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Nach Wien

Der Mann, von dem die Berufung ausgeht und der sie durchsetzt, war Johann Herbeck, Hofkapellmeister und Dirigent der Gesellschaft der Musikfreunde, Professor am Konservatorium, kurz, der große Dirigent, der musicus maximus des damaligen Wien. Wer sein Bild im Direktionszimmer der »Gesellschaft« gesehen hat, vergißt es nicht. Ein mächtiges Christushaupt, wogende Haarmassen in den Nacken geschüttelt, dunkelbrennende Prophetenaugen, die auf Frauen bestrickend, auf Chormassen demagogisch gewirkt haben. 1869, als er Liszts Heilige Elisabeth im Gesellschaftskonzert wagt, ist er Favorit und Gebieter. Immer schien dieser Mann ein Banner zu schwingen: ein echter musikalischer Achtundvierziger, Liedertafler und Herold zugleich.

Um sieben Jahre jünger als Bruckner (geb. 1831), Sohn eines armen Schneidermeisters aus deutsch-slawischem Blut, hat er manche Parallele mit Bruckners Entwicklung – auch er kam von unten, auch er war Sängerknabe und hat aus seinen Heiligenkreuzer Stiftszeiten den Sinn für Chorwohlklang mitgenommen; aber ein Sonntagskind und Eroberer, hat er das doppelte Tempo. Er geht nicht, er rennt dem Gipfel zu. Mit 22 Jahren wird er Regens Chori an der Piaristenkirche in der Josefstadt (wo die berühmte Prüfung Bruckners stattfand), mit 25 Jahren erster Dirigent des Wiener Männergesangvereins, mit 27 Professor für Männergesang am Konservatorium, mit 28 Dirigent der Gesellschaftskonzerte, mit 32 erster Dirigent der Hofkapelle und im Flug über einige hohle Köpfe weg mit 38 Jahren Hofopernkapellmeister. Das Jahr darauf wird er Hofoperndirektor.

Sein Ehrgeiz triumphiert. Der Gipfel ist gewonnen. Er leitet die erste Aufführung der Meistersinger in der neuen Hofoper (1870) – es kommt dabei fast zu Prügelszenen im Publikum – er bringt Goldmark, Götz, den Verdi der Aida auf die Bühne, er herrscht fünf Jahre. Da wird er von einem untergeordneten Beamten gestürzt. Er hat in Wahrheit nie geherrscht. Er war kein Theatermann. Sein Ziel ist sein Ende. Gipfelstürze sind die tiefsten. Gedemütigt geht er zu den Gesellschaftskonzerten wieder zurück. (Brahms hatte sie inzwischen übernommen.) Ohne Glauben an sich schleppt er den Rest des Lebens. Der Anblick des Theatergebäudes, ein Zufallswort mußte ihn verstören. »Eine wunde Heftigkeit«, sagt Hanslick, zeichnete sein Tun in den letzten Jahren aus. Erst 46 Jahre alt, stirbt er. Die Ärzte stellten eine Lungenentzündung fest … Wie ein Meteor verlosch er in dieser Wiener Zeit. Ein Künstlerschicksal, dessen glanzvoller Nachruhm heute auf einer Straßentafel leuchtet.

Herbeck, dessen tragischer Irrtum im Verkennen seiner Begabung lag, war Chor- und Orchestermusiker. Romantiker am Pult, gab er sich dem Verkündigen alles Jungen, morgendlich Tönenden hin. Er führte Schumann, Liszt, Berlioz mit ihren großen Werken ins widerstrebende Wien ein, (Manfred, Paradies und Peri, Harold-Sinfonie, Cellini-Ouvertüre, Faust, Ungarische Krönungsmesse). Immer kehrt in Hanslicks Kritiken, der zwar haßte, was jener aufführte, die Wendung wieder: »Herbecks Verdienst ist …« und was Hanslick (Okt. 1868) von seiner Leitung des jubilierenden Männergesangvereins rühmt, gilt von seinem ganzen musikalischen Betreiben: er hat die Konzerte über das Niveau des bloß Geselligen und Gefälligen gehoben, eine musikalische Stadterweiterung.

