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»Wohl dürfen wir vom Zauber singen
Des Landes, dem wir uns vermählt,
Von seinem Lächeln, seiner Fülle
Und seiner ganzen Blumenwelt.
Ruft alles dieß uns nicht in Stunden
Der Wonne zu verlockend süß:
Trägt auch dein Herz der Sünde Wunden,
Hast du doch hier ein Paradies.«
Simms.
Der folgende Tag war ein Sonntag. Ich stand erst um neun Uhr auf. Als ich die Vorhänge zurückzog und die Läden meines Fensters öffnete, um auf den Rasen, auf die Felder jenseits und in's blaue Himmelsgewölbe hinauszublicken, kam es mir vor, als ob nie ein lieblicherer Tag – ein Tag, der mehr im Einklang mit dem ruhigen Charakter der ganzen Landschaft stand, über der Gegend gelagert hätte. Ich warf das Fenster auf und athmete in vollen Zügen die Morgenluft, erfüllt von den balsamischen Gerüchen süß duftender Blumen und Sträucher. Eine Sabbathruhe schien über Menschen und Thier zu liegen. Die Bienen und Colibris summten um die Blumen her, als seien sie auch in ihrem gewöhnlichen Treiben sich der Heiligkeit des Tages bewußt. Auf dem Land kann wohl Niemand gegen den Unterschied unempfänglich sein, der zwischen einem Sonntag und jedem andern Tag in der Woche stattfindet. Ohne Zweifel besteht er zwar meist in der einfachen Folge der Enthaltsamkeit vom Geschäft; aber abgesehen von der historischen Bedeutung des Festtags sind die gewöhnlichen Gebräuche, die ihn begleiten, und die heilige Ruhe, die ringsum zu herrschen scheint, so augenfällig und eindrucksvoll, daß mir schon als blos poetische Pause in den rührigen Getümmel der Welt ein milder Juni-Sonntag stets wie ein entzückender Ruhepunkt vorkömmt. So war es nun mit jenem Morgen nach der so ereignißreichen Nacht, er besaß ganz die Eigenschaft, die Gemüther zu beschwichtigen, Besorgnisse zu bannen und der nüchternen Erwägung Raum zu geben. Allerdings hatten wir die rauchenden Ruinen der Scheune, das schwarze Denkmal einer boshaften That vor uns; aber die Stimmung, in welcher sie begangen wurde, schien entwichen zu sein, und in jeder andern Beziehung hatten sich nah und fern die Farmen von Ravensnest nie in einem Kolorit gezeigt, das so sehr im Einklang gestanden hätte mit dem wohlwollenden Lächeln einer von Fülle überquellenden Natur. Während ich die Gegend betrachtete, schienen mit einemmal alle früheren Empfindungen wieder aufzuleben, und ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß ein tiefes Dankgefühl gegen Gott in mir übermächtig wurde, wenn ich bedachte, daß ich seiner heiligen Vorsehung das Glück verdankte, als der Erbe eines solchen Besitzthums geboren zu werden, da sie mich ja eben so gut unter die Leibeigenen und Knechte anderer Länder hätte werfen können.
Nachdem ich eine Minute am Fenster gestanden und mich des lieblichen Anblicks erfreut hatte, trat ich zurück, weil plötzlich das peinliche Bewußtsein in mir auftauchte, wie weit sich die gefährliche Kombination verbreitet hatte, die mich meiner Anrechte an diese Ländereien zu berauben gedachte. Amerika schien mir nicht länger Amerika zu sein. An die Stelle der alten Achtung vor dem Gesetz, der raschen Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht und der nüchternen, verständigen Freiheit, welche eben so gut sich gegen die Ungerechtigkeit der Gewalt sträubte, als sie die Uebertreibungen der Volksverblendung umging, war die Habgier des Räubers getreten, die noch furchtbarer wurde durch die hinterlistige Weise, mit welcher sie in die Triebräder der politischen Maschinerie eingriff und von den Elenden bemäntelt wurde, die mit Gewalt und Ansehen begabt waren – von Menschen, die den Demagogen Alles in die Hände spielen, um sich für die Fortdauer ihres eigenen Einflusses eine Majorität zu sichern. War denn der Staat wirklich so verderbt, daß er seine Beihilfe bot zu Verfolgung so heilloser Zwecke, als die waren, welche die Antirenters so offen zur Schau trugen?
Gewiß nicht. Vier unter Fünf, wo nicht mehr fühlen recht wohl, daß ein Gelingen dieser schnöden Umtriebe den Bestand des ganzen Gemeinwesens gefährden müßte, und würden morgen Herz und Hand erheben, um den Uebelstand ohne Erbarmen gänzlich auszutilgen; aber sie haben sich selbst zu Sklaven der Lampe gemacht, sind in die Reihen der Partei getreten und wagen es nicht, sich ihren Führern zu widersetzen, welche, gleich Napoleon, über die Massen gebieten, um ihre Privatzwecke zu fördern, obschon sie stets thun, als huldigten sie blos den Prinzipien der Freiheit! Dieß ist die Geschichte unseres ganzen Geschlechts!
Während des Frühstücks herrschte eine auffallende Ruhe unter der Familie. Was meine Großmutter betraf, so kannte ich ihren durch frühe Erfahrung gereiften Geist zu gut, so daß es mich nicht Wunder nahm, sie gefaßt und besonnen zu finden; aber diese Eigenschaft schien sie auch ihren vier jüngeren Gefährtinnen mitgetheilt zu haben. Patt lachte zwar und ließ ihrer natürlichen Heiterkeit den Zügel, als ob gar nichts vorgefallen sei, und die übrigen Mündel meines Onkels behaupteten eine würdevolle Gelassenheit, der man durchaus keine Furcht anmerkte; Mary Warren aber überraschte mich durch ihre Miene und ihre Haltung. Sie setzte sich auf ihren gewöhnlichen Platz am Tisch und nahm sich wo möglich als die mädchenhafteste, sanfteste und schüchternste von allen ihren Freundinnen aus. Wer hätte auch von der erröthenden, bescheidenen, hübschen Tochter des Rectors glauben sollen, sie könne das gewandte, entschiedene und klar blickende Mädchen sein, das mir in der letzten Nacht so wesentliche Dienste geleistet hatte – das Mädchen, deren Verstand und Ruhe wir Alle das Dach über unsern Häupten, ja, Einige von uns höchst wahrscheinlich das Leben verdankten!
