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Verlockte das die ganze Welt ergreifende Goldfieber viele Deutsche zur Auswandrung nach Amerika, so wurden noch weit mehr durch die geradezu unerträglichen politischen Zustände Deutschlands über das Weltmeer getrieben.
Die von den deutschen Herrschern in den Stunden schwerster Gefahr abgelegten Gelübde, dem Volk eine dem modernen Zeitgeist entsprechende Verfassung und Teilnahme an der Regierung zu gewähren, waren entweder gar nicht oder nur in dürftigster Weise gehalten worden. Nach wie vor huldigten die Fürsten dem Grundsatz, daß nicht die Herrscher der Völker wegen, sondern die Völker der Herrscher wegen da seien. »Wir sind der Staat!« so donnerten sie ihren Untertanen zu. Wer es wagte, die Gültigkeit dieses Satzes anzuzweifeln oder gewaltsam an ihm zu rütteln, wurde als Hochverräter in den Kerker geworfen. Erinnerten die Untertanen ihre Fürsten an die gemachten Zusagen, so empfingen sie die schnöde Antwort, es zieme ihnen nicht, die Herrscher an die Erfüllung ihrer Versprechungen zu mahnen; Pflicht der Untertanen sei es, ruhig abzuwarten.
Aber mit leeren Vertröstungen ließen die immer stärker werdenden freiheitlichen Bestrebungen sich auf die Dauer nicht eindämmen, und je rücksichtsloser die Fürsten in ihren Anstrengungen verfuhren, dieselben zu unterdrücken, um so mehr vertieften sich im Volk der Haß und Abscheu gegen die Gewaltherrscher, von denen manche in das widerwärtige, dem Geist des 19. Jahrhunderts hohnsprechende Treiben ihrer Väter zurückgefallen waren. In Kurhessen führte Wilhelm II. im Verein mit seiner zur Gräfin erhobenen Maitresse eine wahre Lotterwirtschaft; in Braunschweig verpraßte der sogenannte Diamantenherzog mit einer Rotte sittenloser Abenteurer die Einkünfte des Landes in schamlosester Weise. In Bayern beschwor König Ludwig I. durch sein Verhältnis mit der berüchtigten Tänzerin Lola Montez sowie durch sein völlig reaktionäres Regiment den Unmut des Volkes herauf. In Sachsen, Hannover und anderen Staaten hatte man ähnliche Gründe zur Mißstimmung. Um diesen Zündstoff zu entflammen, bedurfte es nur eines Funkens. Da kam im Jahre 1830 die Pariser Julirevolution. Die Kunde ihres Ausbruchs durchzuckte die freiheitsdurstige deutsche Männerwelt gleich einem elektrischen Schlag. In Kassel nahm das Volk eine so drohende Haltung an, daß der Kurfürst mit seiner Maitresse flüchtete. In Braunschweig setzte die Menge das Schloß in Brand. Auch in Sachsen und Hannover kam es zu Unruhen, die den deutschen Machthabern gleich dem Flammenzucken eines heraufziehenden Gewitters erscheinen mußten.
Auf dem berühmten »Hambacher Fest«, das am 27. Mai 1832 auf der bei Neustadt an der Hardt gelegenen Burgruine Hambach abgehalten wurde, erklangen sogar Hochrufe auf »die vereinigten Freistaaten Deutschlands und das konföderierte republikanische Europa«. Man kam sogar einer unter den Burschenschaftlern von Heidelberg, Würzburg, Erlangen und Gießen bestehenden geheimen Verschwörung auf die Spur, die den tollkühnen Plan gefaßt hatte, den in Frankfurt a. M. tagenden Bundesrat aufzuheben, und eine Revolution sowie den Übergang Deutschlands zur republikanischen Regierungsform herbeizuführen.
