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Der Aberglaube ist eine Eigenschaft, die auf dem Meere heimisch zu sein scheint. Wenig gemeine Matrosen sind von seinem größern oder geringern Einfluß frei; nur die Formen, in denen er sich äußert, sind verschieden, je nach den verschiedenen Eigentümlichkeiten und Ansichten der Nationen, denen die Seeleute angehören. Der Matrose des Baltischen Meeres hat seine geheimen Zeremonien und eigene Weise, um die Götter des Windes zu versöhnen; der Schiffahrer des Mittelmeeres zerzaust sich das Haar und wirft sich vor das Bild irgendeines ohnmächtigen Heiligen nieder, nicht ahnend, daß seine eigene Hand den Dienst tun könnte, um den er fleht, während der erfahrene Brite die Geister der Toten im Sturme zu sehen, und in den Windstößen, die über die See dahersausen, das Kreischen eines ertrunkenen Schiffsgefährten zu hören glaubt. Selbst der mehr unterrichtete und noch mehr klügelnde Amerikaner hat den geheimen Einfluß einer Sinnesweise nicht von sich abschütteln können, die mit seinem Stande untrennbar verwebt zu sein scheint.
Es liegt eine Majestät in der Macht der gewaltigen See, wodurch die Zugänge zu jener Leichtgläubigkeit stets offen gehalten werden, die mehr oder weniger den Geist eines jeden bewältigt, wie sehr er auch durch den Gedanken gekräftigt und aufgeklärt sein mag. Das Himmelsgewölbe über sich, eine unabsehbare Wasserwüste um seinen Pfad her, ist der weniger begabte Seemann bei jedem Schritt seiner Pilgerschaft der Versuchung ausgesetzt, Beruhigung in irgendeinem glückverkündenden Vorzeichen zu suchen, und da einige dieser Vorzeichen wegen ihrer Begründung in Natur und Wissenschaft zuverlässig sind, so dienen sie nur dazu, den Glauben an die vielen anderen zu erhalten, die nur aus erregter Einbildungskraft oder zaghafter Stimmung entspringen. Die Sprünge des Delphins, das ernsthafte und geschäftige Vorüberziehen des Meerschweines, das schwerfällige Spiel des ungeschlachten Walfisches, und das Gekreisch der Seevögel haben alle, gleich den Zeichen der Wahrsager des Altertums, gewisse entsprechende gute oder schlimme Folgen. Die Verwirrung zwischen Dingen, die erklärt, und Dingen, die nicht erklärt werden können, bringt das Gemüt des Seemanns endlich in einen Zustand, wo jedes aufregende und nichtsinnliche Gefühl willkommene Aufnahme findet, und wäre es auch nur, weil es gleich dem Element, auf dem er sein Leben zubringt, das Gepräge einer übernatürlichen, das heißt, einer ihm unbegreiflichen Macht an sich trägt.
Die Schiffsmannschaft auf der Royal Carolina bestand insgesamt aus Kindern jener entfernten Insel, aus der Schwärme von Nationen ausgegangen sind und noch immer ausgehen, und deren Geschick es wahrscheinlich sein wird, ihren Namen einer Zeit zu überliefern, wo der Ursitz ihrer verfallenen Macht und Herrlichkeit als ein Gegenstand der Neugier besucht werden wird, gleich den Ruinen einer Stadt in einer Wüste.
Die Gesamtereignisse jenes Tages waren geeignet genug, den verborgenen Aberglauben dieser Leute hervorzurufen. Daß der, ihrem frühern Befehlshaber begegnete Unfall, und die Art, wie ein Fremder dessen Nachfolger in der Macht geworden war, ihre zweifelsüchtige Stimmung bedeutend vermehrt hatte, ist bereits erwähnt worden. Das Fahrzeug leewärts erschien nun für die Beglaubigung des Charakters unseres Abenteurers sehr zur Unzeit, da er noch keine passende Gelegenheit gefunden hatte, um sich in dem Vertrauen seiner Untergebenen festzusetzen, als sich diese unerwünschten Umstände vereinigten, um ihn mit dem plötzlichen Verlust seiner kaum erlangten Autorität zu bedrohen.