Aber trotz der anscheinenden Unbefangenheit wurde doch das Frühstück schweigsam und gedankenvoll eingenommen. Die Unterhaltung beschränkte sich hauptsächlich auf meinen Onkel und meine Großmutter, die sich unter Anderem auch über die Art, wie man mit den Gefangenen verfahren sollte, besprachen. In der nächsten Umgebung des Nests befanden sich nur öffentliche Beamte, die sich bei dem Antirentismus betheiligt hatten, und wenn man Seneka und seinen Gefährten einem derartigen Friedensrichter überantworten wollte, so war dieß gerade so viel, als ob man ihn ohne weiteres frei ließ. Dem Namen nach wäre allenfalls eine Bürgschaft aufgelegt worden; oder im Falle wirklicher Verhaftung hätte höchst wahrscheinlich der betreffende Constabel eine gewaltsame Befreiung zugelassen, wenn es je als nöthig erachtet wurde, eine derartige Schaustellung von Pflichterfüllung zu geben. Mein Onkel entschied sich daher für nachstehenden Plan. Er hatte die beiden Mordbrenner nach dem alten Farmhause bringen lassen, unter welchem sich ein vollkommen trockener, leerer Keller befand. Dieser bot die Sicherheit eines Kerkers, ohne daß ihm der gewöhnliche Mangel, nämlich Dunkelheit und Nässe, anklebte. Die rothen Häuptlinge hatten das Amt der Bewachung übernommen, und einer derselben stand als Posten an der Thüre, während ein anderer das Fenster, durch welches Licht einfiel, beaufsichtigte, obschon dieses kaum groß genug war, um einen menschlichen Körper sich durchdrängen zu lassen. Der Dolmetscher hatte von dem Agenten die Weisung erhalten, den christlichen Sabbath zu achten; da also für den Tag kein Manöver in Aussicht stand, so paßte der vorerwähnte Dienst vollkommen gut zu dem Müssiggang, in welchem Indianer sich an Rasttagen so gerne zu ergehen pflegen. Man hatte natürlich nicht vergessen, die Gefangenen mit Lebensmitteln und Wasser zu versehen; dieß schien übrigens meinem Onkel Ro zu genügen, da er im Sinn hatte, am Montag Morgen die Verbrecher zu einem entfernt wohnenden County-Richter bringen zu lassen. Von der Ruhestörung der vergangen Nacht ließ sich nirgends auch nur eine Spur blicken, und da das Nest ziemlich frei dastand, so brauchten wir uns nicht vor einer Ueberraschung zu fürchten.
Während wir noch beim Frühstück saßen, tönte die Glocke von St. Andrews klagend durch die Luft zu uns herüber – eine Aufgebot, daß wir uns für den Gottesdienst vorbereiten sollten. Die Kirche war nur etwa zweitausend Schritte entfernt, und die jüngeren Damen drückten den Wunsch aus, zu Fuß dahin zu gehen. Meine Großmutter bediente sich daher, nur von ihrem Sohne begleitet, des Wagens, während das junge Volk etwa eine halbe Stunde vor dem zweiten Zeichen insgesammt zu Fuß nach dem Gotteshause aufbrach. Wenn ich den Zustand des Landes und die Geschichte der vergangenen Nacht in's Auge faßte, mußte ich mich über meine eigene Gleichgültigkeit bei diesem Anlaß, noch mehr aber über die Ruhe meiner lieblichen Begleiterinnen wundern, und ich säumte nicht, meinen Gedanken Worte zu leihen.
»Man muß zugeben, unser Amerika ist doch ein merkwürdiges Land,« sagte ich, als wir über den Rasen gingen, um den Fußpfad zu erreichen, der uns über schöne Waidegründe bis an die Kirchenthüre führte, ohne daß wir, mit Ausnahme einer einzigen Kreuzung die Landstraße zu betreten brauchten. »Die ganze Umgegend ist so ruhig, wie wenn sie nie durch ein Verbrechen befleckt worden wäre, und doch sind es kaum zwölf Stunden, als noch Hunderte von unseren Nachbarn auf Mordbrennerei, Aufruhr und vielleicht Mord sannen. Der Wechsel ist in der That wunderbar.«
»Du mußt nicht vergessen, Hugh, daß es Sonntag ist,« versetzte Patt. »Den ganzen Sommer hindurch, so oft der Sonntag kam, hatten wir nichts von Ruhestörern zu befürchten; denn die Bewohner dieser Gegend sind viel zu religiös, als daß sie daran denken könnten, durch Gewaltthat und bewaffnete Banden den Sabbath zu entweihen. Die Antirenters würden, wenn sie ein anderes Benehmen einschlügen, weit mehr verlieren, als gewinnen.«
»Ich könnte dieß wohl glauben, denn man findet unter uns häufig, daß Tausende an dergleichen Aeußerlichkeiten halten, nachdem das fromme Gefühl, welches ursprünglich Anlaß dazu gegeben hat, längst erloschen ist. Etwas Aehnliches bemerkt man auch in anderen Ländern und selbst unter den höheren einsichtsvolleren Klassen; denn nicht selten bezeugt man äußerlich dem Altar und dem Ritus der Religion die größte Achtung, obschon die Menschen selbst stündlich sich gegen die ersten und einfachsten Gebote der Gesetzes-Tafeln vergehen. Dieser gleißnerische Schein findet sich daher nicht blos bei uns, sondern in einer oder der andern Weise überall, wo es Menschen gibt.«
Jedenfalls wurde diese zweideutige Frömmigkeit an jenem Tage zu Ravensnest in hohem Grade kund gegeben. Dieselben Männer, die sich in habsüchtiger Gier fast verzehrten, kamen nach der Kirche und machten den Gottesdienst in so viel scheinbarer Andacht mit, als ob sie sich keines Arges bewußt seien. Mit einem Worte, es schien im Lande ein allgemeiner Waffenstillstand zu herrschen, obgleich Viele zugegen sein mußten, welche die Schmach der letzten Nacht bitter empfanden. Gleichwohl konnte ich in den Gesichtern der meisten alten Pächter weder ein verändertes Aussehen, noch kalte Blicke bemerken; sie zeigten ganz die alte Freundlichkeit, welche so lange zwischen uns bestanden hatte. Die Lösung dieses Räthsels wahr sehr einfach. Die Demagogen hatten den Geist – nicht der Institutionen, sondern der Habsucht in ihrem Innern angefacht, und so lange diese schlimme Tendenz vorherrschte, war nur wenig Raum für bessere Gefühle vorhanden.