Alle diese Kundgebungen bewogen die Herrscher zu ungeheuren Anstrengungen, um den drohenden Sturm abzuwehren. Die Reaktion begann mit Hochdruck zu arbeiten. Zahlreiche Burschenschaftler und Teilnehmer am Hambacher Fest wurden zum Tode oder zu lebenslänglicher Festungshaft verurteilt. Alle Beamte und Professoren, die für Herbeiführung gerechter Zustände, für Erlösung von Ausbeutung, Privilegienwirtschaft und Bevormundung, für die politische Einheit und geistige Freiheit des deutschen Volkes eingetreten waren, wurden ihrer Ämter enthoben, manche sogar des Landes verwiesen. Das deutsche Volk erlebte eine wahrhaft jammervolle Zeit. Über allen Gauen lagerte die Stille des Friedhofs. Kein fröhlicher Gesang, kein glückliches Lachen ertönte mehr in den Städten und Dörfern. In den finsteren Mienen der niedergedrückten Untertanen malten sich Haß und Erbittrung gegen die Oberhäupter, die mit harter Faust das Lebensglück tausender nach Freiheit dürstender Menschen vernichteten.
Dem Fluch des Volks Hohn bietend, ergingen sich manche Gewalthaber in groben Rechtsverletzungen. In Hannover wurde der Absolutismus Staatsgesetz; in Nassau nahm Herzog Adolf alles Staatseigentum für sich in Anspruch; in Hessen erwarb der Minister Hassenpflug, das willfährige Werkzeug des Kurfürsten, sich den Beinamen eines »Hessenfluch«.
Die Folgen dieser Vergewaltigung blieben nicht aus. Die Konservativen verwandelten sich in Liberale, die Liberalen in Revolutionäre. Die Luft wurde erstickend schwül. Wer konnte, suchte sich den unerträglichen Verhältnissen durch Auswandrung zu entziehen, die in immer größerem Maßstab vor sich ging. Während des Zeitraums von 1830 bis 1845 verließen alljährlich gegen 40 000 Deutsche ihr Vaterland, um in Amerika oder anderen Ländern ein menschenwürdiges Dasein zu suchen. Die Zahl solcher Auswandrer schwoll in die Hunderttausende, als es den Regierungen gelang, die während der Jahre 1848 und 1849 an vielen Orten ausgebrochenen Volksaufstände niederzuschlagen, worauf die Urheber und Teilnehmer an diesen Erhebungen aufs bitterste verfolgt wurden.
Aus der Tatsache, daß viele hervorragende Gelehrte sich direkt oder indirekt an der Revolution beteiligt hatten, zog man den Schluß, daß die Wissenschaft an der Revolution Anteil habe, was gewiß nicht bestritten werden kann, wenn man unter Wissenschaft Aufklärung versteht. Da die Machthaber durchweg der irrigen Ansicht huldigten, daß ein Volk mit beschränktem Untertanenverstand leichter zu regieren sei als ein gebildetes, so forderten sie die »Umkehr der Wissenschaft«. Dieses Schlagwort ward von den kirchlichen Dunkelmännern aller Bekenntnisse aufgegriffen und eifrig unterstützt. Sich selbst den Regierungen als die allein zuverlässigen Säulen anpreisend, auf welche die Herrscher bauen könnten, halfen sie bei dem traurigen Werk, dem hohen Geistesflug des deutschen Volkes neue Fesseln anzulegen.
Die nun anhebende »Reaktionszeit«, die sich bis in die sechziger Jahre erstreckte, beraubte Deutschland um 1½ Millionen seiner tüchtigsten Bewohner, von denen die meisten sich den Vereinigten Staaten zuwendeten. Unter ihnen befanden sich Männer wie Karl Schurz, Friedrich Hecker, Franz Sigel, Gustav von Struve, Gottfried Th. Kellner, Konrad Krez, Georg F. Seidensticker, Karl Heinzen, Gustav Körner, Hans Kudlich, Ludwig Blenker, August Willich, Karl Eberhard Salomo, Max Weber, Julius Stahel, Hermann Raster und unzählige andere, die bereits in Deutschland Führer des Volks gewesen, oder denen später in der Neuen Welt angesehene Rollen vorbehalten waren.
