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In Linz

Linz war die erste Stadt, die ihn als Wirkungskreis umgab. Sein Arbeitsfeld wird reicher, die Beziehungs- und Betriebswelt erweitert sich, die dreißig Jahre dörflicher und stiftischer Idylle sind zu Ende.

Er wohnte zu Linz im Haus der Stiftsherren von Sankt Florian auf der Landstraße. Sein Orgelspiel trug seinen Namen bald herum, mit ihm gewann er auch den einflußreichsten Gönner, den großen Bischof Rudigier. Vierzehn Jahre dauert im ganzen übersehen Bruckners Linzer Aufenthalt, wovon die zweite Hälfte (1861-1868) Erfolg und Aufstieg, Festsetzung im Leben, die erste Hälfte aber Studium, von neuem Studium bedeutet. Am Eingang dieser zweiten Lehrzeit steht der Bischof Dr. Franz Josef Rudigier.

Die Gestalt dieses Mannes (geboren 1811), menschlich und politisch gleich anziehend, ist schon in die Literatur eingetreten (»Es war einmal ein Bischof …« von Adam Müller-Guttenbrunn). Er stellt ein Stück des kirchenherrlichen Mittelalters dar, das streitbar war gegen Kaisermacht, eine bäuerliche Renaissancenatur, die, im Kampf um Glaubensrecht bis zur Gehorsamsverweigerung gehend, auch Person und Schicksal zu opfern bereit war. Damals, zur ersten Brucknerzeit, stand er auf der Höhe des Lebens, in den Kraftjahren zwischen 40 und 50, eine Gewalt-Erscheinung, wie ihn auch die Büste in Sankt Florian zeigt. Auf der Höhe des Kampfruhms stand er ein Jahrzehnt später, als das alte Österreich sich eine neue Maske zu geben versuchte, die liberale Reichstagsmehrheit gegen das Konkordat ein Ehe-, ein Volksschulgesetz erließ, worin die Kirche, der Gerichtsbarkeit in Ehesachen entkleidet, des Einflusses auf die Schule verlustig, dem Staat eingegliedert wurde. Es war die Zeit der liberalen Berauschung, ein Teil des Zickzack, auf dem die Regierung des Kaisers sich versuchte – aber Rudigier, der mindestens das Unorganische und innerlich Unösterreichische durchfühlte, richtete als Vertreter der ecclesia militans gegen die neuen Gesetze seinen nur einmal veröffentlichten und doch so berühmt gewordenen Hirtenbrief. In Linz verhaftet und sich dem weltlichen Gericht weigernd, wird er gleichwohl zu Kerker verurteilt, am nächsten Tag aber vom Kaiser begnadigt, ein Ereignis, das bis heute unvergessen blieb. Zwei Zeitalter stießen in diesem Kulturkampf aufeinander, »zwei geistige Rassen befehdeten sich, Menschen des irdischen Lebens mit allen dessen Relativitäten und ein im Absoluten ruhender Geist« (Hermann Bahr, Rudigier, S. 56) – die gleiche Stellung, die später Bruckner und seine Ankläger einnahmen, obwohl sich Glaube und Unglaube kunstverschleiert als Ethik und Ästhetik, kaum erkennbar gegenüberstanden.

Dies war der große Bischof, der auf Bruckners Seelenleben mit Märtyrergröße wirkend, in seine Nähe als musikempfängliche Natur trat. Denn es gab einen zweiten Rudigier, der der Musik als einer Form des göttlichen Trostes, der himmlischen Gnade in bedrängter Stunde sein Herz öffnete. Da wurde er schweigend, saß versunken in der Kirchenbank und lauschte. Und nun war der neue Organist gekommen, ein Dorfungetüm, das auf eine seltsam entführende, ja störende Art zu fantasieren vermochte. Da vergaß der Bischof des Betens und, den Sorgen des Amts, dem Tag und seiner Anfeindung enthoben, wurde er vergleichbar dem König Saul, der der Davidsharfe lauscht: »so erquickte sich Saul, und ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm …«

Rudigier war Bruckner dankbar. Er begrüßte ihn auf der Straße mit auszeichnender Gebärde wie einen Kirchenfürsten, ja, als Bruckner schon längst in Wien war, wurde er vom Bischof öfter zurückberufen – zu jenen Davidsharfen-Stunden an der Orgel. Und umgekehrt gab sich Bruckner dem großen Mann aus dem Innersten hin, demütig aufschauend zu ihm, der in seiner Glorie doch des Organisten bedurfte. In Bruckners Leben gab es außer Rudigier nur noch einen Mann von gleicher Verehrungshöhe: Richard Wagner. Als er ihn später kennenlernte, bezeichnete ein Wiener Witzwort die Stellung Wagners auf der Leiter der Brucknerschen Respektsgefühle etwa damit: Wagner stehe ungefähr zwischen dem Bischof von Linz und dem lieben Gott.

Rudigier ließ es, als der Mann der Tat, nicht bei bloßen Gefühlen bewenden. Seiner Menschenkenntnis ward eine Erscheinung wie die seines Organisten bald klar, und wie er Hundsrosen von den Feldwegen in seinem Garten veredelte, so gedachte er auch diesem wildwüchsigen heimatlichen Gewächs durch Inokulieren den Duft und die Pracht fremder Kulturen zu geben. Er war es, der Bruckner ermöglichte, zeitweise von Linz nach Wien zu fahren, um dort den Unterricht des berühmten Simon Sechter zu genießen. So ist der große Bischof für Anton Bruckner Schicksals- und Bedeutungsmensch geworden.

Bruckner mochte in erwachender Selbstkritik, sich in Andern gespiegelt sehend, empfinden, daß Linz ihm viel bot, mehr noch vermissen ließ. Er hörte nun mancherlei weltliche Musik, Chor- und Orchesterkonzerte (im Musikverein etwa Paulus, die Jahreszeiten), besuchte die Aufführungen des Theaters und sah, daß jenseits der Kirchen- und Kammermusik von Sankt Florian sich ein Meer ausbreite, an dessen Ufern er unkund und trotz allem Studium, Fleiß, Unterricht unfertig stand. Noch mußte es höhere Geheimnisse geben und einen Weg zu ihnen, ein Heraus aus dem bedrückenden Unsicherheitsgefühl, das seltsam widersprach seinem wachsenden Ruf als Komponist und Organist. Die Linzer Anerkennung als Gefahr überwinden: – das war vielleicht die beste Frucht des Aufenthalts, und es ging ihm ähnlich wie Adalbert Stifter. War der Dichter 1848 von Wien hierher geflohen, um Arbeitsfrieden zu finden, so beginnt in Linz nunmehr der Kampf um Wien. Allmählich wird ihm die ermattend stille Stadt zum Exil, zum Tomi am Pontus. »Es ist oft zum Totärgern, wie es in dieser Stadt langweilig ist … der Masse der Linzer gegenüber dürfte ich ebenso gut ein Seifensieder als ein Dichter sein, ja ersteren dürften sie bedeutend höher schätzen … hätte ich nur ein mäßiges, bestimmtes Einkommen, das mir die Unabhängigkeit des Schaffens ermöglichte, ich säße in Wien, ginge mit trefflichen Männern um, schaute mir im Sommer Berge, Seen und Wolken an und machte einige Meisterwerke … Könnte ich alle Entwürfe ausführen, die sich in meinem Haupte drängen, wie glücklich, wie überglücklich wäre ich …!«

So klagt der vierzigjährige Stifter, auch Schulmann und Künstler, und erlebt den Konflikt: Großstadt – Provinz in allen seinen Schauern.