Die Liebe dieses großen österreichischen Temperaments aber hieß Schubert. Er führte 1859, ein Menschenalter nach Schuberts Tod, die C-dur-Sinfonie zum erstenmal auf und fuhr, ganz abgesehen von andern Schubert-Taten, nach Graz, um dem verschrobenen alten Hüttenbrenner in diplomatischer Zähigkeit – kein kleines Stück Arbeit – die Partitur der »Unvollendeten« zu entwinden. Schubert entdeckten die Wiener durch Herbeck.

Und von Schubert zu Bruckner war ein Schritt. Der Raschentzündete, in dessen Herzen die oberösterreichischen Berge, das Kärntner Volkslied, Liszt und Berlioz, einen Platz fanden, kannte Kühnheit, Wohllaut, Urgewalt und Gährung der d-moll-Messe von der Hofkapelle her, und, das Schubertische durchfühlend, sah er mit dem Prophetenauge in dem provinzialen Domorganisten, was noch niemand gesehen hatte: das Genie.

Es fügte sich, daß 1867 Simon Sechter starb und damit die Lehrstelle für Theorie und Orgel am Konservatorium frei wurde. Da entstand in Herbeck der Gedanke, der Nachfolger müsse jener Anton Bruckner werden. Er ließ durch eine Mittelsperson in Linz anfragen, ob Bruckner denn nicht ans Wiener Konservatorium strebe, – aber von Bruckner kam ein ablehnender Bescheid. Darauf nahm nun Herbeck die Sache selbst in die Hand, leitete in Wien alle Schritte ein, und da er gerade zur Erholung nach dem Salzkammergut ging, stieg er in Linz aus und suchte den Zögernden auf. Er fuhr mit ihm nach Sankt Florian und entledigte sich auf dem Wege des Auftrags der Gesellschaft der Musikfreunde. Schließlich wendete er sich, alle Überredungskunst aufbietend, an den guten Österreicher und versicherte, daß er entschlossen sei, nach Deutschland zu fahren und sich von dort einen geeigneten Mann zu holen, falls Bruckner sich weigere: »Ich meine aber, daß es Österreich zur größeren Ehre gereiche, wenn die Professur, die früher Sechter versehen, von einem Einheimischen bekleidet wird.«

Gewiß machte das Eindruck auf Bruckners altösterreichisches Gemüt, zerstreute aber nicht die lastenden Bedenken. In Sankt Florian gehen beide in die Kirche, und Bruckner setzt sich an seine Orgel. Sie, die so oft Zeugin seiner Seelenkämpfe war, mit der er aufgewachsen, die ihm in mancher dunklen Stunde ihren Beistand geliehen – die alte Kameradin und Beraterin sollte ihn auch diesmal aus Wirrnissen ins Klare befreien. Er spielte, und kein Musiker hat wohl die Entscheidung einer Lebensfrage so musikalisch herbeigeführt. Sie kehrten nach Linz zurück, und auf der Heimfahrt empfing Herbeck die Gewißheit, die Reise nicht umsonst getan und Bruckner für Wien gewonnen zu haben.

Man hätte vermuten können, daß Bruckner von vornherein freudig zugegriffen und Herbecks ehrenvollen Antrag wie eine Erlösung aufgenommen hätte. Er kannte die Linzer Enge und war an ihr leidend geworden. Praktisch genommen hatte er schon vor Jahren gefürchtet, im beschwerlichen Orgeldienst bei einem Gehalt von nur 500 Gulden – da er mit Privatstunden kein Glück hatte und um einen Gulden unterrichtete – im Alter verkümmern zu müssen. Und als Komponist fühlte er, was die Luft der Residenz für seine Sendung bedeutete – Umstände, die ihn damals zur großen Reifeprüfung bei Sechter bestimmten. Und nun kam jemand, reichte ihm die Hand, zog ihn mit sich fort, und er lehnte ab? Oft sind es die Augenblicke erfüllter Wünsche, die uns zaudernd und betroffen machen, als stiegen durch sie erst alle Bedenken ans Licht.