Für die Vereinigten Staaten wurde der ungeheure Verlust, der dem deutschen Volk aus dieser Massenauswandrung erwuchs, ein außerordentlicher Gewinn. Bisher hatte die deutsche Einwandrung aus Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbtreibenden bestanden. Jetzt aber strömte eine mächtige Flutwelle deutscher Geistesarbeit ins Land. Unter ihnen befanden sich Politiker und Staatsbeamte, Professoren, Doktoren und Studenten jeder Wissenschaft, Künstler, Schriftsteller und Journalisten, Prediger und Lehrer, Landwirte und Forstleute, die als politische Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten ein Asyl suchten und mit warmer Teilnahme willkommen geheißen wurden.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die ungeheure Summe von Wissen, Begeisterung und Idealismus, von politischer und geistiger Emanzipation, die in diesen Männern, den sogenannten »Achtundvierzigern«, Die Bezeichnung »Achtundvierziger« bedarf einer Erklärung. Man begreift unter dieser Benennung alle Deutsche, die an den freiheitlichen und revolutionären Bewegungen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilnahmen. Da jene Bewegungen im Jahre 1848 ihren Höhepunkt erreichten, so wurde diese Jahreszahl gewählt, um mit ihr alle Träger des revolutionären Gedankens zu bezeichnen. Die Zeit der Einwandrung solcher politischer Flüchtlinge in Amerika hat mit jener Jahreszahl nichts zu tun. Viele der sogenannten »Achtundvierziger« kamen bereits in den dreissiger und zu Anfang der vierziger Jahre, die meisten erschienen erst in den Jahren 1849 bis 1851. aufgespeichert lag, einen gewaltigen Einfluß, insbesondere auf das Deutsch-Amerikanertum ausüben mußte. Bevor derselbe in wohltätiger Weise sich bemerkbar machte, verging allerdings eine gewisse Zeit, denn den Ankömmlingen fiel es keineswegs leicht, sich in die ihnen völlig fremden Verhältnisse, in die sie so urplötzlich vom Schicksal hereingeschleudert wurden, einzuleben. Wohl waren die deutschen Flüchtlinge und die Amerikaner Träger eines und desselben Freiheitsgedankens. Aber es bestanden in anderen Beziehungen zwischen ihnen doch gewaltige Unterschiede, die, bevor sie sich ausglichen, manche Reibungen herbeiführten. Unter den deutschen Achtundvierzigern befanden sich viele radikale Denker, die für gänzliche Umgestaltung aller sozialen Verhältnisse schwärmten, mit allen Behörden, Kirchen und Predigern am liebsten reine Bahn gemacht hätten und sich niemals scheuten, diesen Wünschen durch Wort oder Schrift Ausdruck zu verleihen. Das Amerikanertum hingegen sowie auch diejenigen Deutschamerikaner, die den zahlreichen Sektenniederlassungen entstammten, waren von religiösem Leben tief durchdrungen. Sie hatten sich im Lauf der Jahrhunderte daran gewöhnt, die Kirche als den Mittelpunkt des geselligen und geistigen Lebens zu betrachten, wobei sie selbst in Sitten und Anschauungen viel Förmliches und Puritanisches annahmen. Auch die Freierdenkenden unter ihnen suchten, teils aus gesellschaftlichen, teils aus geschäftlichen oder politischen Rücksichten, den äußern Schein möglichst zu wahren. Das Förmliche und Zeremoniöse prägte sich natürlich auch in der Tracht und im Benehmen dieser Amerikaner aus. Sie werden uns von einem der Achtundvierziger folgendermaßen beschrieben: »Hohe Zylinderhüte, etwas nach hinten gerückt, bedeckten den Kopf, während unbändig steife Vatermörder das glattrasierte, völlig bartlose Gesicht umrahmten und Hals und Kopf wie in einer Zange hielten. Ein Frack oder Schwalbenschwanz machte das Bild verkörperter Steifheit fertig. Frack und Zylinder legten viele selbst beim Melken, Füttern, Pflanzen und Säen nicht ab.«