»Ich werde jetzt das Dach meines Kirchenstuhls wieder sehen,« rief ich, als wir auf unserem Weg nach dem Gotteshaus das letzte Feld betraten. »Dieser harmlose Stein des Anstoßes ist mir fast ganz in Vergessenheit gekommen, bis mich mein Onkel wieder daran erinnerte, indem er mir mittheilte, Jack Dunning, wie er seinen Freund und Rathgeber nannte, habe ihm geschrieben, daß es herunter müsse.«
»Ich bin vollkommen mit Mr. Dunning einverstanden,« ergriff Martha rasch das Wort, »und wünsche von Herzen, Hugh, du möchtest Befehl ertheilen, daß dieses häßlich aussehende Ding schon in dieser Woche abgeschafft werde.«
»Wozu diese Eile, meine liebe Patt? Das häßliche Ding ist da gewesen, seit die Kirche gebaut wurde, also schon an die sechzig Jahre – und meines Wissens hat es Niemand geschadet.«
»Hast du an seiner Häßlichkeit nicht genug? Es entstellt die Kirche, und außerdem bin ich der Ansicht, daß derartige Auszeichnungen nicht für das Haus Gottes passen. Ich weiß, dieß ist auch stets die Meinung unserer Großmutter gewesen; aber als sie fand, welchen Werth ihr Schwiegervater und ihr Gatte auf solchen Zierrath legten, so fügte sie sich während ihrer Lebzeiten drein.«
»Was sagt Ihrzu alledem, Miß Warren?« fragte ich meine Begleiterin, denn ein geheimer Zug ließ mich nicht von ihrer Seite weichen. »Seid Ihr für das Dach oder heißt es bei Euch gleichfalls, nieder damit?«
»Nieder damit,« antwortete Mary mit Festigkeit. »Ich theile vollkommen die Ansicht der Mrs. Littlepage: Kirchen sollten so wenig als möglich Merkmale weltlicher Auszeichnung enthalten. Ich weiß zwar, daß solche Unterscheidungen sich vom Leben nicht trennen lassen, aber der Eintritt in ein solches Gebäude ist eine Vorbereitung auf den Tod.«
»Und Euer Vater, Miß Warren – habt Ihr ihn je über meinen unglücklichen Kirchenstuhl sprechen hören?«
Mary zögerte einen Augenblick, wechselte die Farbe und blickte mir dann mit einem so edeln lieblichen Ausdruck in's Gesicht, daß ich ihr sogar die strengste Rüge meiner Thorheit hätte vergeben können.
»Mein Vater möchte überhaupt alle abgeschlossenen Kirchenstühle verbannt wissen,« antwortete sie. »und kann daher nicht eben wünschen, daß der Eurige erhalten bleibe. Er sagt mir, in den katholischen Kirchen sitze, stehe oder kniee die Gemeinde unter einander gemischt vor dem Altar, oder sammle sich um die Kanzel her, ohne daß Rang-Unterschiede gemacht werden. Sicherlich ist dieß besser, als wenn man die kläglichste aller weltlichen Klassifikationen, die des bloßen Geldes, sogar in den Tempel mitbringt.«
»Ihr habt hierin vollkommen recht, Miß Warren, und es wäre mir herzlich lieb, wenn diese Sitte auch hier Eingang finden könnte. Aber die Kirche, die am besten der Unterstützung entrathen könnte, welche von den Kirchstühlen erzielt wird, und durch ihre Größe auch besonders geeignet wäre, einer neuen Sitte zum Beispiel zu dienen, hat, wie ich höre, die alte Weise eingeschlagen und besitzt ihre Stühle so gut, als eine andere.«
»Stammt vielleicht der bei uns herrschende Gebrauch von England her, Hugh?« fragte Martha.