Bei Bruckner lag die Sache nicht ganz gleich. Eine unbefangenere Natur, dürfte er das Seifensiedertum zwar auch gefürchtet, vor allem aber in jenem rätselhaften Durst des Ewig-Lernenwollenden, Immer-Gierigen gelechzt haben, den Linz nicht stillen konnte, und der gestillt werden mußte, wenn er, als Gläubiger, Gottes würdiges Werkzeug sein wollte. Da war Wien, da war Sechter, da war Wissen wie ein ferner Schatz – es zog ihn magisch an, und der Bischof, dem er seinen Wunsch wohl nicht verhehlte, gab dazu die äußeren Möglichkeiten: er bewilligte ihm alljährlich einen dreiwöchigen Urlaub um die Weihnachts- und Osterzeit, und Bruckner fuhr nun von 1855, seine Sehnsucht verwirklichend, abermals ein Schüler, regelmäßig nach Wien, zu Simon Sechter.

Er kannte ihn schon aus der ersten Prüfung her, hatte ihm, wie Gräflinger angibt, inzwischen auch einmal eine Messe zur Durchsicht überreicht, kurz, er fühlte sich bei ihm gewissermaßen schon zu Hause. Zum Zutrauen des immer Autoritätsgläubigen tritt vorwegnehmende Dankbarkeit, das Gefühl des Geborgenseins und eine Arbeitslust, die, alles zusammenreißend, dem mit Pflichten gesegneten Tag die durchstudierte Nacht folgen läßt. Sechter, ein gebürtiger Deutschböhme, war außerdem in jungen Tagen – Schulgehilfe in Oberösterreich gewesen, hatte auch den Präparandenkurs in Linz durchgemacht, bevor er Mitglied der Hofkapelle, Hoforganist und – seit 1851 – Lehrer für Harmonie und Kontrapunkt am Wiener Konservatorium wurde.

In diesem Lebenslauf eine Parallele, in dieser Herrscherstellung vielleicht ein Berufsideal erblickend, unterwarf sich Bruckner des Meisters Offenbarungen wie Glaubenssätzen. Ihre Langatmigkeit schien ihren Gehalt zu verbürgen: von 1855 bis zum Sommer 1858 dauerte allein die Harmonielehre, 1859 lernte er den einfachen, 1860 den doppelten, drei- und vierfachen Kontrapunkt, 1861 den Kanon und die Fuge. Und es gibt darüber fünf Zeugnisse mit Handschrift und Siegel, worin der Verfasser der richtigen Folge der Grundharmonien in wohlgesetzten Worten »den einsichtsvollen und redlichen Fortpflanzer dieser Kenntnisse« rühmt. Und Sechter war streng, oft heftig gegen den Schüler, setzte in dessen Verhalten die größte Pietät voraus, trieb es aber doch wieder mit Scherz und Laune, ganz wie Bruckner später selbst als Lehrer.

Von Sechter hat Bruckner immer als von der höchstdenkbaren Instanz, als dem lumen mundi gesprochen. Mit besonderer Betonung hob Bruckner dabei hervor, daß er sieben Jahre bei ihm studierte, die einzelnen Unterabschnitte bedeutungsvoll anführend, was eine offene Spitze gegen die Kürze des Theorie-Unterrichts am Wiener Konservatorium enthielt.

Um es kurz zu sagen: das Verhältnis Bruckners zu Sechter war das des Faust zu dem trockenen Schleicher Wagner, beeinträchtigt insofern, als Wagner der Meister, Faust der Schüler war … Dabei ist wichtig, daß Bruckner als Lehrer später immer an einer gewissen Mentalreservation festgehalten hat, als ob Theorie und Schaffen, zwei getrennte Welten wie Kerker und Freiheit, nichts miteinander zu tun hätten, und jenseits vom strengen Satz und seiner Gefängnisluft die goldenen Gefilde freien Musizierens anfingen, wo man's nach Lust und Laune treiben konnte, wo alle jene Regeln nicht galten, die man aber doch erlernt, und immer wieder genauer erlernt haben mußte, und gar nicht genau genug erlernen konnte, um sie endlich zu übertreten. Und diese Überzeugung dürfte sich ihm auch als Schüler Sechters nach und nach herausgebildet, so dürfte er studiert haben.

Meister Simons Leben reicht von Mozart bis Wagner, von Maria Theresia bis Franz Josef. 1788 geboren, ist er eben Vierzig, als Schubert bei ihm Unterricht nehmen will. Er zählt 68 Jahre, als Bruckner zu ihm kommt, ein Greis mit allen natürlichen Pedanterien und Vertrocknungen, allen Verlangsamungen des Lebensprozesses, was die Schwerfälligkeit seines Unterrichts noch schwerfälliger machte.

Immer schien mir Sechter vergleichbar einem Meister jener Bauhütten des Mittelalters, der alle sittlichen Verantwortungen für Lehrlinge und Gesellen trug – daß sie zur Beichte gingen, nicht zu Karten und Frauen – der in seinem Handwerk ein Höheres erblickte, weil es nach mathematischen Regeln vor sich ging, den Gang der Ausbildung starrsinnig einhielt, dabei von einem gewissen Hüttenstolz erfüllt, daß er allein das wahre Geheimnis besitze, ohne zu merken, daß die Hütte längst nicht mehr schöpferisch war, sondern nur Bestehendes erhielt.

