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Eine natürliche Unschuld, man möchte sagen eine Moralität des Instincts, und die ihm gleichgestimmte Fantasie ist himmlisch.
Um die Zeit der Siebziger-, Achtziger- und Anfang der Neunziger Jahre wandelte in Wien durch die innere Stadt öfter eine seltsame Erscheinung: eine breitgedrungene Gestalt, schwarz gekleidet, einen großen Schlapphut auf dem Kopf, die Beine in wunderlichen, weiten Hosen. Im Gewimmel städtischer Eleganz, unter dem Modepublikum des Ringstraßen-Korsos nahm das Gewalthaupt mit den geräumigen Zügen und der eigenwillig gehöckerten Römernase etwas Fernes und Unweltliches an und zwang manchen Vorübergehenden, sich nach dem heroischen Schädel umzusehen, der aus dem bis zum Schlüsselbein hinabschwingenden Hemdkragen hervortrat. Wenn dann seine Mienen aus Versunkenheiten erwachten, zeigten sie Neigung zu gutmütigem Anlächeln, und der Blick verriet das Treuherzig-Kindliche, woran man den Mann aus dem Volk erkennt. Er sprach auch die Mundart des Volks und redete bisweilen einen aus dem Volk an. Jeder aber mochte das Hierher-Verirrte des bedächtig Wandelnden empfinden und ihn nach seinen kurzen knöchelfreien »Pedalhosen« für einen Organisten oder Kirchendiener, Meßner oder »Lehrer vom Land« halten, weshalb er wohl auch über ihn lächelte, wie man sich eben mit Gesellschaftsfremden abfindet. Wäre der gleiche Meßner aber im Purpur und roten Hut des Kardinals in der Galakutsche zur kaiserlichen Burg gefahren oder damals im großen Festzug des Hans Makart als Bauernkönig mitgeritten, niemand hätte sich gewundert.
Und wie sollte man ihn nennen? Alter Herr? – Da stimmte etwas nicht; Herr war zu fein. Mann? – zu grob; das fühlte man schon. Greis? Es fehlte das Gebrechliche, wie es vielleicht aus Bildern des alten Stifter oder Rosegger heute spricht. Er verkroch sich auch nicht wie seinerzeit der schrullige Hofrat Grillparzer in scheue Schweigsamkeit. Überhaupt, war es nicht seltsam, schien es nicht, als sei das Alter die natürliche Gegenwart dieser Erscheinung, als habe sie niemals eine andere gehabt? Sei immer, ob mit wenig oder viel Jahren, so gewesen? Als wäre eben das Alter an ihm nicht, was es an andern ist – Ausgang, Letztes – sondern die seiner innern Wirklichkeit gemäße Daseinsform. Als habe die Natur keine andern Mittel, wenn sie gerade dieses Wesen darstellen wollte?
Dieser Mann war Anton Bruckner, Professor am Konservatorium, Organist an der Hofkapelle und Komponist.
Tatsächlich witterte der städtische Instinkt richtig: der Mann stammte, unverzeihlich genug, aus der Provinz und verleugnete es sein Lebtag nicht. Sein Vaterhaus stand in Ansfelden in Oberösterreich (nach alter Bezeichnung: Viertel ob der Enns); dort wurde er am 4. September 1824 geboren. Der Wiener von 1870 bis 1900, durch wenige Gemeinsamkeiten mit seinen alten »Kronländern« verbunden, wußte von Oberösterreich nicht viel mehr, als daß dort Bauern leben, die man »Mostschädeln« nannte, daß dort alle Sommer das Salzkammergut liegt, wohin der Kaiser alle Sommer ging – Ischl, Gmunden – denn Wien, einen Staat im Staate bildend, dessen geographischer Blick durch den Dünkel begrenzt wurde, verwaltete das übrige Österreich, ohne es zu erleben.
Dem Geburtsland Bruckners aber geht es wie einem, den man erst durch Liebe sehen lernt. Oberösterreich hat vielleicht den hellsten Himmel von allem nördlichen Alpenland. Wenn man von der steirischen Seite über den Pyrrhnpaß aus dem Düster enger, einklemmender, tanniger Täler kommt, staunt man über die aufgehenden Weiten und Breiten eines ganz andern Landschaftsbildes: der Raum wird geräumiger, die Sonne lichter, der Menschenschlag freier und freudiger, das ferne große Wasser, die Donau kündigt sich an … Und in Bruckners Jugend muß namentlich die Ennser und Trauner Gegend mit ihren sauberen, reichen Höfen, vergrauten Edelsitzen, Wildwässern, polternden Sensenhämmern, schweren Fuhrwerken, schleichenden Wildschützen und singenden Sennerinnen eine Provinz der Pracht gewesen sein, in ihrem Abseits ein Einsamkeits-Paradies, das Julius von der Traun (in den »Excursionen eines Österreichers«, 1840-1879) wie eine heimliche Geliebte beschreibt.