»Allerdings, wie es bei dem Meisten, was wir haben, mag es nun gut, schlimm oder gleichgültig sein, der Fall ist. Von einem Lande wie England, läßt sich schon vorn weg annehmen, daß es dem Vermögen Respekt zollt, und außerdem ist es nicht durchgängig wahr, daß selbst in den Kirchen des alten Kontinents Alles unter einander sitzt. Der Seigneur unter dem alten Regime Frankreichs hatte gewöhnlich seinen Kirchenstuhl, und in keinem Lande findet man, daß sich die hohen Würdenträger des Staats mit der Masse der Andächtigen vermischen; sie wollen gute Gesellschaft haben. Freilich kann man in den katholischen Kirchen großer Städte auch die Herzogin in dem Gedränge knieen sehen, denn es gibt da zu viel derartige Personen, als daß man sie alle mit besonderen Sitzen auszeichnen könnte – eine Ehre, die nur den Höchsten vorbehalten bleibt, aber auf dem Lande trifft man gemeiniglich Kirchenstühle, welche für den Gebrauch angesehener Personen aus der Umgegend an den Seiten angebracht sind. In dieser Beziehung sind wir nicht ganz so schlimm, als wir wohl glauben, obschon ich dem Gebrauch nicht eben das Wort reden will.«
»Du wirst aber doch zugeben, daß ein bedachter Kirchenstuhl für unser Amerika unpassend ist, Bruder?«
»Warum für Amerika unpassender, als für jedes andere Land? Ich gebe zu, daß sie in keinem Gotteshaus am Platz sind, denn die kleinlichen Unterschiede zwischen den Menschen, die nur durch die Landessitte bestimmt werden, sollten ganz und gar verschwinden, wenn man so zu sagen in der unmittelbaren Gegenwart der göttlichen Allmacht steht. Aber ich finde, daß in Amerika ein Geist um sich greift, welcher von gewissen Personen der ›Geist der Institutionen‹ genannt wird, und vermöge desselben will man Niemand, selbst den Verdienstvollsten nicht, auch nur die mindeste Belohnung, Ehre und Anerkennung zu Theil werden lassen. Sobald sich der Kopf eines Bürgers über die Menge der ihn umringenden Gesichter erhebt, wird er zu einer Zielscheibe für faule Eier, als sei er auf einem Pranger ausgestellt; denn seine Mitgeschöpfe gestatten nicht, daß man sich durch moralische Größe vor ihnen auszeichne.«
»Wie könnt Ihr dieß zusammenreimen mit der großen Anzahl von Catos und Brutuse, der Gracchen gar nicht zu gedenken, die man so häufig unter uns findet?« fragte Mary Warren schelmisch.
»Oh, dieß sind bloße Ausgeburten der Parteisucht – große Männer für irgend einen besonderen Zweck. Sie sind daran gewöhnt, sich zu Faktionszwecken brauchen zu lassen, und werden je nach Umständen darum begrüßt. Daher kommt es denn auch, daß neun Zehentheile von den Catos, deren Ihr Erwähnung thut, nach jeden politischen Lustrum vergessen, und nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt sind. Es soll sich aber nur einmal ein Mann, unabhängig von dem Volke, durch sein eigenes Verdienst erheben, dann wird man bald sehen, wie das Volk mit ihm umspringen wird. Gerade so ergeht es nun meinem Kirchstuhl, – er ist ein großer Kirchstuhl und ist es geworden ohne die Mitwirkung des ›Volks‹; eben deßhalb kann ihn auch das Volk nicht leiden.«
Die Mädchen lachten über diese Vergleichung, wie leichtherzige, frohsinnige Wesen über irgend einen derartigen Einfall lachen können; Patt aber gab sich noch nicht zufrieden, sondern griff den Widerspruch in ihrer bestimmten geistvollen Weise wieder auf.
»Er ist ein großes, häßliches Ding, wenn dieses Zugeständniß deiner Eitelkeit schmeicheln kann,« sagte sie; »ich flehe daher inständigst, er möchte noch in dieser Woche einen großen Sturz erleiden. In der That, du hast gar keinen Begriff davon, Hugh, wie viel Redens er in letzter Zeit veranlaßt hat.«
»Daran zweifle ich nicht, mein liebes Kind; aber all' dieses Gerede zielt blos auf die Pachtverhältnisse ab. Was sich nur immer erdenken läßt, wird gegen uns arme Grundbesitzer an den Haaren herbeigezogen, damit unsere Sache ja recht unpopulär werde und man bessere Aussicht gewinne, uns ungestraft zu berauben. Das gute Volk dieses Staates läßt sich wenig träumen, daß dieselben Uebel, welche von den Feinden unserer Institutionen längst voraus gesagt, und von ihren Freunden so warm zurückgewiesen wurden, jetzt gewaltig unter uns um sich greifen – ja, daß das große Experiment in der bedrohlichsten Gefahr schwebt, in demselben Augenblick fehl zu schlagen, in welchem man am lautesten über seinen glücklichen Erfolg jubelt. Wenn dieser Versuch auf das Eigenthum auch noch so mittelbar gelingt, so werden andere folgen, welche uns so unvermeidlich unter die Ruthe des Despotismus als einziges Zufluchtsmittel gegen die Anarchie treiben, als Ursache ihre Wirkungen nach sich ziehen. Die Gefahr besteht schon jetzt in ihrer schlimmsten Form, in der des politischen Demagogismus; man muß ihr Angesicht in Angesicht gegenüber treten, mit gediegenen Grundsätzen sie bekämpfen und sie mannhaft unterdrücken, oder wir sind verloren. Dieß ist meine unmaßgebliche Ansicht. Heuchlerisches Geschrei ist das vorherrschende Laster unserer Religion, namentlich in politischen und religiösen Dingen – und ein solches Geschrei darf nie durch Zugeständnisse zufrieden gestellt werden. Meine Stuhlbedachung soll stehen bleiben, so lang es noch einen Antirentismus zu Ravensnest gibt, oder muß durch Gewalt niedergerissen werden. Sind die Leute wieder zur Besinnung zurückgekehrt und fangen an, zwischen dem Mein und Dein einen vernünftigen Unterschied zu machen, so kann ihn die Köchin jeden Tag in der Woche zum Ofenholz haben.«
Da wir jetzt im Begriff standen, unmittelbar vor der Kirche in die Landstraße einzubiegen, so wurde das Gespräch als unpassend für den Platz und die Gelegenheit aufgegeben. Die Gemeinde von St. Andrews war klein, wie es auf dem Lande bei den Gemeinden der bischöflichen Kirche stets der Fall ist, weil namentlich die Abkömmlinge der Puritaner sie mit Mißtrauen und nicht selten mit entschiedenem Widerwillen betrachten. Die rohe Religion – halb Heuchelei, halb Gotteslästerung – welche von Cromwell und seinen Anhängern so vielen Engländern als Erbtheil hinterlassen worden war, aber doch eine gewisse wilde engherzige Aufrichtigkeit in sich barg, ist unserem Lande wahrscheinlich mit viel mehr ursprünglicher Eigenthümlichkeit übermacht worden, als man heutzutage in jedem andern Theil der Welt findet. Von der Engherzigkeit ist viel zurückgeblieben: aber sie hat unglücklicherweise, wie es stets zu gehen pflegt, wenn in solchen Sekten die Liberalität Eingang zu gewinnen anfängt, den Charakter der Freigeisterei angenommen. Mit einem Worte, die Uebertreibungen und die falschen Grundsätze der religiösen Fanatiker Amerikas, welche während des siebzehnten Jahrhunderts Hexen verbrannten, Quäcker hängten und Alle zur Hölle verdammten, bis auf die wenigen Auserwählten, nehmen jetzt ihren natürlichen Gang und jagen auf das offene Ziel des Unglaubens los. Ebenso wird es auch mit den Mißbräuchen der politischen Freiheit ergehen, die nothwendig zum Despotismus führen müssen, wenn ihnen nicht in Zeiten Einhalt gethan wird. Sie liegen freilich nicht in dem »Geist der Institutionen«, sondern in der Tendenz der menschlichen Natur, und stehen in einem engen Zusammenhang mit einem Zustande, in welchem man von dem Recht abgehen will, um das Unrecht zu unterstützen.
