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In seiner Lehrerstellung verblieb Bruckner bis 1848. In diesem Jahr der ersten bürgerlichen Revolution schlug eine freiheitliche Welle, oder wie man's nennen will, auch nach Oberösterreich. Adalbert Stifter will im Mai »nach dem Geschrei des Tages« Wien verlassen und »die Baumblüten in Oberösterreich« sehen. Bruckner blieb wohl ziemlich unberührt. Aber mittelbar hatte der Umschwung für ihn höchst günstige Folgen. Viele Stellen wurden umbesetzt, die Verwaltung neu organisiert, der alte Stiftsorganist Kattinger, der nicht Chorherr, nur Stiftsbeamter war, kam als kaiserlicher Steuerbeamter nach Kremsmünster, und an seiner Statt wurde, wenn auch nur vorläufig, Anton Bruckner ernannt. Er hatte nun ein Recht zur Orgel, konnte üben und phantasieren, wann es ihn drängte, und tatsächlich hat er nach eigenen Angaben rastlos gearbeitet: Klavier zehn Stunden, Orgel drei Stunden täglich, dazu noch andere Pflichten, der Rest blieb der Erholung. Kattinger, der Ohrenzeuge des Brucknerschen Fleißes während der ersten drei Lehrjahre war, hinterließ seinem immer zeugnisbedürftigen Nachfolger auch ein höchst ehrenhaftes Schriftstück.
Abermals drei Jahre blieb Bruckner »supplirender« Organist, bis er, 1851, »definitiv« wurde und 80 Gulden Jahresgehalt nebst freier Station erhielt. Er war in seinem siebenundzwanzigsten Jahr bereits über Vater und Großvater, die im Schulhaus von Ansfelden endeten, weit hinaus, hatte sich auf der überlieferten Lehrer- wie auf der eigenen Musikerlinie emporgebracht. Dazu kam nun die Linie des Komponisten. Er hörte im Stift viel geistliche und Profanmusik, der Umgang mit der Orgel befruchtete ihn, das Organistenamt veranlaßte ihn, selbst Werke der Kirchenkunst zu schaffen, zumal da er sie leicht einstudieren und aufführen konnte. Die Gelegenheit gesellte sich zum Trieb, und so entstanden seine ersten größeren, durch den Druck bekannt gewordenen Werke, darunter ein Requiem in d-moll für vier Singstimmen, Streichquintett, drei Posaunen und zwei Hörner im Benedictus. Es stammt (wie Gräflinger angibt, der die Handschrift zweier Seiten veröffentlichte), aus den Jahren 1847/49, ist dem Musikdirektor Bayer gewidmet und wurde aufgeführt: in Sankt Florian und Steyr, nach Bruckners Tod, 1896, in Wien.
Inzwischen war der Präparandenkurs irgendwie verbessert und auf zwei Jahre erweitert worden. An Religionslehre, Deutsche Sprache und Schönschreiben schloß sich auch Geographie, Geschichte, Mathematik, Geometrie, Naturgeschichte und Naturlehre. Diesen modernisierten Kurs, der an einer unvollständigen Unterrealschule stattfand, aber die vormärzliche Schnell-Abrichtung jedenfalls überragte, machte Bruckner in Linz, 1850/52, abermals mit. Es wird ihm nicht leicht gefallen sein, das Lehr- und Organistenamt, kurz den Beruf mit neuem Studium zu vereinigen; aber bei der Nähe Sankt Florians läßt sich denken, daß er, zäh und bestrebt, mit dem auch bei Rosegger wiederkehrenden Respekt vor dem Lehrerstand, abermals Wallfahrten ums Wissen unternahm und sich in seinem Alter noch einmal auf die Schulbank setzte. Er nahm sogar bei einem Chorherrn Unterricht im Lateinischen, obwohl er darin schon etwas bewandert war. Er erhielt fast in allen Fächern des Kurses die Note »sehr gut«; im schriftlichen Aufsatz und in der »Technologie«, die ihm wahrscheinlich ferner lag, brachte er es im zweiten Jahr bloß auf »gut«.