Sechter hat ein (heute nicht mehr aufgelegtes) Werk hinterlassen: »Die richtige Folge der Grundharmonien oder vom Fundamentalbass und dessen Umkehrungen und Stellvertretern« (Leipzig 1853, Breitkopf & Härtel), das aussieht wie ein Museum: viele Dinge, wertvolle, nützliche Dinge – aber tot, und draußen liegt das Leben. Dieses Lehrbuch, überholt durch die Praxis der Künstler, war schon veraltet, als es erschien. Peter Cornelius schreibt einmal rühmend an Liszt (Wien, Anfang Mai 1859): »Welch feine Beweglichkeit der Seele liegt in dieser harmonischen Mannigfaltigkeit. Wie interessant sind die paar Akkorde, die Sie in Burmeisters Album geschrieben …« Dann fügt er noch hinzu: »Sechter soll eine ganz gehörige Weile in Anschauung dieser kleinen Skizze verbracht haben (!!)«. Die beiden Ausrufungszeichen deuten die geistige Stellung Sechters an, und wir können uns Meister Simon, der in Bachs Werken zu viele Freiheiten fand, öfter in Anschauung neuer Rätsel versunken vorstellen. In seinem Tagebuch bekannte er, woher sein Gedankengut, seine Denkweise stammte: »… Marpurgs Abhandlung von der Fuge und dessen Temperatur; Kirnbergers Kunst des reinen Satzes, dessen wahre Grundsätze der Harmonie; Emanuel Bachs Lehre vom Akkompagnement; Albrechtsbergers Generalbass- und Kompositionslehre; Matthesons vollkommener Kapellmeister; Türks Generalbaßlehre. In neuerer Zeit las ich auch Gottfried Webers Theorie, die Kompositionslehre von Reicha; auch ein paar Theile vom System des Herrn Marx aus Berlin und noch einige andere kleine Lehrbücher. Daß ich auch Riepels Werke gelesen, hätte ich bald vergessen …« In Wirklichkeit fußt seine Lehre auf der großartigen fruchtbaren Fundamentallehre des Rameau (Traité d'harmonie, 1722), wonach nicht der jeweilige Baß der Akkorde, sondern der tiefer ruhende, manchmal wirklich klingende, manchmal nur gedachte Fundamentalton für ihre Natur und ihr Schicksal entscheidend ist. Das gab, weit über den Schematismus der Generalbaßlehre hinausgehend, Klarheit für das Erkennen, Klanggefühl für die Behandlung, das hatte Goldwert für die Praxis; und selbst einem weniger bedeutenden Schüler Sechters, Vesque von Püttlingen etwa, muß Hanslick satten Wohlklang der Stimmführung nachsagen.

Der Sechterismus, eine Glanzleistung der altösterreichischen Musiker-Pedanterie, ist oft und viel angegriffen worden; Riemann wendete sich gegen die nur in der Sequenz möglichen Fundamente aller sieben Tonleiterstufen, und eigentlich hatte schon Rousseau im Musiklexikon die verwundbare Stelle herausgefunden: daß der Fundamentalbaß nicht immer wirklich erklingt, woher natürlich die Gefahr der Augenmusik, sozusagen einer musica ficta, droht. Und dennoch steckt so viel Gesundes, Lebenskräftiges, ja Verführerisches in der Lehre, die über den mächtigen Urschritten des Quintfallens und Quartsteigens durch alle sieben Stufen ihre Akkordketten wie Girlanden hinzog, daß wir Sechterianer später nur mühsam in die Welt der Riemannschen Funktionenlehre hinüberfanden. Ja, viel Gerümpel, aber überall darunter das Elementare. Wenn die Fundamente nur in Terzen fielen, wurde ein Zwischenfundament eingebaut, das heißt der elementare Schritt eingefügt, und Stimmführungsakkorde, fast tristanartig, ließen sich, durchgangshaft gesehen, wieder auf wenige Urschritte zurückführen. Und alles war gesungen gedacht!

Josef Schalk wollte Sechter durch chromatische Zwischenfundamente »modernisieren« und auf Wagner anwenden, denn Wagner konnte man auch mit den »Zwitter«- und den »Schein«-Akkorden nicht mehr beikommen. Bruckner, der Diatoniker, war aus Instinkt dagegen. Mit vollem Recht. Um die Lehre für die neue Kunst zu retten, hätte man sie vereinfachen, nicht komplizieren müssen, das unmögliche Fundament auf der siebenten Stufe (h, d, f ist kein Dreiklang) aufgeben und das Ganze auf thetische, synthetische, antithetische Grundakkorde – Tonica, Oberdominant, Unterdominant – zurückführen müssen: dann wäre eine Art Riemann herausgekommen.

Aber so, wie die Lehre war, obwohl nur unvollständiger Rameau (die sixte ajoutée fehlte), obwohl nur mechanisierendes Terzenbauen, war sie dennoch Samen und Segen. Denn man wird auch heute über d'Alembert nicht hinauskommen: »Der Grundbaß ist der wahre Wegweiser des Ohrs und die wahrhafte Quelle des diatonischen Gesanges.« Wer die Stammakkorde auf ein Fundament hin dachte, dachte sie zugleich mit ihrem Schöpfungsgedanken, dachte sie im melodischen Aufriß. Das gab dem Musiker ethische Sicherheiten. Die diatonische Grundempfindung herrschte vor, die Chromatik galt als romantische Nebenblüte – und einer Natur wie Bruckner, die von vornherein ethisch und auf Urschritte gestimmt war, mußte dies alles mächtig entgegenkommen. Man darf vielleicht sagen: als gläubiger Katholik, als Enkel einer Überlieferungswelt, hat Bruckner keine zusagendere Schule finden können.

Er vergrub sich in dies alles mit Wonnen. Nun gab es kein Geheimnis mehr. Die Blätter mit den Beispielen – Sechter war unerschöpflich im Aufgabenbeispiel – füllten das Zimmer des Beflissenen wandhoch, ganze Stöße lagen darin umher, und in diesem selbstvergessenen Fleiß lag eine moderne Wiederholung mittelalterlich-mönchischer Askese. Ja, dem hochgesteigerten Ausmaß seiner Studien schreibt Dr. Franz Marschner wesentlich die Abnormität der Nerven Bruckners zu, denn, »zu kontrapunktieren, wie er es gewohnt war, war auch bei der größten Begabung und der größten Leichtigkeit der Auffassung eine höchst anstrengende Sache; nicht weniger anstrengend etwa als philosophieren«, und in seiner kontrapunktischen Riesentechnik, die jedes Problem überwand, erblickte Bruckner wohl auch seine wissenschaftliche Befähigung.

Ein anderer Grund für Bruckners fanatischen Fleiß lag in seiner Demut: im Kunstwerk diente er Gott, für den nichts lauter, rein, gediegen und kostbar genug sein konnte. Daher seine von Sechter übernommene Peinlichkeit und Sauberkeit. Noch in späteren Jahren prüfte er seine Posaunen- und Trompetensätze gesondert vom übrigen nach der Fundamentallehre, und mit ihrer Tadellosigkeit war auch ihr Klang gewährleistet. Manche seiner Holzbläsersätze sehen dem Bild nach aus wie erweiterte, verklärte oder beseelte Sechtersche Verkettungen, ja, sein Partiturbild hat – gegen Richard Strauß – etwas Übersichtlich-Altes, Geometrisch-Solides; selbst wo er das Kühnste kombiniert, das Ungewagte wagt, schimmert immer das Diatonische durch, die Bässe schreiten immer majestätisch im Herrscherschritt, Luft streicht durch die Stimmen, alles singt.

Temperamentsmenschen wie Wagner, wie Wolf, wären Sechter nach dem ersten Monat davongelaufen – für Bruckner hatte die Methode, die jeden Quartsextakkord argwöhnisch beobachtete und als dissonant vorbereitete, etwas ungemein Anziehendes, es konnte ihm gar nicht lange genug dauern, nicht gründlich genug sein: Priester wird man nicht auf einmal, man muß alle Weihen durchlaufen, vom Subdiakon an.