Wie ich fand, war Mr. Warren ein populärer Prediger, obschon seine Sekte im Allgemeinen keiner sehr besondern Gunst sich erfreuen durfte. Ein provinzielles, von Vorurtheilen befangenes Volk, hegte natürlich einen Widerwillen gegen Alles, was mit seinen Ansichten und Gewohnheiten nicht im Einklang stund, und die einfache Thatsache, daß er zu einer Kirche gehörte, welche Bischöfe besaß, galt an sich schon als ein Beweis, daß seine Gemeinde es mit der Aristokratie und den privilegirten Klassen hielt. Allerdings hat fast jede andere Sekte im Land auch ihre kirchlichen Würden, die unter der Bezeichnung von Geistlichen, Aeltesten und Diakonen bekannt sind – ein Vorwurf also, der eben so gut auf sie selbst anwendbar ist; aber sie besitzen keine Bischöfe, und in derartigen Fällen nimmt man nicht an dem, was man selbst nicht hat, sondern an dem, was Andere haben, Anstoß. Aber trotz dieser Hindernisse, welche der Popularität so sehr im Wege stehen, erfreute sich doch Mr. Warren der Achtung seiner ganzen Umgebung, und so sonderbar es auch scheinen mag, that ihm hierin der Umstand keinen Abtrag, daß von der ganzen Geistlichkeit in der Gegend er allein es gewagt hatte, den um sich greifenden Geist der Habsucht, den man so gern mit dem Titel »Geist der Institutionen« bemänteln möchte, öffentlich zu rügen. Dieser Pflicht hatte er sich bei mehr als einer Gelegenheit mit Bestimmtheit und Nachdruck entledigt, obschon er dabei stets den milden Geist christlicher Liebe walten ließ. Sein gewissenhaftes Benehmen hatte zwar Anlaß zu Drohungen und anonymen Briefen – diesen gewöhnlichen Zufluchtsmitteln feiger Gemeinheit – gegeben, zugleich aber auch das Gewicht seines Charakters gekräftigt, und Vielen, die ihm gerne gegrollt haben würden, wenn es in ihrer Macht gelegen hätte, ein geheimes Gefühl von Ehrerbietung abgerungen.
Als wir in der Kirche anlangten, saßen meine Großmutter und mein Onkel bereits in dem gedachten Stuhle. Mary Warren begab sich mit meiner Schwester nach einem andern Theil des Schiffs zu einem Sitz, der dem Rektor vorbehalten war, während die beiden andern jungen Damen im Gitterchor ihre gewohnten Plätze einnahmen. Ich folgte nach, und saß nun, zum ersten Mal in meinem Leben mit allen Rechten des Eigenthümers bekleidet, unter dem anstößigen Baldachin. Unter dem Ausdruck »Baldachin« darf übrigens der Leser nicht an eine festonirte Draperie, Scharlachfarben und Goldfransen denken, denn unser Ehrgeiz hatte sich nie so hoch aufgeschwungen. Der Unterschied unseres Stuhls in Vergleichung mit jedem anderen bestand einfach darin, daß er größer und bequemer war, als die Umstehenden – ein Vortheil, dessen sich jeder in gleicher Weise hätte erfreuen können, der, wie wir, Zahlung dafür leistete; der Baldachin aber bestand in einem schwerfälligen, plumpen, ungestalten Dach, einer vollkommenen Karikatur des berühmten Baldachins von St. Peter in Rom. Die erstere Bequemlichkeit erregte wahrscheinlich keinen sonderlichen Neid, da sie ganz in den gewöhnlichen Landesbrauch des »für Geld geigt man Einem« fiel; aber das Dach war aristokratisch und konnte daher nicht geduldet werden, sintemalen es, gleich dem Pachtverhältnisse dem »Geist der Institutionen« widersprach. Allerdings fügte es durch seinen Bestand Niemand Schaden zu, und hatte als Denkzeichen vergangener Ansichten und Bräuche wohl einigen Werth; es war ein Eigenthum, das ohne Verletzung von Eigenthumsrechten nicht angetastet werden konnte, und jede Person, die es sah, mußte sich in ihrem Innern sagen, daß im Grunde nichts so Absonderliches daran sei, wenn ein derartiger Stuhl einem Littlepage gehöre; namentlich aber hatte es damit seine Richtigkeit, daß Diejenigen, welche darin saßen, nie auch nur einen Augenblick glaubten, daß sie durch ihren Stuhl besser oder schlechter würden, als ihre übrigen Nebenmenschen. Gleichwohl aber war er, nächst dem Pachtverhältnisse, bei weitem der anstößigste Gegenstand, welcher damals in Ravensnest existirte, und es fragt sich sehr, ob das Kreuz an der Stelle, welche der allgemeinen Ansicht nach durch einen Wetterhahn geziert sein sollte, oder Mr. Warrens Ueberschläge nur halb so viel Aergerniß erregten.