Vielleicht sind die Jahre 1850-1855, in leichterem Sinn, Bruckners erste Krisenzeit. Er ahnt seine Richtung, hört aufwärtsrufende Stimmen – aber er ist dann wieder zweifelnd, unschlüssig-verlangend, nicht von seiner künstlerischen Sendung durchdrungen, nicht krank und besessen von Siegesträumen und Eroberungsvisionen wie Berlioz oder Wolf. Er hält Ausschau nach bürgerlichen Posten im Gedanken des christlichen Dienens, als müsse er sich der Gemeinde nützlich machen, für die ein Musiker nur Putz- und Zierstück bildet. Seit dem Jahre 1851, nach Ablegung seines Lehrerkurses, ließ er sich in der Bezirksgerichtskanzlei des Marktes Sankt Florian aushilfsweise verwenden – er tat, vielleicht als Anwärter auf höhere Stellen, freiwillige Schreiberdienste – und obwohl man sich Anton Bruckner kaum als Gerichtsbeamten vorstellen kann, so ist doch für die demütige Seite seiner Natur, für die Art seiner Herkunft bezeichnend, daß er daran dachte. Ja, im Juli 1853 macht er vollen Ernst und richtet »an die hohe k. k. Organisierungs-Commission für das Kronland ob der Enns« die Bitte um »eine Kanzlisten-, oder eine andre, seinen nachgewiesenen Kenntnissen und Fähigkeiten angemessene Dienststelle«, wobei er sich auf seine »Vorliebe für das Kanzleifach« und seine freiwilligen Dienstleistungen beruft. Zum Glück war die hohe Organisierungskommission nicht in der Lage, auf den Bittsteller »Bedacht zu nehmen« und hat ihn damit vielleicht vor dem Los der meisten komponierenden Beamten bewahrt.
Er war neunundzwanzig Jahre alt. Während Frühblüher wie Schubert und Wolf schon den größten Teil der Ernte heimgebracht, ihr Lebenswerk vollendet hatten, ist er – ein Spätblüher – am Anfang, unsicher, zögernd, beklommen. Seiner schweren Natur fällt alles schwerer als anderen, keine freie Beweglichkeit, kein Flug des Temperaments entführt ihn jäh erkannten Zielen zu. Sein Studiengenosse, der spätere Oberlandesgerichtsrat Seiberl in Wels, der ebenfalls Sängerknabe in Florian war, erzählte sogar, Bruckner habe sich mit der Absicht getragen, Jurist zu werden, habe in Linz viel mit Juristen verkehrt, neuerlich Latein studiert und sich wegen seiner Berufswahl verstimmt und verdrossen gezeigt. Er schwankte zwischen Staatsdienst und Musik, juristischer oder geistlicher Laufbahn, ja, noch 1856 mußte Seiberl ihm den Juristen unter Hinweis auf seine musikalische Zukunft ausreden: Beweise eines langen inneren Kampfes, den Bruckner, zerrissen und mit sich uneins, im Stillen ausfocht. Die Veranlagung seines Geistes ist ärmlich, er denkt nur Gegenwarten, baut nicht die stolzen Burgen von Zukunftsplänen, und die barocke Naturgewalt, die schwellend in seinen Tiefen schlummert, steht mit dieser ängstlichen Anlage in Widerspruch. Man ist fast geneigt, sein Zurückweichen in der zweiten Sinfonie schon in seiner Lebensführung vorbereitet zu sehen.
Es dürfte übrigens keinen großen Musiker gegeben haben, der sich so oft und so gern – prüfen ließ wie Anton Bruckner. Sei es, daß er Bauernfreude empfand, den Prüfenden zu überraschen, sei es, daß er erst an sich glaubte, wenn er's schwarz auf weiß hatte, oder stammte es aus seinem Lehrertum: kurz, er suchte geradezu danach, was andere lieber zu vermeiden pflegen, sich auf Herz und Nieren untersuchen zu lassen. So fuhr er um diese Zeit nach Wien und stellte sich dem Theoretiker Simon Sechter, dem Kirchenkomponisten Ignaz Aßmeyer und dem späteren Kirchenkapellmeister Gottfried Preyer vor. Dieses Dreigestirn aus Michael-Haydnschen Zeiten vereinigte ungefähr, was Wien an Glanz und Tüchtigkeit besaß. Ein Zeugnis Aßmeyers bekundet, daß Bruckner, »bey vorgenohmener Prüfung desselben sich als ein gewandter und gründlicher Organist erwiesen habe«. (9. Oktober 1854.) Nun dürfte er, für einige Zeit beruhigt, nach Sankt Florian zurückgekehrt sein.
Kurz darauf ergibt er sich abermals der seltsamen Prüfungswonne, diesmal aber als Lehrer, wie wenn er nun doch wieder nach dieser Schulmeisterseite hin Neigung empfände und auch auf dieser Linie sicher gehen wollte. Am 25. und 26. Januar legte er die sogenannte Hauptlehrerprüfung ab, bestand sie und erlangte damit die Befähigung für das Lehramt an Hauptschulen.
