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Die Fürstin wiegte sich in Gefühlen des Dankes, der Freiheit, der Sicherheit. Sie baute schöne Entwürfe der Sühne.
Schon sah sie ihr Volk durch ihre warnende Stimme gerettet vor Byzanz, vor dem Verrat des eignen Königs. Schon hörte sie den begeisterten Ruf des tapferen Heeres, der den Feinden Verderben, ihr aber Verzeihung kündete. In solchen Träumen verflogen ihr die Stunden, die Tage und Nächte. Unausgesetzt eilte der Zug vorwärts: drei-, viermal des Tages wurden die Pferde des Wagens und der Reiter gewechselt, so daß sie Meile um Meile wie im Fluge zurücklegten.
Wachsam hütete Dolios die ihm anvertraute Fürstin, mit gezogenem Schwert schützte er den Zugang zum Wagen, während seine Begleiter Speise und Wein aus den Stationen holten. Jene geflügelte Eile und diese treue Wachsamkeit benahmen Amalaswinthen einer Besorgnis, deren sie sich eine Weile nicht hatte erwehren können: ihr war, sie würden verfolgt.
Zweimal, in Perusia und in Clusium, glaubte sie, wie der Wagen hielt, ja in Clusium meinte sie, aus dem niedergelassenen Gitterladen zurückspähend, eine zweite Carruca, ebenfalls von Reitern begleitet, in das Tor der Stadt einbiegen zu sehen.
Aber als sie Dolios davon sprach, jagte der spornstreichs nach dem Tore zurück und kam sogleich mit der Meldung wieder, daß nichts wahrzunehmen sei; auch hatte sie von da ab nichts mehr bemerkt, und die rasende Eile, mit der sie sich dem ersehnten Eiland näherte, ließ sie hoffen, daß ihre Feinde, selbst wenn sie ihre Flucht entdeckt und eine Strecke weit verfolgt haben sollten, alsbald ermüdet zurückgeblieben seien.
Da verdüsterte ein Unfall, unbedeutend an sich, aber unheilkündend durch seine begleitenden Umstände, plötzlich die helle Stimmung der flüchtenden Fürstin.
Es war hinter der kleinen Stadt Martula.
Öde, baumlose Heide dehnte sich unabsehbar nach jeder Richtung: nur Schilf und hohe Sumpfgewächse ragten aus den feuchten Niederungen zu beiden Seiten der römischen Hochstraße und nickten und flüsterten gespenstisch im Nachtwind. Die Straße war hin und wieder mit niedern, von Reben überflochtenen Mauern eingefaßt und, nach altrömischer Sitte, mit Grabmonumenten, die aber oft traurig zerfallen waren und mit ihren auf dem Wege zerstreuten Steintrümmern den Pferden das Fortkommen erschwerten.
Plötzlich hielt der Wagen mit einem heftigen Ruck, und Dolios riß die rechte Tür auf. «Was ist geschehen», rief die Fürstin erschreckt, «sind wir in des Feindes Hand?»
«Nein», sprach Dolios, der, ihr von je als verschlossen und finster bekannt, auf dieser Reise fast unheimlich schweigsam schien, «ein Rad ist gebrochen. Du mußt aussteigen und warten, bis es gebessert.»
Ein heftiger Windstoß löschte in diesem Augenblick seine Fackel, und naßkalter Regen schlug in der Bestürzten Antlitz. «Aussteigen? hier? Und wohin dann? Hier ist nirgend ein Haus, ein Baum, der Schutz böte vor Regen und Sturm. Ich bleibe in dem Wagen.» – «Das Rad muß abgehoben werden. Dort das Grabmal mag dir Schutz gewähren.»
Mit einem Schauer von Furcht gehorchte Amalaswintha und schritt über die Steintrümmer, die ringsum zerstreut lagen, nach der rechten Seite des Weges, wo sie jenseits des Grabens ein hohes Monument aus der Dunkelheit ragen sah. Dolios half ihr über den Graben.
Da schlug von der Straße hinter ihrem Wagen her das Wiehern eines Pferdes an ihr Ohr. Erschrocken blieb sie stehen.
«Es ist unser Nachreiter», sagte Dolios rasch, «der uns den Rücken deckt, komm.»
Und er führte sie durch feuchtes Gras den Hügel heran, auf dem sich das Monument erhob. Oben angelangt setzte sie sich auf die breite Steinplatte eines Sarkophags.
Da war Dolios plötzlich im Dunkel verschwunden, vergebens rief sie ihn zurück. Bald sah sie unten auf der Straße seine Fackel wieder brennen: rot leuchtete sie durch die Nebel der Sümpfe, und der Sturm entführte rasch den Schall der Hammerschläge der Sklaven, die an dem Rade arbeiteten.