Als ich nach der Privatandacht, die nach dem Eintritt in die Kirche unter uns Halbpapisten üblich ist, das Haupt erhob und mich umsah, fand ich, daß das Gebäude fast zum Ueberströmen voll war, und ein weiterer Blick belehrte mich, daß beinahe jedes Auge auf mir haftete. Da der Baldachin letzter Zeit so viel Aufsehen gemacht hatte, so glaubte ich Anfangs, die Aufmerksamkeit gelte diesem; aber bald gewann ich die Ueberzeugung, daß meine eigene geringe Person die Zielscheibe war. Ich will mich nicht damit aufhalten, aller der müssigen und einfältigen Gerüchte Erwähnung zu thun, welche über die Art und den Grund meines verkleideten Auftretens im Dorfe oder über sonstige damit in Verbindung stehende Umstände wie ein Lauffeuer um sich gegriffen hatten, obschon eines davon sogar charakteristisch und für die vorliegende Frage so bezeichnend ist, daß ich es nicht übergehen kann. Man erzählte sich nämlich, ich habe in der zweiten Nacht meiner Ankunft eine meiner eigenen Scheunen in Brand stecken lassen, um das Gehässige der That jenen »tugendhaften und unverdrossen thätigen Farmern« zur Last zu legen, welche nur eine ungesetzliche, bewaffnete Bande auf den Beinen hielt, um mir durch Einschüchterung mein Eigenthum zu entleiden. Ja, da saß ich, vollkommen unbewußt der Ehre, die mir geschah, und von der vollen Hälfte der Gemeinde als der geachtete, rechtlich gesinnte Jüngling angesehen, der einen solchen schurkischen Plan ersonnen und zur Ausführung gebracht hatte. Niemand, wer nicht Gelegenheit zur Vergleichung gehabt hat, kann sich eine Vorstellung bilden, wie weit mächtiger und furchtbarer das amerikanische »Volksgerede« ist, als die gewöhnlichen Gerüchte unter jedem andern Zustand der Gesellschaft. Das französische on dit ist eine pure Aermlichkeit in Vergleichung mit jenem gewaltigen Hebel, der gleich dem des Archimedes nur eines festen Punktes bedarf, um die Welt zu bewegen. In Amerika hat der Ausdruck »das Volk sagt«, so lange man sich mit demselben trägt, eine gewisse Allmacht, welche nicht aus dem Geist, sondern aus dem Charakter der Institutionen hervorgeht. Wo das Volk herrscht, ist das »Volk« auch entschlossen, dem, was es »sagt« Kraft zu geben, und die Gerechtigkeit einer solchen Entscheidung wird so wenig beanstandet, daß sogar die heilige Schrift nicht so viel praktische Wirkung übt und nicht die halbe Gewalt besitzt, die einem derartigen Gerüchte inwohnt, so lang es der öffentlichen Stimmung genehm ist, es fortzupflanzen. Wenige wagen einen Widerspruch und noch weniger erdreisten sich, die Richtigkeit der Frage zu bezweifeln, obschon sie wunderselten eine Wahrheit in sich birgt. Durch ein solches Volksurtheil kömmt man, je nachdem man es zeitweilig gut verbreitet, zu einem Ruf oder verliert ihn; ja, es schafft oder vernichtet Patrioten. Mit einem Worte, obschon nie eine volle Wahrheit und selten viel Wahrheit darin liegt, so wird es doch, wie ungereimt dieß auch erscheinen mag, pro hac vice zur unumstößlichen Gewißheit. Allerdings weiß Jedermann, daß das, was das »Volk« über irgend etwas sagt, keinen Bestand hat, sintemal das »Volk« oft, ja fast immer später dem »widerspricht«, was es vor sechs Monaten gesagt hat; gleichwohl aber muß man sich der Autorität des Dictums unterwerfen, solang es dem »Volk« beliebt, etwas zu »sagen«. Die einzige Ausnahme von dieser Regel, die übrigens auch wieder als Bestätigung dient, findet während der politischen Parteikämpfe statt; denn da gibt es stets zweierlei »Volkssagen«, von denen jede der anderen platterdings widerspricht – ja bisweilen wohl ein halbes Dutzend, von denen keine zwei mit einander Aehnlichkeit haben.
Da saß ich nun, wie ich später erfuhr, als »das Zielblatt für alle Beobachter,« blos weil es zu den Zwecken Derjenigen, die mir mein Besitzthum zu entreißen gedachten, gehörte, allerlei Gerüchte zu meinem Nachtheile auszubreiten, von denen, wie ich mit frohem Bewußtsein sagen kann, auch nicht ein einziges begründet war. Meine erste Umschau in der Gemeinde überzeugte mich, daß bei weitem der größte Theil aus Solchen bestand, die nicht zur St. Andrews-Kirche gehörten. Neugierde oder vielleicht ein schlimmeres Gefühl hatte heute die Zahl von Mr. Warrens Zuhörern oder – wie ich mich richtiger ausdrücken könnte – meiner Beobachter verdreifacht.