Im Jahre 1861 war er fertig. Und Sechter erkannte ihn als »reinen Meister in diesem Fache« an. Daran aber hatte Bruckner nicht genug. In seinem Drang, geprüft zu werden, rief er eine noch höhere Instanz an, die, sein Wissen und Können bestätigend, die Sechtersche Anerkennung anerkannte. Er wandte sich an die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und bat zunächst, vor einer eigens ernannten Kommission eine Prüfung ablegen zu dürfen, und dann, im günstigen Fall, um die Verleihung des Titels »Professor der Harmonielehre«. Dies, wie er in einem zweiten Gesuch ausführt, nicht etwa aus Eitelkeit, sondern deshalb, weil er schon von verschiedenen Behörden aufgefordert worden sei, sich darum zu bewerben. Das Ansuchen, dem die kontrapunktischen Arbeiten beilagen, und das es an Respektausdrücken nicht fehlen ließ, wurde bewilligt, und die Kommission trat im November zusammen. Sie bestand aus dem Konservatoriums-Direktor Josef Hellmesberger, dem Dirigenten der Gesellschaftskonzerte Herbeck, dem Hofopernkapellmeister Dessoff, dem Schulrat Becker und Sechter. Als sich die Herren im Musikvereinsgebäude versammelt hatten, erhob sich Herbeck, der Bruckner schon kannte, und bemerkte, daß eine gute mündliche Beantwortung vorgelegter Fragen dem Kandidaten zwar keinen Vorrang vor anderen mit Auszeichnung Studierenden einräumen könnte; wenn Bruckner hingegen fähig sein sollte, ein ihm gegebenes Thema im fugierten Stil sogleich praktisch auf einem Klavier oder einer Orgel durchzuführen, so würde dies, mehr als alles theoretische Wissen, seine eminenten Fähigkeiten beweisen. Bruckner, gefragt, ob er sich dieser Aufgabe unterziehen wolle und welches Instrument er vorziehe, war mit dem Vorschlage Herbecks einverstanden und wählte die Orgel in der Piaristenkirche in der Josefstadt.

Man begab sich dorthin. Professor Sechter wurde aufgefordert, ein Thema niederzuschreiben. Es waren vier Takte, und Herbeck erweiterte sie auf acht. Das Blatt wird Bruckner übergeben. Lange starrt er es unschlüssig an, und die Kommission wird schon stutzig. Aber dieses Notenanstarren war schon ein Teil der folgenden künstlerischen Arbeit: er nahm das Thema langsam in sich auf. Dann setzte er sich an die Orgel und improvisierte darüber eine Fuge von solcher Macht, daß den Herren angst und bange wurde. Das hätte keiner von ihnen können. »Er hätte uns prüfen sollen,« hörte man Herbeck im Abgehen sagen … Eine freie Phantasie schloß sich an die Fuge. Und den großen Eindruck vom Ganzen bestätigte das Zeugnis, das Bruckner als »Lehrer der Musik an Konservatorien und zur Unterweisung von Lehramtskandidaten« empfahl. Auch die Linzer Zeitung nahm von dem Erfolg Notiz und feierte den Landsmann, der die Prüfung bestanden.

 

Es war 1861, er zählte 37 Jahre. Er wollte »seinen« Klang erlöst sehen, sich und seine Religion, Gott und Schickung als Gesang formen – und nun überall Hemmung, Regel und Verbot bei jedem Schritt. Es schien ja geradezu, als habe er die Geheimlehre erlernt, um zu sehen, daß das Geheimnis vor ihm zurückwich, daß sich das Eigentliche verbarg, die Gestaltungen zerrannen, die man zu ballen glaubte. Und war die Fuge »seine« Form? War die Orgel »sein« Instrument, die hundertzüngige, aber doch nicht biegsame, eher herrschsüchtige als unterwürfige Orgel? Und überall um ihn her eine Musik, nach keinem Rezept Sechters gemacht, nach keiner seiner Regeln zu fassen.

Er sah sich neuen Ungewißheiten ausgeliefert. Vielleicht ist komponieren nichts als die Erlaubtheit des Unerlaubten? Sich selbst überlassen, hätte er wahrscheinlich auf eigene Faust ein Ufer zu finden gesucht, wäre in der Provinz ein Sonderling und Knorre geworden – aber das kleine Linz bot ihm das, was ihm das große Wien nicht bieten konnte: den richtigen Mann zur richtigen Zeit. Statt des verflachsten Dalai Lama der Theorie einen praktischen Musiker, vor allem einen Menschen, eine unberühmte, aber lebendige, der Sechterschen ganz entgegengesetzte Persönlichkeit.

Dies war der Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler. Um zehn Jahre jünger als Bruckner (geb. 1834), aber an Blick und Erfahrung um ebensoviel älter, kam er 1858 zum ersten, 1861 zum zweiten Male nach Linz. Dazwischen dirigierte er am Königsberger Theater. Linz – Königsberg, das Hin und Her auf solchen Linien bezeichnet das Leben eines Wandernden. Während Sechter aus Wien nicht hinauskam, sah Kitzler die Welt. Ursprünglich Cellist, bildet er sich in Dresden, Brüssel und Prag aus, lernt bei Servais, bei Goltermann, wird Chordirektor und Solorepetitor, kommt nach Straßburg, Troyes, Lyon, Paris, Eutin, und zuletzt auf dieser Musiker-Odyssee nach Linz. Um seine Studienjahre schweben die guten Genien der Kunst, die Namen seiner Lehrer sind mit den besten Namen der europäischen Musikkultur verknüpft, überall gibt es Beziehungen zu bedeutenden Menschen und Ereignissen, was man in seiner hübschen, kleinen Selbstbiographie (»Musikalische Erinnerungen«, Brünn 1904) bequem nachlesen kann. In der Theorie gerät er in die Hand des großen Fétis, des Brüsseler Propheten einer neuen Omnitonalität, der »nach der blühenden Methode Cherubinis« vorging, nicht nach den Postillen von Fux und Kirnberger. Über seiner Jugend aber geht eine glänzende, feurige Sonne auf: Richard Wagner. Als Knabe erlebt er die Dresdener Uraufführung des Tannhäuser, sieht Wagner als Kapellmeister am Pult, als Elfjähriger singt er in der Neunten Sinfonie mit, die Wagner leitet, und vom Schwung, den der achtundvierziger Revolutionsmann den jungen Leuten seiner Zeit mitgab, hat wohl auch Kitzler sein Teil mitbekommen. Noch als zitteriger Greis in Graz, wo er seinen Lebensabend zubrachte, – er starb 1915 – hatte er die stete innere Bereitschaft, die Helle des Angesichts, der Stimme. Eine feine, zierliche Erscheinung, mag er in den Linzer Jahren den Typus des jungen, modern entzündeten Kapellmeisters gewesen sein, wie er in größeren Ausmaßen von Herbeck in Wien dargestellt wurde.