Diesen steifleinenen Persönlichkeiten erschienen, wie Andrew D. White köstlich schildert, die in Joppen, Garibaldihemden und Schlapphüten einhermarschierenden Deutschen als rätselhafte, absonderliche Wesen. »Sie trugen Bärte, während andere Leute glattrasiert waren; sie tranken Bier, während andere Leute Whisky genossen; sie rauchten aus bemalten Porzellanpfeifenköpfen, während andere Leute Tonpfeifen qualmten; sie sprachen aus freier Kehle, während andere Leute durch die Nase sprachen. Den neuen Ankömmlingen war außerdem das Drama, mit oder ohne Musik, ein Bedürfnis; der damalige Amerikaner und Christenmensch blickte hingegen mit einem gewissen Mißtrauen und Schrecken auf alles, was Theater hieß. Ferner fanden die Neulinge am Tanz Gefallen, während in den Puritanerkreisen das Tanzen als ›Untergrabung aller Gottgefälligkeit‹ verpönt war. Die Achtundvierziger brachten auch beharrlich Bacchus und Gambrinus milde Opfer, mit dem Rebenblut vom Rhein und von der Mosel und mit dem Gerstensaft von München, Pilsen oder Würzburg, wobei sie unerschütterlich nüchternen Sinnes blieben, während bei ihren auf der Scholle geborenen Mitbürgern selbst nach der Abstinenzperiode der vierziger Jahre, als die ganze Menschheit angeblich nur Wasser trank, Völlerei sehr häufig war. An Sonntagen, nachmittags nach der Kirche, ergingen sich wieder dieselben Deutschen mit Weib und Kind unter Gottes freiem Himmel, und störten sich nicht im mindesten daran, daß ihre amerikanischen Mitbürger es für eine heilige Pflicht erachteten, sich innerhalb ihrer vier Wände zu langweilen und nach dem Montag zu sehnen.«
Da viele dieser »Achtundvierziger« Freidenker waren, so bildete sich bei den Amerikanern die Überzeugung, daß durch den Fortzug dieser an gar nichts glaubenden »infidels« oder »Heiden« das alte Vaterland nur gewonnen habe.
Auch in den politischen Ansichten traten schroffe Gegensätze zutage. Unter den Achtundvierzigern gab es manche Feuerköpfe, die sich in einem Zustand hochgradiger revolutionärer Erregtheit befanden und mit gänzlich unklaren sozialistischen und kommunistischen Ideen trugen. Widerspruch ertrugen sie nicht, nur ihre Ansichten sollten allein maßgebend sein. Nicht gering war die Zahl derer, die eines Sinnes mit dem Dr. Sorge aus Hoboken waren, der in einer öffentlichen Versammlung feierlich erklärte: »Meine Herren, mein Standpunkt ist einfach der: Ich bin gegen alles Bestehende!« Manche dieser Radikalen, deren fähigster Vertreter Karl Heinzen war, gingen so weit, die Umänderung der Bundesverfassung und die Abschaffung des Präsidentenamts zu verlangen, ohne sich recht darüber klar zu sein, was an deren Stelle treten solle. Auch eine »Republik der Arbeiter«, eine Vereinigung aller arbeitenden Klassen zum Zweck ihrer Freimachung vom Kapital, sowie manche andere Luftgebilde wurden eifrig befürwortet. Mit der geschichtlichen und kulturellen Entwicklung der Vereinigten Staaten, mit der Gesinnung ihrer Bewohner wenig oder gar nicht bekannt, trotzdem sich zu unbarmherzigen Kritikern der Verhältnisse