So saß die Tochter des großen Theoderich, einsam und todesflüchtig, auf der Heerstraße in unheimlicher Nacht; der Sturm riß an ihrem Mantel und Schleier, der feine kalte Regen durchnäßte sie, in den Zypressen hinter dem Grabmal seufzte melancholisch der Wind, oben am Himmel jagte zerfetztes Gewölk und ließ nur manchmal einen flüchtigen Mondstrahl durch, der die gleich wieder folgende Dunkelheit noch düsterer machte.
Banges Grauen durchschlich fröstelnd ihr Herz.
Allmählich gewöhnte sich ihr Auge an die Dunkelheit, und umhersehend konnte sie die Umrisse der nächsten Dinge deutlicher unterscheiden. Da – ihr Haar sträubte sich vor Entsetzen – da war ihr, als säße dicht hinter ihr auf dem erhöhten Hintereck des Sarkophags eine zweite Gestalt: – ihr eigener Schatten war es nicht –: eine kleinere Gestalt in weitem faltigem Gewand, die Arme auf die Knie, das Haupt in die Hände gestützt und zu ihr herunterstarrend.
Ihr Atem stockte, sie glaubte flüstern zu hören, fieberhaft strengte sie die Sinne an, zu sehen, zu hören: da flüsterte es wieder: «Nein, nein, noch nicht!» So glaubte sie zu hören. Sie richtete sich leise auf, auch die Gestalt schien sich zu regen, es klirrte deutlich wie Stahl auf Stein.
Da schrie die Geängstigte: «Dolios! Licht! Hilfe! Licht!» Und sie wollte den Hügel hinab, aber zitternd versagten die Knie, sie fiel und verletzte die Wange an dem scharfen Gestein.
Da war Dolios mit der Fackel heran, schweigend erhob er die Blutende, er fragte nicht. «Dolios», rief sie, sich fassend, «gib die Leuchte: ich muß sehen, was dort war, was dort ist.»
Sie nahm die Fackel und schritt entschlossen um die Ecke des Sarkophags: Es war nichts zu sehen, aber jetzt, im Glanze der Fackel, erkannte sie, daß das Monument nicht, wie die übrigen, ein altes, daß es sichtlich erst neu errichtet war, so unverwittert war der weiße Marmor, so frisch die schwarzen Buchstaben der Inschrift.
Von jener seltsamen Neugier, die sich mit dem Grauen verbindet, unwiderstehlich fortgerissen, hielt sie die Fackel dicht an den Sockel des Monumentes und las bei flackerndem Licht die Worte: «Ewige Ehre den drei Balten Thulun, Ibba und Pitza. Ewiger Fluch ihren Mördern.»
Mit einem Aufschrei taumelte Amalaswintha zurück.
Dolios führte die Halbohnmächtige zu dem Wagen. Fast bewußtlos legte sie die noch übrigen Stunden des Weges zurück. Sie fühlte sich krank an Leib und Seele. Je näher sie dem Eiland kam, desto lebhafter ward die fieberhafte Freude, mit der sie es ersehnt, verdrängt von einer ahnungsvollen Furcht: mit Bangen sah sie die Sträucher und Bäume des Weges immer rascher an sich vorüberfliegen.
Endlich machten die dampfenden Rosse halt.
Sie senkte die Läden und blickte hinaus: es war die kalte unheimliche Stunde, da das erste Tagesgrauen ankämpft gegen die noch herrschende Nacht; sie waren, so schien es, angelangt am Ufer des Sees: aber von seinen blauen Fluten war nichts zu sehen; ein düsterer grauer Nebel lag undurchdringlich wie die Zukunft vor ihren Augen. Von der Villa, ja von der Insel selbst war nichts zu entdecken. Rechts vom Wagen stand eine niedrige Fischerhütte tief in dem dichten, ragenden Schilf, durch welches wie seufzend der Morgenwind fuhr, daß die schwankenden Häupter sich bogen.
Seltsam: ihr war, als warnten und winkten sie hinweg von dem dahinter verborgenen See.
Dolios war in die Hütte gegangen; er kam jetzt zurück und hob die Fürstin aus dem Wagen, schweigend führte er sie durch den feuchten Wiesengrund und nach dem Schilf zu.
Da lag am Ufer eine schmale Fähre: sie schien mehr im Nebel als im Wasser zu schwimmen.
Am Steuer aber saß in einen grauen zerfetzten Mantel gehüllt ein alter Mann, dem die langen weißen Haare wirr ins Gesicht hingen. Er schien vor sich hin zu träumen mit geschlossenen Augen, die er nicht aufschlug, als die Fürstin in den schwankenden Nachen stieg und sich in der Mitte desselben auf einem Feldstuhl niederließ.
Dolios trat an den Schnabel des Schiffes und ergriff zwei Ruder, die Sklaven blieben bei dem Wagen zurück.
«Dolios», rief Amalaswintha besorgt, «es ist sehr dunkel, wird der Alte steuern können in diesem Nebel, und an keinem Ufer ein Licht?» – «Das Licht würde ihm nichts nützen, Königin, er ist blind.» – «Blind?» rief die Erschrockene, «laß landen! Kehr' um!» – «Ich fahre hier seit zwanzig Jahren», sprach der greise Ferge, «kein Sehender kennt den Weg gleich mir.» – «So bist du blind geboren?»