Linz bot ihm alles, was es ihm bieten konnte. Aber es war doch nur Linz. Dort bleiben hieß verzichtend werden, hieß sich weiter von Wien entfernen und den Anschluß versäumen. Aber Wien? Wien war ein unsicherer Boden, das Leben dort weit schwieriger; und sollte er eine geringe, aber gesicherte Sorglosigkeit gegen eine gesicherte Sorge vertauschen – auf die Hoffnung hin, dort einmal festen Fuß zu fassen? Wie, wenn diese Hoffnung trog? Sein Talent, doch nicht ausreichend, ihn im Stich ließ? Dann saß er zwischen zwei Stühlen. So kämpfte er, seinen Musiker-Skrupeln ausgeliefert, den Kampf des Provinzlers mit der Weltstadt, sich sehnend und vor dem eigenen Entschluß erschrocken.

Sehr brucknerisch ist denn die Lösung, die Bruckner endlich findet: er machte (am 24. Juni 1868) dem bischöflichen Ordinariat die Mitteilung, daß er die ihm angebotene Stellung am Wiener Konservatorium angenommen habe und zugleich ersuche, ihm seinen bisherigen Posten als Dom- und Stadtorganist gnädigst zu reservieren. Er wollte sicher gehen. Das Ordinariat hat ihm denn auch in gütigem Gewähren seine alte Stelle zwei Jahre (bis zum Juli 1870) vorbehalten. Darin liegt nicht bäuerliches Vorsichtigsein, Mangel an Selbstvertrauen allein – alles dies ist Rhythmus seiner schweren, abschnittweise – man möchte sagen: gletscherhaft weiterrückenden Art und ihrer Scheu vor unbekannten Verhältnissen.

Es zeichnet Herbeck aus, daß er diese Seele verstand, den Herkules auf dem Scheideweg nicht durch Wortschwälle und Flunkerei nach österreichischer Manier (»es wird schon werden …«) zu betäuben suchte, vielmehr darauf einging und alles daransetzte, die zukünftige Stellung Bruckners in Wien materiell möglichst zu verbessern. Aber er will auch keine Verantwortung übernehmen, er fordert einen reiflich erwogenen Entschluß »auf eigne Gefahr«, da Bruckner in Wien auf das Unterrichten angewiesen sei, und nicht wie in Linz auf das Orgelspiel und Dirigieren. Vielleicht glaubte er an Anton Bruckner mehr als Bruckner selbst, denn Bruckner ergießt seine Ungewißheit in »jammervollen Ausbrüchen«, beklagt, daß er »überall danebenkomme«, und beschuldigt sein Vaterland, das ihn verstoße, wobei er im Grund sich selbst meinte. Herbeck aber veranlaßt, daß Bruckners Gehalt als Theorielehrer mit 800 Gulden bemessen werde (statt wie bisher mit 600), ja er kann alsbald zusichern, daß Bruckner zum k. k. Hoforganisten ernannt werde, sowie er nur einmal Lehrer am Konservatorium sei, mit welchem Amt feste Alters- und Invaliditäts-Versorgung verbunden war; im übrigen aber setzt er seinem Schützling, der so wenig Vertrauen auf das gegebene Wort habe, den Kopf zurecht: »Es geht ja alles gut! Also ruhig Blut!« … »Ihre Sache wird jetzt den unaufhaltsamen, geraden und günstigen Weg gehen. Niemand kann ihr schaden, höchstens Sie selbst, wenn Sie nämlich an andere Persönlichkeiten so überspannte Briefe richten würden, wie Ihr heute an mich gekommenes Schreiben ist. Also nicht » aus der Welt«, sondern » in die Welt!« gehen, keine eines Mannes und Künstlers Ihres Schlags unwürdige Verzagtheit, Sie haben keine Ursache dazu.« (20. Juni 1868.)