Am Ufer der Enns und Steyr bis gegen Kremsmünster und Sankt Florian gehen die Bauernbuben am Sonntag noch mit ihren schwarzen Gewalthüten, um sich im Tragen dieser Ungetüme zu üben – nicht anders wird Anton Bruckner als Bub gegangen sein – und die Städte, das stillheitere Enns, die alte Trutzburg gegen Hunnen und Avaren, das gegiebelte Steyr, ein österreichisches Rothenburg, einst norische Waffenschmiede und später Heimat der Religionsromane Enrica Handel-Mazzettis, die damals noch befestigte Donaustadt Linz, wo Beethoven weilte und Stifter lebte – alles behäbige Nester, die nach überstandenen Geschichtsstürmen sorglos versunken neben der Welt dahindämmern. Eine reizvolle Rückständigkeit schützt die zurückgelassenen Zeichen einer starken Kultur. Kaisertreue und christlicher Glaube blieben die ethischen Merkmale der oberösterreichischen Menschen.
Wahrscheinlich ist die Familie Bruckner ursprünglich in St. Georgen im Attergau – einem noch aus der Agilolfingerzeit stammenden Gau – zu Hause gewesen, wenigstens sind dort schon im 17. Jahrhundert Bruckner (ein Wolfgang, ein Johann) nachweisbar. Bruckners Großvater (gest. 1831) lebte schon als Lehrer in Ansfelden, trieb aber vorher das Bindergewerbe. Dessen Sohn Anton, der Vater des Meisters, folgte als Schullehrer im Amt und starb 1837. Die Großmutter Bruckners, die Wirtstochter Josefa Helm, wurde Frau des Wirts und Amtsverwalters in Neuzeug bei Steyr, der auch Herbergsvater für Messerer und Schleifer war. Anton Bruckner entstammte also nicht unmittelbar dem Bauernstand, vielmehr dem ländlichen Mittelstand, indem seine Vorfahren von der Handwerks- und Wirtschaftsarbeit allmählich zur Kopfarbeit übergingen. Eine sich langsam hebende Linie gehört zur Entwicklung der Familie. Die Handschrift Anton Bruckners zeigte auch die überlieferte schöne, sorgfältige altösterreichische Lehrerhand; und wenn er es selbst bis zum Wiener »Professor« brachte, so war er damit höchster Ausläufer heimatlicher Lehrergeschlechter.
Zeitlich betrachtet, stammt Anton Bruckner aus der Regierungswelt des Kaisers Franz. Es ist die Epoche des tiefsten Vormärzes, greisgewordnes Mittelalter, von Europa ängstlich abgeschlossen, in einer ideenlosen Stille festgehalten. Noch sind die Gewerbe zünftig geordnet, das Wort Freiheit klingt nach Hochverrat, das Leben ist gebunden, auf allen Formen lastet Autorität. Die Kinder sagen zu den Eltern Sie, der geistliche Herr zu den Angehörigen der Gemeinde, ob Lehrer, Organist, Gärtner, Du; das Handküssen ist Verkehrssitte zwischen Nieder und Hoch, und in Nieder und Hoch, in »Herrschaften« und Nichtherrschaften zerfällt die Menschheit Österreichs. Patrimonialgerichte sprechen auf dem Lande das Recht, bis 1848 gibt es noch bäuerliche Hörigkeit, die dem Adel Zehent und Neunten schuldet, Anastasius Grüns und Lenaus Bücher werden im Schmuggel aus Deutschland hereingeschafft. Leise, man möchte sagen, nur in Masken schleicht nach Österreich der Verkehr ein. Als Anton Bruckner fünf Jahre alt war, wurde die erste österreichische Eisenbahn gebaut – die Pferdebahn zwischen Linz und Budweis – und vor den Augen des Knaben versuchten die ersten Dampferchen schüchterne Wikingerfahrten auf der Donau. In Wien beginnt ein Schwarmgeist und Hitzkopf namens Friedrich List die mit der Post fahrende Bevölkerung durch Reden über Dampfbahnen zu beunruhigen. Als die Nordbahn gebaut wurde (1839), äußerte Kaiser Franz seine Zweifel: »Wer wird si' denn aufisetzen? Es is' eh der Stellwagen nach Kagran immer leer …« Und dieser Kaiser Franz herrschte über den ganzen, von Metternich im Kunstschlaf erhaltenen Staat wie eine Art Wiener Hausherr, der im Schlafrock und Käppchen von den Fenstern der Burg herausschaut, die Völker als Mietparteien betrachtend, bald boshaft und kleinlich, bald gnadenreich, ob sie auch nichts anstellen und beschädigen, sondern sich benehmen und Ruh geben.