des Landes aufwerfend, waren sie auch mit der politischen Stellung des Deutschtums in Amerika durchaus nicht zufrieden. Demselben, so meinten sie, käme die Führung zu. Es schwebte dem Geist vieler dieser Achtundvierziger noch zu mächtig das Traumbild vor, das sie in Deutschland nicht hatten verwirklichen können: das Bild eines deutschen Freistaates auf dem Boden jener Grundsätze, die zwar noch nicht erprobt waren, für die sie aber gekämpft und gelitten, um derentwillen sie die Heimat aufgegeben hatten. Diese Träume sollten nun hier verwirklicht werden. Zu diesem Zweck wurde die Vereinigung aller in Nordamerika lebenden Deutschen, die sich bisher ihrer Überzeugung nach dieser oder jener politischen Partei angeschlossen hatten, zu einer rein deutschen Partei angestrebt, die den Namen »Union der freien Deutschen« tragen und natürlich unter der Führung der radikalen Achtundvierziger stehen sollte. Die im Jahre 1854 in Louisville, Kentucky, veröffentlichte Plattform dieser Feuerköpfe erregte nicht bloß ungeheures Aufsehen, sondern durch ihre radikalen, über das Verständnis jener Zeit weit hinausgehenden Forderungen auch große Erbittrung. Manche Achtundvierziger befürworteten auch die Gründung rein deutscher Staaten, wobei sie nicht bedachten, daß sie damit den Widerspruch aller derjenigen hervorrufen mußten, die in solchen Sonderbestrebungen eine schwere Gefahr für den noch im Aufbau begriffenen Staatenbund erblickten. Wollte man, so betonten die Träger des amerikanischen Einheitsgedankens mit Recht, den Angehörigen eines bestimmten Volkes die Gründung besonderer Staaten innerhalb der Union zugestehen, so würden über kurz oder lang auch die Abkömmlinge anderer Völkerschaften mit ähnlichen Sonderbestrebungen hervortreten. Neben dem von den Deutschen geplanten »Neu-Deutschland« würden bald ein »Neu-Irland«, ein »Neu-Skandinavien«, ein »Neu-Polen«, ein »Neu-Slawonien«, ein »Neu-Italien«, ein »Neu-Judäa«, ja wohl gar ein »Neu-Nigritien« oder »Neu-Afrika« entstehen, was unfehlbar den Zusammenstoß der so verschiedenen Interessen all dieser Völkerelemente und schließlich den Zusammenbruch des ganzen Staatenbundes herbeiführen müsse.
Aus diesen gewichtigen Gründen stemmten sich nicht nur die Amerikaner, sondern auch die alteingesessenen Deutschamerikaner den radikalen Achtundvierzigern entgegen. Solange diese sich damit begnügten, ihre modernen Weltverbesserungsideen in den von ihnen gegründeten Zeitungen zum Ausdruck zu bringen, ließ man sie ruhig gewähren. Als sie aber begannen, »Revolutionsvereine« zu gründen und Geld und Waffen zu sammeln, um mit dem allgemeinen Umkrempeln des politischen und sozialen Lebens zu beginnen, da spitzten die Dinge sich zu dem sogenannten »Krieg der Grauen und Grünen« zu, indem die vor 1848 eingewanderten, mit den Landesverhältnissen vertrauten Deutschen, die »Grauen«, es mit den Amerikanern hielten, um gemeinschaftlich den »Grünen«, d. h. den radikalen Achtundvierzigern, entgegenzutreten. Unvorsichtige Handlungen der »Grünen«, wie z. B. der Erlaß des berühmten »Louisviller Programms«, steigerten die Erregung der »Grauen« und Amerikaner zur Erbitterung. Blinder Nativismus flackerte überall empor, schließlich kam es an mehreren Orten, besonders in Cincinnati und Louisville, zu blutigen Zusammenstößen, in denen zahlreiche Menschen ihr Leben verloren.