In die Welt …!

Dies muß doch Eindruck gemacht und die Schwierigkeiten zuletzt behoben haben. Aus zwei kurzen Briefen Bruckners an die Direktion des Konservatoriums (Juni und Juli 1868) klingt neben gebührendem Respekt vor der »Ehrenstelle«, die er antreten solle, zwar noch die Furcht, daß sie nicht »fest bleibend, sicher« sein könne; aber er empfängt »schriftliche Beruhigungen«: – da sagte er »in Gottes Namen« Ja.

Im Herbst 1868 übersiedelt Bruckner nach Wien und tritt noch in diesem Schuljahr seine neue Stellung an der Anstalt an, die er 22 Jahre bekleiden sollte. Sein Gehalt betrug, wie erwähnt, 800 Gulden für die Theorie, wozu 240 Gulden für die Orgel kamen; dafür hatte er zwölf wöchentliche Theorie-Stunden und vier Orgelstunden während eines zehnmonatigen Schuljahrs zu geben. Drei Jahre später erhielt er den Professortitel. Schon im Dezember 1868 wurde ihm vom Unterrichtsministerium ein Künstlerstipendium von 500 Gulden auf ein Jahr »zur Herstellung größerer symphonischer Werke« verliehen und 1874 ein gleich hohes Stipendium ohne nähere Widmung vom Unterrichtsminister Stremayr.

Es gibt Städte, die ihren besten Menschen nicht mehr gewachsen sind, namentlich den Künstlern nicht, die, dort wohnend, schon nicht mehr darin leben, sondern ins Ferne wirken, die Nähe als Beengung und Hindernis, bestenfalls angenehme Dekoration und gesunden Aufenthalt empfinden. Dann pflegen kleine Städte sich an ihre Künstler zu gewöhnen, und sie, die sie erst respektvoll und scheu betrachteten, geringschätzig, ja mißachtend zu behandeln, eben weil sie da geblieben sind und nicht geholt wurden (»es scheint doch mit ihm nichts zu sein«). Damit die Heimat »auf ihren Sohn mit Stolz« blicken könne, darf er nicht dort bleiben, nur als teures Exportgut einmal zurückkehren. Und endlich pflegt die Geistigkeit kleinstädtisch lebender Künstler – wir sehen von Jahrhunderterscheinungen wie Goethe in Weimar, Wagner in Tribschen ab – mit der Luft zu sinken, die sie atmen, mit den Selbstzufriedenheiten, in denen sie rosten, bis sie einmal mit dem Seufzer aus der Welt gehen: was hätte aus mir werden können …!

So war es mit Bruckner in Linz. In Provinzen wird man, ohne große Gegner, nicht alle seine Spannungen herausholend, leicht welkend, alternd, bequem. Ein Einsamer in Einsamkeiten vereist bald, ein Einsamer unter Vielen gewinnt sich. Die tausend Zungen der großstädtischen Musikpflege, die Stimmen eines gewählten Chors oder Orchesters – und wie klang damals in den Kampfjahren das Opernorchester, als es selbst mitkämpfte! – ja selbst der böse Blick, der Hohn der Höhnischen, der Haß der Gehässigen haben Bruckners Phantasie und Widerstandskraft, Schmerz- und Schaffensfähigkeit mächtiger aufgeregt als ein ruhiges Jahr beim Frohsinn in Linz.

Er mußte auf den Jahrmarkt. Eine traurige Notwendigkeit zwar, daß Wien Entwicklungsstätte des Künstlers und sein Blutacker Hakeldama werden sollte, daß Dornenkrone und Geißelung dem Auferstehen vorangingen; aber alle Kunst ist leidgeboren.


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