Wir dürfen uns von der Bildungsfülle, die Bruckner durch seine Schulen empfing, keine übertriebenen oder falschgerichteten Vorstellungen machen. Vom liberalen Gesichtspunkt angesehen war die altösterreichische Schule eine Mongolei des Geistes, in der Auswendiglernen als Alpha und Omega galt. Ein sehr wohlwollender Schulmann, Ernst Gnad, erzählt in seinen Denkwürdigkeiten (»Im österr. Italien«, Innsbruck 1904) vom vormärzlichen Gymnasium, daß Religion der gehaßteste und gefürchtetste Gegenstand war, weil das Buch bis auf die »und« auswendig hergesagt werden mußte, denn das Buch enthielt, wie der Professor sagte, das Wort Gottes, woran niemand nach eigenem Gutdünken auch nur eine Silbe ändern dürfe. Genau das gleiche – es liest sich wie eine Wiederholung – erzählt der tschechische Dichter Machar vom Gymnasium des Nachmärz: Auswendiglernen, auswendiglernen, alles wortgetreu, denn – sagte der Professor – »Sie müssen wissen, daß sich in die Glaubenslehre nichts hineindichten läßt, gar nichts!« (»Die Galeeren des Gymnasiums«, Wien 1919.) »Man gab uns Klappen vor die Augen, damit wir die Welt und das Leben – nicht sehen!«
An Bruckner hat diese Schule nun weder viel gesündigt, noch viel entwickelt. Primitiv in seinen Äußerungen, machte er den Eindruck des durch die gewöhnliche Volksschule Gegangenen, keine Ferne oder Tiefe der »Bildung« tat sich auf, ganz ausnahmsweise stellte sich heraus, daß er ein anderes als ein musikalisches Werk gelesen habe – es fesselten ihn höchstens Bücher über Mexiko und Polarfahrten, und er verblüffte seine Umgebung manchmal durch die Frage, was geschehen wäre, wenn Diaz nicht das Kap der guten Hoffnung umschifft hätte. Und doch verloren selbst Leute von hoher Geistigkeit in seiner Gegenwart nie das Gefühl, einem Überlegenen, irgendwie Höhergearteten gegenüberzustehen. Sein Reich war nicht von dieser Welt. Die Natur hatte ihn versagend und gewährend behandelt, als hätte sie für seine Gemüts- und Phantasiekräfte alles aufgebraucht und nichts mehr übrig, als habe sie, die Sprache der Musik verleihend, die andern Sprachen der Seele geraubt. Auch in einer besseren Schule hätte er es kaum »weiter« gebracht. Auswendiglernen mochte er mit freudiger Demut, denn er besaß es schon innen: er glaubte.
Und deshalb erregt es immer Widerspruch, ihn ungebildet nennen zu hören, als sei er ein geistig Unerlöster gewesen. Wenn wir unter Bildung die innere Formung, die seelische Plastik im Sinne Goethes verstehen, dann kann auch ein Unbelesener eine herrliche Bildung besitzen.
Welch prächtiger Mensch, der ohne Bücher wissend ist! Der lesende Liberalismus legte als Abkömmling der Aufklärung Hauptgewicht auf jenes Studium, das seinen Söhnen Oberfläche, Konversation und Prüfungswissen verlieh, nicht »Gestalt«. Ungewollt fahndete jeder darin nach den inneren Sicherheiten, deren der Gläubig-Geformte nicht erst bedurfte. Aber die Richtung von Fühlen und Wollen entscheidet, und ein Mann wie Bruckner brauchte nicht, was die Zerfahrenheit der Zerfahrenen brauchte, er hatte nicht innere Leerheit zu ersticken, vielmehr mit höchster Kraft ein fremdes Füllsel abzuwehren, um sich rein zu halten von schöngeistigen Kompliziertheiten, die sein Wesen verschnörkeln und verbiegen konnten. Und immer besaß er die gespannte Kraft nicht einmal, wie sein gelegentliches oder heimliches Bewundern der Programm-Musik beweist.