Bruckner war schon 1858 mit Kitzler, der auf dem Kirchenchor freiwillig als Cellist mitspielte, bekannt geworden und wurde, wahrscheinlich im Herbst 1861, sein Schüler. Zunächst in der musikalischen Formenlehre, denn bei Sechter hatte er wohl von der Fuge, nicht von Sonate, Sinfonie, Ouvertüre erfahren. Mit Hilfe des E. F. Richterschen Leitfadens führte Kitzler ihn in den Bau der Tonwerke ein und ließ ihn von der achttaktigen Periode bis zur Sonate alle notwendigen Studien durchmachen. »Beethovens Sonaten bildeten die vergleichende Grundlage unserer Übungen, und Bruckner bezeugte stets besondere Freude, wenn er auf eine, seinen früheren Satzstudien zuwiderlaufende Wendung oder Gestaltung stieß …« Alles Kühne und Eigene freut ihn jetzt, er trinkt Freiheitsluft, es ist seine unsechterische Periode, die Vorzeit seiner Ersten Sinfonie.

Nach der Formenlehre nahm Kitzler mit seinem Jünger die Instrumentationslehre nach dem Lehrbuch von A. B. Marx durch; sie war freilich zeitlich begrenzt und endete bei Meyerbeer, aber der Linzer Kapellmeister kannte schon andere Instrumentationen, so neu und unerhört, daß sie noch lange nicht lehrbuchfähig waren: die Partituren des Holländer, des Lohengrin und vor allem des Tannhäuser … Ja, Tannhäuser, den Kitzler in Straßburg als erste deutsche Aufführung auf französischem Boden wiedergehört hatte, gehörte zu seinem Bildungserlebnis. Im Dezember 1862 führte er Bruckner in dies Bacchanal romantischer Orchesterfarben ein: die neue Behandlung der umspielenden Violinen, die spannenden Schauer des dramatischen Tremolos, die nicht mehr füllenden, sondern einzeln singenden, oder in chorischer Stoßkraft geballten Hörner, die metallische Pracht luftig gebauter Posaunenmassen mit sieghaft überglänzenden Trompeten – alles dies mochte der erglühende Lehrer seinem Schüler als Ausdrucksgebärden der heidnischen und christlichen, der Venus- und Elisabeth-Welt erklären.

Vielleicht hatten Bruckners Ohr schon in Wien Wagnersche Klänge gestreift – als neue Sprache kamen sie erst jetzt in sein Bewußtsein: die Alten in Wien, deren Richtung Bauernfelds kindische Epigramme (noch 1870/71) bezeichneten, haben ihn sicher nicht verwagnert, und er selbst ging in anderer Richtung. In Linz war noch keine Note von Wagner erklungen – Grund genug für den jungen Kitzler, es damit zu wagen, und der Tannhäuser, den sie eben studierten, sollte das erste Werk sein. Längst von diesem Lieblingsgedanken erfüllt, sieht er jetzt die Zeit der Verwirklichung gekommen: gerade ist Richard Wagner in Wien, um den Proben seines Tristan beizuwohnen (denen die Aufführung allerdings erst – 1883 folgen sollte …). Kitzler sucht Wagner auf und erlangt von ihm die Erlaubnis, Tannhäuser zu seinem und seiner Braut (der Opernsängerin Krejci) Vorteil in Linz ohne Honorar aufzuführen. Er probiert und studiert das Werk auf das Sorgfältigste und bringt es am 13. und 20. Februar 1863 heraus. Es findet »unerhörten« Erfolg, wie denn Provinzaufführungen trotz unzulänglichen Mitteln oft näher an uns kommen als große. Leider ist kein Tagebuch, kein Brief Bruckners bekannt, worin etwas von seinen Eindrücken jener Abende festgehalten wird, wie glücklicherweise beim Wiener Tannhäuser-Erlebnis Hugo Wolfs. Wir können wohl annehmen, daß er als Künstler davon in den Grund hinein berührt war: irgendwie veränderte sich das ganze Bild der Musik, das er bisher empfangen, und er selbst veränderte sich mit, betroffen und bedrückt von dem Großen und doch zugleich ermutigt, voll Begierde, selbst auf diese Weise tönend zu werden. Denn immer erleiden die großen Musiker einen Vorfahren unter Schauern, der sie niederwirft und doch erhebt, als gehöre der fremde Besitz nun auch ihnen. Im übrigen sind wir auf Bruckners Werke angewiesen, die von Anfang an mit eigenen Zeichen versehen, durch die Wagnerwelt hindurchgehend, eine neue Brucknersprache entwickeln.

Dem Linzer Tannhäuser folgte (noch 1863 im Konzert) das Liebesmahl der Apostel, 1864 der Fliegende Holländer, Lohengrin, 1865 der Fliegende Holländer und am 4. April 1868 der Schluß der Meistersinger, den Bruckner selbst – noch vor der Münchener Uraufführung – im Konzertsaal leitete.

Bruckner stand im vierzigsten Lebensjahr: die Instrumentationslehre, die seine Studien bei Kitzler abschloß, war erlernt. Spät hatte er sich zu eigen gemacht, was andere zwanzig Jahre früher zu erlernen pflegen, sein Meister selbst ist davon Zeugnis. Fassen wir rückblickend den Lehrgang zusammen, so sehen wir, daß die Ausbildung in der reinen Satztechnik die weitaus größte Zeit in Anspruch nahm: sie reicht, weit genommen, vom elften bis zum siebenunddreißigsten Lebensjahr. Darauf folgt die kurze Kitzlerzeit, wo er, wie mit einem Ruck in die moderne Welt gestellt, die Formen, Themenarbeit, Architektonik erlernt. Es ist jedenfalls kein harmonischer, sondern ein schicksalsbedingter, ungleichmäßiger Gang, dessen Ende im Schwabenalter liegt.

Die Zeit war um, Kitzlers Engagement in Linz ging zu Ende, er sollte nach Brünn gehen – da fragte Bruckner ihn eines Tages, wann er denn freigesprochen werde. Ganz seiner mittelalterlichen Natur gemäß sah Bruckner einen Abschnitt beendet, der als solcher gekennzeichnet und durch eine Generalpause vom folgenden geschieden werden mußte. Nun mußte der Übergang vom Lehrling zum Gesellen gefeiert werden. Kitzler erwiderte auf jene Frage, er könne seinem Schüler nichts mehr beibringen, da er ihn schon übertroffen, und der Freispruch könne jeden Tag erfolgen; und so lud Bruckner denn seinen Lehrer samt dessen Frau zu einer Wagenpartie nach dem reizend am Walde gelegenen Jägerhause von Kirnberg ein, wo denn bei fröhlichem Mahl die gewünschte Freisprechung erfolgte … Das gewünschte Zeugnis aber besagte, daß Bruckner den eigentlich zweijährigen Kurs dank seinem ausdauernden Fleiß in 19 Monaten durchmachte und daß die aufrichtigen Glückwünsche des Lehrers »diesen talentvollen und strebsamen Künstler auf seine weitere musikalische Laufbahn begleiten.«

Jetzt ist die neue Zeit gekommen, jetzt fühlt sich Bruckner wirklich reif und mutig genug zu »freien Kompositionen«, und sie ließen auch nicht lange auf sich warten. Gräflinger erwähnt zwar, daß Bruckner nach Kitzlers Abgang von Linz mit dem Theaterkapellmeister Dorn und dem späteren Dirigenten des Wiener Singvereins Wilhelm Gericke, Studien getrieben und andere moderne Partituren, darunter Liszts Faust-Sinfonie, kennengelernt habe. Es ist immerhin möglich, denn jeder Musiker sagt sich mit dem alten J. J. Fux: an nescis musicam esse mare, nec Nestoris annis possit exhauriri? und des Lernens ist kein Ende – aber in der Hauptsache sind Bruckners Lehrjahre mit dem Tannhäuser-Erlebnis vorbei, und es war streng genommen gleichgültig, ob er die moderne Musik auch durch andere Werke erlebte.