Erst zu Beginn der Siebziger Jahre kommt in das oberösterreichische Wild-Garten-Idyll Unruhe und Leben: mit gespaltenem Herzen begrüßt Julius von der Traun das »Donnergerassel« der Salzkammergutbahn, die ihm mit »ihrem höllischen Gepfeife« als ganz stillose Neuerung erscheint. Früher hörte man nur das Mittagläuten vom Dorf und das Posthorn auf der Straße … und auf der Chaussee von Aussee fuhr mit seiner Gemahlin und seinem Gefolge der Kaiser Ferdinand von Österreich, im Begriff, von Ischl nach Mariazell zu wallfahrten. »Die schwerfälligen, grünen, goldbeschlagnen Hofkutschen, das reichgefütterte Kammergeschwader, die übermütigen Livréegesichter, alles in so patziger Sicherheit, als wäre die Weltgeschichte ein Märchen, als schliefe das Schicksal einen ewigen Schlaf auf den Zündlöchern der Kanonen …« Aber der Erzähler, der auch Politiker und Abgeordneter war, fügt hinzu: »Das Schicksal ist seitdem wach geworden und begann sofort die Kanonen abzufeuern: noch gellen uns davon die Ohren …« Es ist die 1866 beginnende letzte österreichische Sorge gemeint.
Dies ist wichtig für die geistige Struktur Anton Bruckners. Ein Sohn des Vormärz, ein Enkel der Maria Theresienzeit, ragte er fremd in die aufkommende Betriebszeit des Nachmärz hinein. Er hat wahrscheinlich nicht anders gelebt wie sein Urahn Wolfgang im siebzehnten Jahrhundert: nichts verband ihn innerlich mit der »Gesellschaft« und Weltstadtkultur, in deren kühlen Rationalismus er später geriet. Ein hastig telephonierender, zigarettenrauchender, »stilvoll« eingerichteter Bruckner ist ebenso undenkbar wie ein literarisch-polemischer Bruckner, der sich irgendwie »durchzusetzen«, Einflüsse und Verbindungen zu sammeln, Bedeutungen zu erringen sucht, Prozesse mit Verlegern führt, sich von Zeitungen ausfragen und zum Feuilletonieren gebrauchen läßt. Vormärzluft umweht seine ehrwürdige, aus den Überlieferungen des Mittelalters hervorgewachsene Erscheinung.
Sein Großvater, der etwa 1750 auf die Welt kam, den großen Fritz und die große Kaiserin, die schlesischen Kriege miterlebt hatte, war im gleichen Schulhaus zu Ansfelden tätig gewesen, wo jetzt der kleine Anton ein- und ausging. Schulmeister! Das war damals mehr als der Name sagt. Der »Schulmoasta« lehrte Jung und Alt geigen und blasen, er leitete die Kirchenmusik, neben ihm auf dem Chor sang die Tochter mit, auch die Frau, das Jüngste im Arm, und die Leuteln führten nicht gerade Palestrina auf: man legte Stücken aus Singspielen oder Volksliedern (»Brüderlein fein«) lateinische Texte unter, ja Herbeck erzählt in seinen Gedanken über den Zustand der Kirchenmusik auf dem Lande (1848) von einem beliebten Pastorale, wo die Hirten beim Gloria begannen: »Wos is dös für a Gschroa, dös müassn Engel sein!« Worauf die Engel antworteten: Gloria in excelsis Deo! – – Und der Schulmeister machte den Hans Dampf in allen Gassen: wenn er die Hände auf den Tasten, die Füße auf den Pedalen hatte, blieb noch immer der Mund frei, mit dem er in eine vorgehaltene Trompete zur Ehre Gottes blasen konnte. Kurz, die Schule im Pfarrdorf war das Dorfkonservatorium, wie Gräflinger treffend bemerkt, und der »Schulmoasta« sein Direktor.