Erst allmählich legten sich die hochgehenden Wogen wieder. Unter den Radikalen trat Ernüchterung ein, die um so heilsamer wirkte, als sie erkannten, daß sie über die Art und den Umfang ihrer Pläne sich selbst im größten Zwiespalt befanden. Mit der Zeit, mit dem Einleben in die neuen Verhältnisse sahen auch viele ein, daß die von den »Grauen« gewandelten Wege doch die rechten seien. Sie bemerkten ferner, daß manche Einrichtungen, die ihnen anfänglich widerstrebten, berechtigt waren und ihrer natürlichen Entwicklung gemäß nicht anders sein konnten. Sie lernten auch die guten Seiten des amerikanischen Lebens würdigen und schätzen und reihten sich damit mehr und mehr als nutzbringende Glieder der Allgemeinheit ein, um von nun ab zur Hebung des Deutschamerikanertums und damit auch zur Hebung der gesamten Bevölkerung der Vereinigten Staaten in großartiger Weise beizutragen. Sie gründeten zahlreiche Zeitungen aller Art, riefen gemeinnützige Vereine ins Leben, bekleideten Lehrstellen an Schulen und Universitäten, wurden öffentliche Beamte, trieben Literatur, Künste und Wissenschaften und wirkten durch diese Betätigung ihres reichen Wissens so befruchtend auf das einseitig gebliebene Volksleben, daß dieses ein ganz anderes, freieres und fortschrittlicheres Gepräge erhielt.
Auch in den politischen Ansichten der meisten Achtundvierziger vollzog sich wohltuender Wandel. Mit der Klärung und dem Reiferwerden ihres Urteils wandten sie sich mehr und mehr von den fanatischen Verfechtern der Arbeiter-Republiken, kommunistischen Niederlassungen, sozialistischen Idealstaaten und ähnlichen Phantasiebildern ab. Sie, die auch in Deutschland die Einigung des Vaterlandes angestrebt hatten, lernten erkennen, daß die Wohlfahrt und Zukunft des ihnen zur neuen Heimat gewordenen Landes nicht etwa durch Sonderbestrebungen, sondern nur durch vollste Beherzigung des amerikanischen Wahlspruchs: »E pluribus unum« (»Aus Vielem Eins«) gefördert und gesichert werden könne. Wie tief diese Überzeugung in den Herzen der Achtundvierziger allmählich Wurzeln schlug, zeigte sich bereits in den Jahren 1860 und 1861, als die südlichen Staaten sich vom Staatenbund trennen wollten. In diesem kritischen Augenblick sowie in dem die Feuerprobe des Staatenbundes bildenden Bürgerkrieg befanden die Achtundvierziger sich mit wenigen Ausnahmen in den Reihen jener, die mit Schwert und Feder am begeistertsten für die Aufrechterhaltung der Union stritten.
Daß so die Achtundvierziger ein hochbedeutsamer Faktor im amerikanischen Volksleben wurden, ist von vielen mit der Geschichte ihres Landes vertrauten Amerikanern bereitwillig anerkannt worden. »Was dieses Land den Achtundvierzigern verdankt«, so schrieb Herbert N. Casson im Januarheft 1906 von Munsey's Magazine, »kann niemals in einem Aufsatz oder Buch erzählt werden. Als sie in dieses Land flohen, hatten sie kaum die Absicht, für immer zu bleiben. Es war ihr Vorsatz, eines Tages mit einer Armee von 100 000 gutgeschulter Soldaten nach Deutschland zurückzukehren und alle Könige, Priester und Geldsäcke zu verjagen. Zum Glück für dieses Land kehrten jene Washingtons und Franklins einer gescheiterten Revolution nicht zurück. Nach einem Dutzend von Jahren jugendlichen Überschäumens ließen sie sich ruhig nieder und wurden die besten amerikanischen Bürger.«