Der Gottesdienst erlitt keine andere Störung, als diejenige, welche durch das linkische Wesen so vieler an das Ritual nicht Gewöhnter herbeigeführt wurde. Die Achtung, welche man allgemein religiösen Gebräuchen zu zollen pflegt, hielt die Anwesenden in Ordnung, und obschon allgemein eine so boshafte und selbstsüchtige Stimmung herrschte, als dieß bei einem so geringfügigen Anlasse nur möglich war, so wurde doch weder Gewaltthat noch Beschimpfung an mir versucht. Was mich selbst betraf, so konnte über meinen Charakter und meine Eigenschaften zu Ravensnest nur wenig bekannt sein. Die Schule, das College, meine Reisen und ein Winteraufenthalt in New-York hatten mich auf meiner eigenen Domäne so zu sagen zu einem Fremden gemacht, und man betrachtete mich daher mehr durch die Brille meiner Pachtverträge, als ich nach bekannten Thatsachen beurtheilt werden konnte. Das Gleiche ließ sich gewissermaßen auch von meinem Onkel sagen, der so lange im Auslande gelebt hatte, daß man ihn sogar für einen halben Ausländer ansah, der die Fremde seinem Vaterland vorzog. Dieß ist ein Anstoß, welchen die Massen in Amerika kaum verzeihen können, obschon Diejenigen, welche Gelegenheit zu Vergleichungen gehabt haben, die Sünde nicht sehr hoch anschlagen werden. Die älteren Nationen bieten jüngeren so viele Verlockungen, daß Leute von Bildung, welche über ihre Zeit gebieten können, gern unter ihnen verweilen, und es darf daher nicht Wunder nehmen, wenn der gereiste Amerikaner Europa seinem eigenen Welttheile vorzieht. Aber eben dieser Vorzug wird einem provinzialen Volke zu einem Dorn im Aug', und es ist durchaus nicht geneigt, eine derartige Vernachlässigung seiner selbst zu vergeben. Was mich betrifft, so habe ich sagen hören, und ich glaube auch, daß einige Wahrheit darin liegt, – Länder, die, nachdem sie einmal auf dem Gipfel der Civilisation gestanden haben, im Abnehmen begriffen sind, bieten müssigen Leuten einen weit angenehmeren Wohnplatz, als die im Sturme des Fortschritts dahineilenden Nationen. Dieß ist einer von den Gründen, warum Italien weit mehr Fremde anzieht, als England, obschon man in der Begleichung auch dem Klima die geeignete Rechnung tragen muß. Also wie gesagt, die häufige lange Abwesenheit und die augenscheinliche Vorliebe für das Ausland hatten meinen Onkel in den Augen der Masse sehr unpopulär gemacht; denn diese hat nie etwas Anderes gehört, und ist durch die selbstsüchtigen, ekelhaften Lobhudeleien ihres eigenen gesellschaftlichen Zustandes zu der völligen Ueberzeugung gekommen, es gehöre etwas mehr, als bloßer Geschmacksmangel – ja fast eine völlige Grundsatzlosigkeit dazu, wenn man ein anderes Land vorziehen könne. Diese Unpopularität wurde jedoch bedeutend gemildert durch den weit verbreiteten Ruf der Rechtlichkeit meines Onkels, und seine Freigebigkeit trug gleichfalls nicht wenig dazu bei, denn sein Geldbeutel bedurfte ebenso wenig einer Schnur, als General Harrissons Thüre einer Klinke. Bei meiner Großmutter dagegen verhielt sich die Sache ganz anders. Sie hatte den früheren Abschnitt ihres Lebens in dem Nest verbracht, und es war unmöglich, daß eine so treffliche Frau nicht allgemeine Achtung fand. Allerdings war sie für die Antirenter ein ärgerlicher Hemmstein gewesen, namentlich wenn sich's um Ausführung jenes Theils ihrer Plane handelte, der auf Verleumdung und die legitime Tochter derselben, die Verbreitung von Vorurtheilen abzielte. Es ging nicht wohl an, eine so edelsinnige, mildthätige, muthige und gerechte Frau zu verleumden; aber so gewagt das Experiment auch erscheinen mochte, wurde es doch versucht, und nicht ganz ohne Erfolg. Man beschuldigte sie, daß sie in höchst aristokratischer Weise ihre eigene Familie den Familien des übrigen Volkes vorziehe. Patt und ich, behauptete man, seien nur ihre Enkel, die auch außer ihren Besitzungen zu Ravensnest im Vollauf zu leben hätten; eine Frau aber von Mrs. Littlepage's Alter, die schon einen Fuß im Grabe habe, sollte zu viel allgemeine Menschenliebe haben, um das Wohl von Personen, die blos ihre Enkel seien, dem Interesse von Kindern der Männer vorzuziehen, die nun seit sechzig Jahren ihrem Gatten und ihren Söhnen Renten bezahlt hätten. Dieser Angriff rührte noch obendrein von der Kanzel oder vielmehr von einem Syrupfaß her, das einem wandernden Prediger statt der Kanzel dienen mußte. Dieser Mensch betrieb es als sein Tagewerk, die Gebote des Evangeliums und die des Antirentismus als das große Ziel des Lebens darzustellen.
Wie gesagt, in Folge des vorerwähnten Angriffs hatte meine gute Großmutter einigermaßen in der öffentlichen Achtung verloren. Es ist zwar wahr, hätte man die Verbreiter dieser einfältigen Schmähung offen darüber zur Rede gestellt, so würden sie ihre Mitwirkung entschieden in Abrede gezogen haben; aber nichtsdestoweniger ließ sich nicht läugnen, daß unter hundert anderen Beschuldigungen, die nur geradweise, nicht aber in der Wesenheit verschieden waren, auch dieser fleißig in Umlauf gesetzt wurde, um die Littlepage's unpopulär zu machen. Unpopularität aber gilt in Amerika als eine Sünde, welche alle üblen Folgen jeder anderen Vergebung nach sich zu ziehen pflegt.