In diese Welt eines dürftigen, familiären Musikmachens wurde Anton Bruckner hineingeboren. Er zeigte schon in seinen ersten Jahren Vorliebe für Musik, spielte, ehe er noch schulpflichtig wurde, auf einer Kindergeige, fand dann als Schüler weniger Vergnügen am Unterricht als an der Gesangsstunde und bemächtigte sich mit Ausdauer des väterlichen Spinetts, auf dem er »furchtbar« zu spielen begann. Sein Festtag aber kam, wenn er auf dem Chor, neben andern Buben und Mädeln, dem Vater auf die Hände schauend, Pausen zählend, mitsingen durfte. Er ist nicht in der Theaterwelt aufgewachsen wie Wagner, nicht im Reisewagen wie Mozart, im Konzertsaal wie Liszt, in städtischen Schulzimmern und zwischen Wiener Liedern wie Schubert – in Kirchen ist seine erste Heimat, zwischen Orgeln und Organisten, auf den kleinen Chören oben, von denen man über die Balustrade den Priester am Altar in seinem bunten Meßgewand sieht, während Weihrauchwolken die Sonnenstrahlen beim Hochamt durchwölken, und das Herz stockt, wenn sich alles zur Wandlung beugt. In der ärmlichen Welt der katholischen Dorfkirche beginnt Bruckner, der Musiker. Die Orgel steht am Anfang seiner Laufbahn: ihr Klang ist sein Urerlebnis.
Sein erster Lehrer war naturgemäß sein Vater. Vielleicht erkannte der Vater aber selbst, daß er da nicht ausreiche, oder es spielte ein glücklicher Zufall mit, kurz, mit elf Jahren kam Anton zum »Herrn Vettern«, d. i. zu Johann Weiß, dem Schwager seines Vaters und Schulmeister zu Hörsching bei Linz, in die Lehre. Beim Vetter Weiß, einem tüchtigen Musikus, der selbst komponierte – ein Requiem von ihm gab später der Hörschinger Pfarrer Lanninger heraus – lernte der Musiklehrling die »Grundlagen zur Orgel«, also auch Generalbaß-Spielen, blieb ein Jahr dort und kehrte dann nach Ansfelden zurück. Sein Vater, schon kränkelnd, war um diese Zeit oft dienstunfähig, und Anton mußte, ihn vertretend, an der Orgel in Schule und Amt aushelfen. Seine innere Macht beginnt sich zu regen, es drängt ihn zu Niederschriften, es entsteht ein erstes Werk, »Abendklänge« (ein Stück für Klavier und ein zweites, nicht bezeichnetes Instrument), das »an P. T. Herrn Vater« gewidmet ist, wahrscheinlich im Jahre 1837.
Mit diesem Jahr wendet sich Bruckners Leben in neuer, bedeutender Weise. Es stirbt sein Vater, erst 40 Jahre alt, an Lungensucht und Auszehrung, der Lehrerkrankheit, von der zum Glück auf den Sohn nichts übergegangen ist; seine Mutter entschließt sich darauf, das verödete Schulhaus zu verlassen und in ein andres Dorf, Ebelsberg bei Linz, zu übersiedeln. Er wäre nun allein gestanden, halb verwaist, ein weltunkundiger Bursch vom Land, 13 Jahre alt, weit entfernt von Beethoven, der, mit 19 Jahren der bestellte Vormund seines eignen Vaters, Herrscherpflichten und -rechte ausübte, anders als Mozart, der bis in sein Heiratsalter ein von Vatershand behüteter Haussohn bleibt. Zum Glück nahm sich Bruckners jemand an, abermals der Herr Vetter, und zum Glück kam Weiß auf einen in seiner Natürlichkeit prächtigen Einfall: er brachte Anton als Sängerknaben ins Stift Sankt Florian bei Linz. Das lag ganz auf der Linie des Knaben, führte sie ins Höhere und Aussichtsreichere fort und bedeutete Schutz, Unterkommen und Zukunft, ohne daß der Vetter und sein Schützling es ahnten. Nach diesem Eingriff, der Erfahrung und Entschlußkraft vereinigt, dürfen wir in der Persönlichkeit des Josef Weiß einen unter der Maske des Zufalls auftretenden Bedeutungsmenschen in Bruckners Schicksal sehen.
Am 27. August 1837 trat der junge Ansfeldner Lehrerssohn in die dritte Klasse der Volksschule des Marktes Sankt Florian ein – er besuchte sie vom Stift aus, die Privatklosterschule war damals noch nicht eröffnet – und blieb dort bis zu seinem 17. Lebensjahr. Hier beginnt die eigentliche Brucknerwelt. Er fand die Stätte, die, allen Anlagen entgegenkommend, seiner Natur Entwicklung und Richtung gab. Die Stiftsgemeinde von Sankt Florian wird Bruckners Familie.