Nun wendet sich sein Leben abermals ins Verheißungsvolle, gute Geister begleiten sein Geschick, solange er in der Provinz weilt. Zu Ende dieses Jahres stirbt der Linzer Domorganist Wenzel Pranghofer, und die freie Stelle muß besetzt werden. Da der Kirchendienst nicht unterbrochen werden darf, beruft man einstweilig den Schulgehilfen Bruckner aus Sankt Florian, der als Organist »wirklich ausgezeichnet ist«. Das war schon ein Erfolg. Aber die endgültige Verleihung hing von einem Probespiel ab. Ob Bruckner von dem entscheidenden Tag nur zufällig erfahren habe oder nicht, ob er im Hausrock wie er ging und stand nach Linz gefahren sei oder im Frack des Kandidaten, ist einerlei. Linz – Domorganist, das war für ihn Signal, ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen, und die Konkursprüfung wird ihm keine Sorge gemacht haben. Geprüftwerden reizte seine Kräfte, und überdies hatte er schon einmal mit zwei andern in Sankt Florian selbdritt um die Wette gespielt, daß Haupt- und Seitenorgeln dröhnten. So fuhr er zur Konkursprüfung, die (am 25. Januar 1856) im Dom vor sich ging.
Drei andere Wettbewerber hatten sich angemeldet und harrten der Dinge: ein Privatmusiklehrer Georg Müller aus Linz, dann Ludwig Paupie, Organist an der Stadtpfarrkirche in Wels (ein besonders gewichtiger Nebenbuhler – Edlbacher erwähnt ihn noch 1872 in seiner Landeskunde von Oberösterreich neben Bruckner) und der Linzer Organist Raimund Hain. Das Protokoll, das über diesen Organisten-Krieg aufgenommen wurde und das Gräflinger zum erstenmal veröffentlicht hat, unterdrückt nur schwach die Komik der Vorgänge. Georg Müller scheint sehr schnell versungen und sich gedrückt zu haben, »derselbe hat sich daraufhin unbemerkt freywillig entfernt und der weiteren Prüfung über Choralbegleitung gar nicht unterzogen …« Ludwig Paupie gab das Thema mit der offenherzigen Erklärung zurück, es sei ihm zu schwer, die verlangte Choralbegleitung lehnte er »als ihm ganz fremd« ab und zog auch seiner Wege. Raimund Hain nahm zwar das Paupiesche Thema an, spielte aber, sich in klüglicher Absicht vorüberschlängelnd, etwas ganz anderes, und obwohl seine Choralbearbeitung befriedigte, machte er nicht den Eindruck eines Kirchenlichts.
Anton Bruckner dagegen, der Letzte, wurde der Erste. Er führte das Paupiesche Thema »in einer streng kunstgerechten, vollständigen Fuge« durch und verarbeitete die ihm aufgelegte, schwierige Choralbegleitung »mit so hervorragender Gewandtheit und Vollendung zum herrlichsten Genusse, daß dessen ohnedies in der praktischen Behandlung der Orgel wie nicht minder in seinen bekannten sehr gediegenen Kirchenmusik-Compositionen bewährte Meisterschaft sich neuerlich mit aller Auszeichnung fest erprobte.«
Die vier Prüfungskommissäre, darunter der Altmeister des Männerchors A. M. Storch und der Professor der Generalbaßlehre an der Präparandie J. A. Dürrnberger, entschieden sich, den Geist spürend und lobstrahlend, »in vollster Gerechtigkeit« für Anton Bruckner, und zwar aus der Erwägung »der wichtigen und einflußreichen Stellung eines Domorganisten überhaupt zur Ehre der ersten und obersten Kirche in der ganzen Diöcese« und dann in Erwägung »seines nächsten Berufs als Vorbild und Musterwahrer erhabener kirchlicher Kunstübung für alle Organisten der Diözese …«
So endete die Konkursprüfung mit einem Triumph, der Sankt Florianer Organist wurde über alle im Land gesetzt. Bruckner erhielt die Stelle endgültig und damit ein Einkommen von jährlich 448 Gulden nebst einigen Stiftungsgebühren (72 Fl. 37 Kr.), wozu noch die freie Wohnung kam. In St. Florian insofern besser gestellt, als er freie Station hatte, konnte er immerhin in der Provinzhauptstadt auskömmlich leben.
Der Schulgehilfe von Windhaag, nun Domorganist, durfte dem Lehrerberuf Lebewohl sagen. Ob ungern oder nicht, sei dahingestellt; jedenfalls bekannte Bruckner noch in späteren Jahren mit Vorliebe, daß er aus dem Lehrerstand hervorgegangen sei, und war selbst ein vortrefflicher Lehrer. Auch seine Stellungen in Wien sind der Hauptsache nach Lehrerstellungen, und er behält sie auch als Schaffender, bis er ganz zuletzt erst völlig freier Künstler wurde.