Wagner, der Aufstachler und Erreger, traf eine Seite Bruckners, die bisher im Unsichtbaren gewesen: er berührte den Sinnenmenschen und entzündete in der religiös gerichteten Seele Empfindungen, die bis zu Krampf und Katastrophe führten. Noch hatte das Weib in Bruckners florianischem Leben keine Rolle gespielt, nun berührte es ihn in Musikgestalt, ein marienhaftes Denken mit Unruhen und Ahnungen erfüllend.

Unmittelbar auf die Kitzlerzeit folgen die ersten wirklich großen Brucknerschen Schöpfungen: die d-moll-Messe (1864) und die erste Sinfonie in c-moll (1865/66).

Alle vorangegangenen Werke, und es sind ihrer nicht wenige, erscheinen bald in höherem, bald in gewöhnlichem Sinn als Gelegenheits- und Anlaßkunst, nicht als Lebensmusik, erwachsen aus dem Bedürfnis der Stunde, der Forderung des Tages, sei es, daß man an Bruckner herantrat, sei es, daß seine Stellung als Domorganist und Männerchorleiter es mit sich brachte. Die Messe und die Sinfonie dagegen sind freie, anlaßlose Seelenkunst und eröffnen eine Reihe von solchen Werken, denen gemeinsam ist die Abkehr ins Innere.

Um jene Zeit – 1866 – war Österreich müde geworden. Vermorscht und ausgewaschen wie ein altes Gebirge, beginnt es aus Europa als Machtstaat, unmerklich auch für Ahnende, zu verschwinden. Der italienische Freiheitskampf entreißt, den Spielberg rächend, dem Hausmachtkörper den halben Süden, den deutschen Schulmeister drängt es aus dem Norden, vulkanische Gewalten sprengen sein Inneres: – in diesem Verfall beginnt Österreich noch einmal sein reinstes Leben zu leben, aus Verwesung strahlt sein Licht. Es kommt zu einer Glanzzeit der neuerbauten Wiener Hofoper, zu einer Glanzzeit der Philharmoniker, vor allem zu einem Aufgehen der gestaltenden Mächte in den Erscheinungen Anton Bruckners, Hugo Wolfs und Gustav Mahlers, zu denen sich, eben durch den athenischen Aufgang hergezogen, der Magus aus dem Norden, Johannes Brahms gesellt. Es sind die Ausblüher, die Nachklassiker, Erntende und Säende, die das carolingisch-theresianisch bedingte Beethoven- und Schubertzeitalter verlassen. Aus Abendröten kommend, gehen sie dem Morgen zu. Im Jahre 1866, dem ersten deutlichen Verfallsjahr, schreibt Anton Bruckner seine erste Sinfonie.

 

Eine eigene Schaffensgelegenheit öffnet sich Bruckner dadurch, daß im Sommer 1860 der Dirigent A. M. Storch die Liedertafel Frohsinn verließ und sein Nachfolger Kirchberger im gleichen Jahr verstarb. Bruckner wurde nun zum Chormeister dieses Vereins gewählt und führte ihn zu bedeutenden Erfolgen, so auf dem Sängerfest in Krems (29. und 30. Juni 1861) und auf dem Nürnberger Sängerfest (19. und 24. Juli 1861), bei welchen Gelegenheiten Bruckner gewiß auch Johann Herbeck kennen lernte, der, dort als Führer der Wiener Chöre anwesend, später bestimmend in sein Schicksal eingriff. Von seinen Anlaßwerken sei ein »Grabgesang« genannt, den er (Februar 1861) zum Begräbnis einer Linzer Kaufmannswitwe schrieb und durch den »der Hauch zarter Empfindung und Gottvertrauens wehte« (Linzer Zeitung). Für die Vermählung eines ihm befreundeten Frohsinns-Genossen schrieb er ein Trauungslied (1865), von dem die gleiche Quelle sagt: es sei nicht schablonenhaft hingeschrieben wie oft Gelegenheitsstücke, vielmehr herrsche die tiefste religiöse Weihe, kein Ton erinnere an Weltliches, und wenn eine Stimme das Werk für gar zu ernst gehalten habe, so sei das gerade das Richtige: Bruckner habe nicht eine Hochzeit mit Ball, sondern den religiösen Akt der priesterlichen Einsegnung besungen. Seine Grundhaltung gibt schon, wie man sieht, den kleinen Werken Kern.

Dann entsteht ein Chor »Herbstlied« (1864) für Männerchor und Klavierbegleitung und zwei Sopransoli, sowie der große »Germanenzug« (für Männerchor und Bläser), der beim ersten Ober-Österreichisch-Salzburgischen Sängerfest unter Bruckners Leitung (Juni 1865) den zweiten Preis erhielt. Ein gemischtes Quartett »Du bist wie eine Blume« (Heine) gehört hierher, sowie die Chöre »Vaterländisches Weinlied«, »Der Abendhimmel«, »Vaterlandslied«, wovon das Vaterlandslied (Verse von Silberstein: »O, könnt ich Dich beglücken«) mit ihrer Verwebung von zwei Solostimmen in den Chor besondere Liedertafeldankbarkeit besitzt.

Bruckner nahm sein Amt als Chormeister nicht nur von der biergemütlichen Seite; er scheint Anforderungen gestellt und Ernst verlangt zu haben. »Möge sich die Liedertafel in ihrem Kunstleben eng an ihren tief und gründlich gebildeten Chormeister, Herrn Bruckner, anschließen: in ihm erkennen wir den Mann, der sie zum Ruhm und zur Ehre führen kann«, mahnt eine Kritik aus dem Jahre 1861 (mitgeteilt von Damisch im »Merker«, 15. Oktober 1916). Auch als man (1863) daran dachte, ihn zum Direktor des Musikvereins in Linz zu gewinnen, machte er sein Ja von vielen künstlerischen und anderen Verbesserungsvorschlägen abhängig, Dinge, die freilich nur Vorschläge blieben. Jedenfalls versank er nicht im Abseits eines kleinbürgerlichen Musikbetriebs, obwohl zur Bruckner-Sphäre immer, auch in Wien bis zuletzt, das Chorwesen, die Liedertafel, der Kommers und die singende Jugend gehört. Nach einem Jahr schied er aus dem Kreis des Frohsinn, ohne jedoch seine Beziehungen zu dessen liebgewordenen Menschen zu unterbrechen, so daß er 1868, nachdem ein Durchschnitts-Chormeister seine Stelle niedergelegt hatte, abermals an dessen Spitze trat. Zur Gründungsfeier des Frohsinn (4. April 1868) gab es reichen musikalischen Aufwand, u. a. die Tannhäuser-Chöre und den Einzugsmarsch, sowie den Schlußchor mit der Ansprache des Hans Sachs aus den Meistersingern. Er erhielt hierzu die Erlaubnis von Richard Wagner, den er zum erstenmal in München bei der Uraufführung von Tristan und Isolde (Juni 1865) erblickt und (zugleich mit Hans von Bülow) kennen gelernt hatte.