«Nein, Theoderich der Amaler ließ mich blenden, weil mich Alarich, der Balten-Herzog, des Thulun Bruder, gedungen hätte, ihn zu morden. Ich bin ein Knecht der Balten, war ein Gefolgsmann Alarichs, aber ich war so unschuldig wie mein Herr, Alarich der Verbannte. Fluch über die Amalungen!» rief er mit zornigem Ruck am Steuer.
«Schweig! Alter», sprach Dolios.
«Warum soll ich heute nicht sagen, was ich bei jedem Ruderschlag seit zwanzig Jahren sage? Es ist mein Taktspruch. – Fluch den Amalungen!»
Mit Grauen sah die Flüchtige auf den Alten, der in der Tat mit völliger Sicherheit und pfeilgerade fuhr. Sein weiter Mantel und wirres Haar flogen im Winde: ringsum Nebel und Stille, nur das Ruder hörte man gleichförmig einschlagen, leere Luft und graues Licht auf allen Seiten. Ihr war, als führe sie Charon über den Styx in das graue Reich der Schatten. – Fiebernd hüllte sie sich in ihren faltigen Mantel.
Noch einige Ruderschläge und sie landeten.
Dolios hob die Zitternde heraus: der Alte aber wandte sein Boot schweigend und ruderte so rasch und sicher zurück wie er gekommen. Mit einer Art von Grauen sah ihm Amalaswintha nach, bis er in dem dichten Nebel verschwand.
Da war es ihr als höre sie den Schall von Ruderschlägen eines zweiten Schiffes, die rasch näher und näher drangen. Sie fragte Dolios nach dem Grund dieses Geräusches.
«Ich höre nichts», sagte dieser, «du bist allzu erregt, komm in das Haus.» Sie wankte, auf seinen Arm gestützt, die in den Felsen gehauenen Stufen hinan, die zu der burgähnlichen, hochgetürmten Villa führten. Von dem Garten, der, wie sie sich lebhaft erinnerte, zu beiden Seiten dieses schmalen Weges sich dehnte, waren in dem Nebel kaum die Linien der Baumreihen zu sehen.
Endlich erreichten sie das hohe Portal, eine eherne Tür im Rahmen von schwarzem Marmor. Der Freigelassene pochte mit dem Knauf seines Schwertes: – dumpf dröhnte der Schlag in den gewölbten Hallen nach – die Türe sprang auf.
Amalaswintha gedachte, wie sie einst durch dieses Tor, das die Blumengewinde fast versperrt hatten,. an ihres Gatten Seite eingezogen war, sie gedachte, wie sie die Pförtner, gleichfalls ein jung vermähltes Paar, so freundlich begrüßt.
Der finstersehende Sklave mit wirrem grauem Haar, der jetzt mit Ampel und Schlüsselbund vor ihr stand, war ihr fremd.
«Wo ist Fuscina, des früheren Ostiarius Weib? Ist sie nicht mehr im Hause?» fragte sie.
«Die ist lang ertrunken im See», sagte der Pförtner gleichgültig und schritt mit der Leuchte voran. Schaudernd folgte die Fürstin: sie mußte sich die kalten dunklen Wogen vorstellen, die so unheimlich an den Planken ihrer Fähre geleckt. Sie gingen durch Bogenhöfe und Säulenhallen: – alles leer, wie ausgestorben, die Schritte hallten laut durch die Öde: – die ganze Villa schien ein weites Totengewölbe.
«Das Haus ist unbewohnt? Ich bedarf einer Sklavin.»
«Mein Weib wird dir dienen.»
«Ist sonst niemand in der Villa?»
«Noch ein Sklave. Ein griechischer Arzt.»
«Ein Arzt – ich will ihn –»
Aber in diesem Augenblicke schollen von dem Portal her einige dumpfe Schläge: schwer dröhnten sie durch die leeren Räume. Entsetzt fuhr Amalaswintha zusammen. «Was war das?» fragte sie, Dolios' Arm fassend. Sie hörte die schwere Türe zufallen.
«Es hat nur jemand Einlaß begehrt», sagte der Ostiarius und schloß die Türe des für die Flüchtige bestimmten Gemaches auf Die dumpfe Luft eines lang nicht mehr geöffneten Raumes drang ihr erstickend entgegen: aber mit Rührung erkannte sie die Schildplattbekleidung der Wände. Es war dasselbe Gemach, das sie vor zwanzig Jahren bewohnt, überwältigt von der Erinnerung glitt sie auf den kleinen Lectus, der mit dunklen Polstern belegt war.
Sie verabschiedete die beiden Männer, zog die Vorhänge des Lagers um sich her zu und verfiel bald in einen unruhigen Schlaf.