Der Leser, welcher mit unserem gesellschaftlichen Leben nicht bekannt ist, muß nicht glauben daß ich um der Wirkung willen die Farben zu grell auftrage. Im Gegentheil, ich bin mir vollkommen bewußt, das Colorit meines Gemäldes sehr gedämpft gehalten zu haben, denn es ist eine unläugbare Wahrheit, daß heutzutage, wenigstens in diesem Theile Amerika's, nichts von einigem Interesse der einfachen Entscheidung der Grundsätze und Gesetze überlassen bleibt. Das Uebergewicht der Zahlen ist so groß, daß kaum ein wichtiger Privatprozeß vor ein Schwurgericht gebracht werden kann, ohne daß man mehr oder weniger unmittelbar den Versuch machte, die öffentliche Stimmung für eine oder die andere Seite zu gewinnen, um dadurch die Geschwornen zu veranlassen, daß sie die Entscheidung im Sinne der Mehrheit abgeben. In Europa werden die Richter von den Parteien aufgesucht und bestürmt; bei uns aber muß das Publikum in dieser Weise behandelt werden. Es liegt nicht in meiner Absicht, die Gebrechen meines Vaterlandes auszuposaunen, weil ich aus eigener Wahrnehmung weiß, daß entsprechende Uebel, die nur in ihrem äußeren Anschein und in der Art, wie sie wirken, verschieden sind, allenthalben existiren; aber so äußern sich einmal einige von unseren Mängeln, und wer sie zu bemänteln wünscht, statt sie zu rügen, aufzudecken und zu verbessern, ist weder ein Patriot, noch ein ehrlicher Mann. Die Ansicht des » nil nisi bene« hat dem Lande schon unendlichen Schaden zugefügt, und in der Rückwirkung natürlich auch der Freiheit.
Ich glaube nicht, daß an jenem Tage in der St. Andrews-Kirche zu Ravensnest sonderliche Andacht herrschte; denn die Hälfte der Gemeinde tappte sich durch die Liturgie durch, und Jeder, der in seinem Gebetbuch den Faden verlor oder ihn gar nicht finden konnte, schien zu glauben, es sei für das Ritual von uns Halbpapisten hinreichend, wenn er sein Auge auf mich und meinen bedachten Stuhl heftete. Ich weiß zwar nicht, wie viele solche Pharisäer anwesend waren, welche wirklich glaubten, ich hätte meine Scheune anzünden lassen, um die Schmach den »tugendhaften«, »ehrlichen« und »hartarbeitenden« Pächtern zur Last zu legen – desgleichen war mir unbekannt, wer von denen wohl zugegen sein mochte, welche die Gerüchte über meinen Besitztitel und den übrigen Unsinn, der von der berechnenden Habgier im Lande ausgeschrieen wurde, für gute Münze nahmen; spätere Ereignisse gaben mir übrigens Grund zur Annahme, daß solcher Personen nicht wenige dem Gottesdienst angewohnt hatten. Ohne Zweifel verließen an jenem Morgen Viele den Tempel, deren Seelen von Plänen der gröbsten Ungerechtigkeit erfüllt waren, während sie zu gleicher Zeit Gott dankten, daß sie nicht so schlimm seien, wie Diejenigen, die sie zu berauben trachteten.
Nachdem die Gemeinde entlassen war, blieb ich noch zurück, um in der Sakristei ein Wort mit Mr. Warren zu sprechen, da nicht er, sondern nur seine Tochter die Nacht mit uns im Neste zugebracht hatte. Wir besprachen uns über die Ereignisse des Morgens, von denen der gute Rektor wohl gehört hatte, obschon er nicht wußte, wer die verhafteten Brandstifter waren. Ehe wir das Gotteshaus verließen, warf ich einige allgemeine Bemerkungen hin.
»Ihr habt diesen Morgen eine ungewöhnlich große Anzahl von Zuhörern gehabt, Sir,« sagte ich lächelnd, »obschon sie nicht ganz so aufmerksam waren, als man wohl hätte wünschen mögen.«
»Ich schreibe dieß auf Rechnung Eurer Rückkehr, Mr. Littlepage, und die Erlebnisse der letzten paar Tage mögen gleichfalls viel dazu beigetragen haben. Ich fürchtete einen Augenblick, man trage sich mit einem geheimen Anschlag, der den Sabbath und den Tempel mit Entweihung und Gewaltthat bedrohe. Indeß ist doch Alles gut abgelaufen, und ich hoffe, daß dieser Zusammenfluß von Menschen keine weiteren schlimmen Folgen hat. Wir Amerikaner hegen große Hoffnung vor heiligen Dingen, und diese wird stets das Haus des Herrn schützen.«
»Wie, Ihr glaubt also, daß die St. Andrews-Kirche heute mit Gefahr bedroht war?«
Mr. Warren erröthete ein wenig und stockte eine Weile, ehe er mit der Entgegnung herausrückte.
»Ohne Zweifel ist Euch wohl bekannt, junger Sir,« nahm er endlich das Wort, »welche Stimmung gegenwärtig im Lande herrscht. Um seine Zwecke erreichen, bietet der Antirentismus alle Hilfsmittel auf, die er möglicherweise für sich benutzen kann, und unter anderen Dingen geht es namentlich gegen Euren bedachten Kirchenstuhl los. Ich gestehe, daß ich Anfangs besorgte, es möchte diesem eine Bestürmung zugedacht sein.«
»Mögen sie's immerhin versuchen, Sir. Der Kirchenstuhl soll seiner Zeit in einer Weise verändert werden, wie sie für den heiligen Ort paßt, aber nicht eher, bis der Neid, die Bosheit und die Habsucht aufgehört haben, gegen ihn zu Felde zu ziehen. Es wäre weit schlimmer, solchen Leidenschaften gegenüber Zugeständnisse zu ertheilen, als wenn der Stuhl in seiner gegenwärtigen Gestalt noch ein halbes Jahrhundert stehen bleibt.«
Mit diesen Worten verabschiedete ich mich und eilte fort, um auf den Feldern draußen die Mädchen einzuholen.