Daneben laufen noch kirchenmusikalische Tätigkeiten. Aus früherer Zeit sind vorhanden Fünf Tantum ergo (1846 in St. Florian entstanden), Sakraments-Gesänge, die »in ihrer tiefen Frömmigkeit für die Liturgie sehr verwendbar sind« und in ihren harmonischen Eigentümlichkeiten eine von Haydn und Mozart ausgehende Selbständigkeit verraten (siehe Max Auer, Musica Div. Nr. 7, 1913). Dann u. a. zwei Ave Maria, in F-dur, ein vierstimmiges aus dem Jahr 1856 mit Orgel, das bezeugt, was Bruckner als Kontrapunktiker schon vor Sechter vermochte, und ein siebenstimmiges (Sopran, 2 Alte, 2 Tenöre, 2 Bässe) aus dem Jahr 1861, das den »Stempel der Meisterschaft« trägt. Zu Ehren des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis sollte nach dem Fastenhirtenbrief des Bischofs Rudigier in Linz ein neuer Dom aus freiwilligen Beiträgen errichtet werden, und am 1. Mai 1862 kam es tatsächlich zur Grundsteinlegung. Bruckner, zur Verherrlichung der Feier eingeladen, schuf (nach einem Text von Dr. M. Pramesberger) eine Festkantate, die unter Mitwirkung der Frohsinn-Leute aufgeführt wurde. Sieben Jahre später aber schrieb er für die Einweihung der Votivkapelle (30. Sept. 1869) die große Messe in e-moll (für 8-stimmigen Chor und Blas-Orchester). Diese Messe, dem großen Bischof gewidmet, wurde von Bruckner einstudiert und dirigiert »an dem herrlichsten meiner Lebenstage … Bischof und Statthalter toastirten auf mich bei der Bischöfl. Tafel.« (An Joh. Burgstaller, Wien, 18. Mai 1885.)

Besondere Bewegung und Erregung ging einem andern Ereignis, der Aufführung einer neuen Messe, d-moll, im alten Linzer Dom – 20. November 1864 – voran. Es war die erste Messe des Domorganisten, sozusagen sein Antrittswerk in größeren Formen, was diese Spannung der Stadt hervorrief, und als die Scharen der Hörer das Gotteshaus verließen, warteten sie gewiß auf den Bericht der Linzer Zeitung, um ihren Eindruck zu klären. Ein kirchlicher Sinfoniker war laut geworden, es klang etwas aus dieser Messe, was alter Gläubigkeit einen neuen ungewohnten Ton gab. Das Kyrie entstammte der Schubertwelt, ähnliche Notenlinien zeigte ein Gesangsthema des Forellenquintetts (wenn man will, auch das Hauptmotiv des Liebestodes aus Wagners Tristan). Hier ist es in Moll gesunken, die Stimmen durchschlingen einander – aber nicht das ist entscheidend, sondern die flehende Gebärde des Tief-Gläubigen und die Choralfestigkeit des Zuversichtlichen, wie sie in gleichen Linien viel später das Adagio der Siebenten Sinfonie wiederholen sollte. Ein kirchlicher Dramatiker ward gehört, der Jesu Auffahren in den Himmel als Erlebnis empfand und mit der wuchtigen Hand Tintorettos malte – mit einer Steigerungsgebärde, die er, noch gesteigerter, dreißig Jahre später im ersten Satzteil seiner Neunten Sinfonie zeigte. Und aus der süßen Benedictus-Lyrik ihrer schwelgerischen Inbrunst alterierter Akkorde, ihrem stillen Verzücktsein ward ein kirchlicher Lyriker gehört, der nicht nur Regens-Chori-Überlieferungen aus Wiener Sonntagsmessen zu wiederholen hatte. Und dann die sinnvolle Verhängung des Kyrie mit dem Dona, ein Motiv, das dort Hoffnung, hier Erfüllung aussprach – zu viel des Neuen, und es fand auch seinen Widerstand.

Zwar die Besprechung der Linzer Zeitung stellt die »Größe und Kraft« der Messe durchaus fest, tadelt nur das allzu naturalistische Et resurrexit (das uns gerade so bildhaft vorkommt) und findet das Werk nicht mustergültig im alten Kirchenstil. Das wollte nun Bruckner wohl auch nicht: »offenbar drängt es ihn stark zum instrumentalen, neuen Ausdruck.« Zuletzt folgt dieser Satz: »Wenn es Herrn Bruckner gelingt, seine Fantasie zu läutern oder vielmehr zu bändigen und in dieser Gattung Musik allzu gewaltsame Schlüsse und grelle Dissonanzen zu vermeiden, so sind wir überzeugt, daß er schon im zweiten derartigen Werke die Zuhörer nicht mehr überraschen und staunen machen, sondern auch wirklich erheben und erbauen wird …«

Es kündigt sich also das Genie an; schon hört man: machen Sie's glatter, bitte, sich zu mäßigen …! Freilich die d-moll-Messe stand nicht Du auf Du mit dem Herrgott: eine starke Stimme sang ihren Glauben für sich und die andern, und nur die Starken mochten sie hören. Die Messe wurde in einem geistlichen Konzert (Redoutensaal, Dezember 1864) wiederholt, kam dann nach Wien in die Hofkapelle, wo Herbeck sie aufführte, und erschien 1868 noch einmal beim Hochamt im alten Dom. »Qui deum laudat neminem violabit«, lautet ein alter Organistenspruch – verletzt hat die Messe freilich niemanden; aber damals wußten nur wenige, daß sie das Empfinden der Andächtigen selbst war.

Ähnlich erging es der c-moll-Sinfonie, die Bruckner zum Erstaunen und zur Überraschung der Stadt ankündigte, und die er am 9. Mai 1868 selbst aufführte. Eine Sinfonie des Domorganisten! Die große und wirkliche Begabung wird auch diesmal festgestellt und dem Scherzo (das noch bei jeder Sinfonie am besten gefallen hat, eine Folge der rhythmischen Form) nachgesagt, daß es am besten gefallen habe. Aber die drei formellen Tugenden (»Architektonik«, »Verknüpfung«, »Instrumentierung«) werden bezweifelt, Streben nach Effekt bemängelt. Schon unterscheidet sich bei diesem Werk die Kritik von der alten: sie wittert Morgenluft, ist nicht mehr folgsam. Ästhetisch lauschend, entgehen ihr die ethischen Klänge, aber in Haltung und Ton steht sie doch hoch über dem Wiener Feuilletongeist.

