannes Brahms. Der Wiener Männergesangverein sang das Libera von Herbeck. Ein unsichtbarer Bläserchor spielte das Adagio aus der Siebenten Sinfonie. Dann kehrte Bruckner, der einst die uralte Völkerstraße längs der Donau herabgewandelt war, in sein Mutterland und seine Jugend zurück, um zu rasten vom Leben eines Märtyrers und Künstlers. Sein Bedürfnis nach Harmonie, sein Drang nach finaler Herrlichkeit, dem die Schlüsse seiner Sinfonien entspringen, setzte auch das strahlende Anfangsthema Sankt Florian an den Schluß des Lebens … Unter der Kirche des regulierten, lateranischen Chorherren-Stifts fand die Beisetzung des Kindes von Sankt Florian statt. Er ruht in den Katakomben, unter der Orgel, in einem freistehenden Sarg. Bei mattem Kerzenschein sieht man die Namen der Herren, der Ritter und Prälaten, die in den Mauern selbst schlafen. Goldschimmernd, wie in der Luft schwebend, taucht der Sarg Anton Bruckners auf, dahinter ein dunkler, gewölbter Raum, worin, zu Bündeln geschichtet, ungezählte Menschenknochen und Totenschädel liegen – Avaren oder Hunnen oder andere – die namenlose Masse, aus der durch ein Gottesgeheimnis einer leuchtend wurde.
Fortan fehlte in Wien der Bauernkönig im Schlapphut, der Kardinal oder Cäsar im schwarzen Organistengewand, die Figur, die das Bild der Stadt bereicherte … Am Tag der Einsegnung las man in der Neuen Freien Presse ein Feuilleton, worin ein Musiker dem Musiker einen Nachruf hielt: Er war ein »wunderliches Original«, »kein großer Künstler … die eigentliche Freude am Bilden ging ihm ab … Seine Melodie ist ein Wassertrieb aus Beethovenschen Wurzeln … seine Symphonie verhält sich zu einer Beethovenschen wie ein Conglomerat zu einem Lebewesen … Sein Talent für das Graziöse hat er nicht verwertet … Seine kleinen Sachen sind die schwächsten … Er war Kirchenmusiker und fand Töne für prunkende, äußerliche, öffentliche Betätigung des Glaubens, nicht für den Glauben im stillen Kämmerlein … Er wurde zum Justament-Symphoniker der Wagnerianer ernannt … Ich wüßte mit bestem Willen nicht zu sagen, was eigentlich spezifisch Brucknerisch wäre …
Selbst am offenen Grab schwieg nicht das alte schrille Wort.
Aber ein Größerer als dieser Nachredner hatte schon gewußt, welche Bewandtnis es mit Männern habe, die gleich Bruckner mit Zungen redeten. Er meinte, sie seien vom Geiste erfüllt, und verkündeten in der Sprache des Geistes dessen Geheimnisse. Er meinte: die Fülle der heiligsten, tiefsten Empfindung dränge für Augenblicke einen Solchen zum überirdischen Wesen … und aus der Tiefe der Gottheit flamme seine Zunge Leben und Licht. Er meinte, auf der Höhe der Empfindung erhalte sich zwar kein Sterblicher – wirft aber der ewige Geist einen Blick seiner Weisheit, einen Funken seiner Liebe einem Erwählten zu, der trete auf und lalle sein Gefühl … Gesegnet sei er, woher er auch komme, der die Heiden erleuchtet und die Völker erwärmt! Endlich aber meint jener Kenner: es waren nicht Allen die Ohren geöffnet, zu hören. Nur fühlbare Seelen nahmen an dieser Glückseligkeit Teil … Kalte Herzen stunden spottend dabei und sprachen: er ist voll süßen Weins …
Der dieses alles meint, war Goethe. Er beantwortete die Frage, was es heiße, »mit Zungen reden«, zu einer Zeit, wo ein armer Binder namens Bruckner in Oberösterreich umherging und nicht ahnte, daß ihm ein Enkel geboren werde, der wie die Apostel mit der Apostelzunge im Geiste redend, den Geist verkündigen werde.