Es gibt Erfolge, die einen Künstler bedrücken. Ein solcher wurmender Erfolg mag der der c-moll-Sinfonie gewesen sein. Das »gewählte« Publikum betrug sich sehr gesellschaftlich, nahm alles mit großem Beifall auf, aber wie aus dem Zeitungsbericht durchschimmert, fehlte es nicht an bedenklichen oder betroffenen Stimmen, und wie es geht, kamen sie Bruckner zu Ohren, bohrten in ihn hinein, machten ihn nachdenklich und ließen vielleicht das nagende Gefühl zurück, als hätten die Zuhörer an seiner Stimme, die ihre eigne war, vorbeigehört. Ein Durchfall unter Beifall? In dem jungen Sinfoniker wuchsen vielleicht die Bauernskrupel, ob die Stadtherren nicht doch recht hätten, und in verstärkter Neigung zur Selbstkritik mochte er schwankend oder unsicher werden. In der Tat war diese Sinfonie vor allem Charakterbild, ein bewußtes Aufbegehren, ein Protest gegen Schulfuchserei und Sechterei, und er nannte sie auch später, das Individual-Erlebnis in seine Sprache übersetzend, »s' Beserl« oder »keckes Beserl«, womit er nach einem Wiener Studenten-Ausdruck auf ein ungebundenes oder schnippiges junges Frauenzimmer zielte. Wahrscheinlich blieb auch das provinziell zusammengestoppelte Orchester (Theater-, Militär-Musiker und Dilettanten) einiges schuldig, kurz, die Hörer empfingen nur ein Bruchstück, die Wucht der knorrigen Persönlichkeit ihres Organisten, keine Überzeugung oder nachsummende Berauschung.

Als Künstler, am Gehör für die inneren Stimmen doppelt leidend und aus diesem Erfolg zerklüftet und zerspalten hervorgehend, mochte Bruckner überhaupt schon länger in eine Krisenzeit eingetreten sein. So schreibt er im Dezember 1866 an A. M. Storch, der ihn um Überlassung einiger Chöre bat: »Grundsätzlich hier von aller Welt zurückgezogen und auch verlassen staunte und erfreute ich mich im hohen Grade, daß ein Mann in der Ferne meiner noch gedenkt, umso mehr ein Mann, dem ich wie alle Welt hohe Verehrung und Bewunderung mit Recht zollen. Nehmen hochverehrter Herr Kapellmeister für diese mir erwiesene unverdiente Liebe und Auszeichnung hiemit einen tiefsten Dank entgegen!« Er ist also mit Linz und dessen Menschen zerfallen, lebt abgewandt, fühlt sich doch wieder vereinsamt und hofft nicht auf Teilnahme von außen, ist vom bloßen Anfragen Storchs überbewegt. – – Was war geschehen? Was klagte der Riese? Was bedrohte ihn, seine Natur erschütternd …?

Tatsache ist, daß Bruckner erkrankte und eines Nervenleidens wegen im Sommer 1867 die Kaltwasserheilanstalt Kreuzen bei Grein in Oberösterreich aufsuchte. Er blieb dort drei Monate. Es kostete ihn, der nichts besaß, ein schönes Stück Geld, er bat nachher das erzbischöfliche Ordinariat um eine Krankenkostaushilfe, die er auch erhielt. Welcher Art die Krankheit gewesen, welche Ursachen sie gehabt, wissen wir nicht genau. Karl Waldeck, der spätere Nachfolger Bruckners im Organistenamt, gibt Überanstrengung durch kontrapunktisches Improvisieren auf der Orgel an: »Trotz seiner kräftigen Körperbeschaffenheit und seines gesegneten Appetits kam es zu geistigen Störungen und er mußte durch Trübsinn, fixe Ideen u. dgl. viel leiden.« Ja, Bruckner richtete an Waldeck die Gethsemane-Bitte, bei ihm zu bleiben, gleichsam zum Schutz vor den inneren Überfällen, für die die Gewöhnlichen das Lachen der Gewöhnlichen haben mochten – er konnte bei Spaziergängen Halt machen und die Blätter eines Baumes zählen – und der Freund blieb bei ihm bis in die Nacht. Louis wiederum denkt in seiner Biographie an »die excessive und scrupulöse Art der Brucknerschen Religiosität«, vielleicht auch an die »seelischen Folgen einer streng durchgeführten Enthaltsamkeit«, da der Meister, streng florianisch lebend, nunquam mulierem attigit. Er war 43 Jahre alt, eine Natur, in der die Sinnenflamme höher brannte als in Unkünstlern. Und nicht »trotz seiner kräftigen Körperbeschaffenheit«, sondern wegen ihr wurde er leidend.

Vielleicht wirken beide Ursachen und noch eine dritte zusammen. Wir glauben, Bruckner war in die kritischen Jahre des Künstlers eingetreten. Sie sind sonst (wie Robert Nagel ausgeführt hat) zwischen den Dreißig und Vierzig zu suchen; können aber bei einem späten Menschen wie Bruckner um zehn Jahre später angenommen werden. In diesem Alter tritt heftiges Verdunkeltwerden auf: Goethe flieht nach Italien, Grillparzer macht die beklommene Reise zu Goethe, Kleist die in den Tod. Raimund durchlebt ein Jahr tiefster Niedergeschlagenheit, Lenau und Hölderlin zeigen die ersten Erscheinungen des Irrewerdens. Tieck brach fast zusammen, Grabbe ging zugrunde, bei Scheffel entstand Verfolgungswahn. Idylliker wie Keller und Stifter reifen in diesen Jahren, bei stärkeren Naturen nimmt die innere Wendung geradezu sprengende Formen an. Gewöhnlich endet die Krisenzeit aber mit der Geburt eines neuen Werks, das sich unter diesen Schauern ankündigte, sei es die Gefesselte Phantasie, der Fidelio, der Freischütz, die Zauberflöte oder, wie bei Bruckner die f-moll-Messe, die im Jahre darauf, 1868, entstand. Der Künstler will sich von dem Drohen der Vorstellungsmassen, die er selbst schuf, befreien, der Hölle entrinnen, deren Feuer er entzündete, und die ungeheure Belastung von sich schleudernd, findet er sein Gleichgewicht und seinen hellen Himmel in der Arbeit. Bruckner verließ die Heilanstalt Kreuzen als gesund; geheilt aber hat ihn sein neues, großes Werk.

Dann aber trat noch ein Ereignis ein, das, seine alte Linie ins Weite und Hohe fortführend, ferne Ziele näher rückte und zuletzt sein Selbstvertrauen doch befestigen sollte: die Berufung nach Wien. Was er vor einigen Jahren mit schüchterner Gebärde verlangt hatte, den Titel eines Professors, das erfüllt sich nun reicher und rascher als er gedacht. Unsere Wege sind meistens Umwege. Dem Abschnitt »Windhaag-Linz« folgt der Sprung von Linz nach Wien.


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