Nur einmal erst hat sich Gelegenheit geboten, den Leser die Bekanntschaft des Maats machen zu lassen, der in der Rangordnung auf dem Schiffe gleich auf Earing folgte. Er hieß Nighthead,Nachthaupt, Nebelkopf ein Name, der einigermaßen auf eine gewisse Umnebelung seines Kapitoliums hinwies. Von seinen geistigen Eigenschaften kann man einen Begriff erhalten durch die paar Bemerkungen, die er zu machen für gut fand, als der alte Matrose, den Wilder seinen Unwillen fühlen lassen wollte, der nachsehenden Schute entwischt war. Nur einen Grad über dem gemeinen Matrosen stehend, war dieses Individuum auch weit mehr mit ihren Gewohnheiten und Ansichten vertraut, als Earing und übte deshalb einen weit größeren Einfluß auf sie, denn obgleich er seinem Gefährten untergeordnet war, so galten doch seine Aussprüche in allen Dingen, bei denen es sich nicht um eine bloße Ausführung unbedingter Befehle handelte, als maßgebende Norm.
Nachdem das Schiff gewendet war, und während der Zeit, wo Wilder alles aufbot, um seinen unwillkommenen Nachbar aus dem Auge zu verlieren, hatte sich dieser eigensinnige und abergläubische Matrose auf die Kuhl gepflanzt, wo sich einige der älteren und erfahreneren Seeleute um ihn herumstellten. Diese besprachen sich mit ihm über die merkwürdige Erscheinung des Phantoms auf der Leeseite, dann auch über die außerordentliche Art, wie ihr ungekannter Befehlshaber die ausdauernden Kräfte ihres eigenen Fahrzeuges auf die Probe zu stellen beliebte.
»Ich hab' mir von älteren seefahrenden Leuten, als irgendwelche, die auf diesem Schiffe sind, erzählen lassen,« sagte Nighthead, »es sei bekannt, wie der Teufel manchmal einen seiner Maaten an Bord eines ehrlichen Kauffahrers schicke, um ihn auf Untiefen und Sandgetriebe zu führen und ein Wrack draus zu machen, damit ihm die Seelen der Leute als sein Anteil zufallen mögen. Wer kann dafür stehen, was für einer in die Kajüte kommt, wenn ein Unbekannter an der Spitze der Namensliste eines Schiffes steht?«
»Das fremde Fahrzeug ist in einer Wolke eingehüllt!« rief einer der Seeleute, der auf die Philosophie seines Oberen lauschte und zugleich ein Auge fest auf den geheimnisvollen Gegenstand zur Leeseite gerichtet hielt.
»Schon gut; mich sollte es nicht wundernehmen, wenn es in den Mond hineinsegelte, das Schiff dort! Das Glück gleicht einem Drehreffsblock und seiner Rahe: wenn der eine aufsteigt, steigt die andere nieder. Es heißt, die Rotröcke zu Land seien siegreich gewesen, da ist's denn freilich Zeit, daß wir ehrlichen Seeleute uns auf Sturm und Unheil gefaßt halten. Ich habe Kap Horn in einem königlichen Schiffe dubliert, Brüder, und ich habe die Glanzwolke gesehen, die nie untergeht, und habe ein lebendiges DverlichtDverlichter oder Irrlichter sind eine Erscheinung an den hoch in die Luft ragenden Körpern des Schiffes. Man sieht nämlich an den Spitzen und Ecken der Masten und Rahen bei einer Gewitterluft zuweilen rauchende Flammen, die ohne Schaden eine Zeitlang fortdauern. Schon die Alten bemerkten es oft. Plinius erzählt, er selbst habe Sterne auf den Lanzen der Soldaten und auf den Masten der Schiffe gesehen, die zischend von einem Ort zum andern gehüpft wären. Zwei solcher Sterne waren Vorbedeutungen einer glücklichen Fahrt und wurden von den Schiffern Kastor und Pollux genannt: einer allein, der Helena hieß, bedeutete Unglück. Im Mittelalter wurde es für die Erscheinung eines Heiligen gehalten und daher von den Spaniern, Portugiesen und Italiern Corpo santo genannt (daher der englische und französische Name Corposant: der Name St. Elmos Feuer hingegen ist wahrscheinlich das verstümmelte Helena der Alten, mit dem Sancto der Neueren sonderbar genug verbunden). Seitdem der Blitz als eine elektrische Erscheinung bekannt ist, sind auch die Irrlichter, den Phänomen des elektrischen Lichtes gemäß, als Zeichen der in Spitzen und Ecken eindringenden Elektrizität angesehen worden. Eine Spitze nimmt nicht sowohl aus der Wolke selbst als vielmehr aus der um sie verbreiteten Luft die Mitteilung der Elektrizität sehr leicht und auf eine große Entfernung an. Die Irrlichter erscheinen daher gewöhnlich bei starkem Wind, werden aber von diesem nicht bewegt und sind als Zeichen eines abnehmenden oder sich zerteilenden Gewitters anzusehen. Anm. d. Übers. in meiner leiblichen Hand gehalten. Aber das sind Dinge, die jeder sehen kann, der bei starkem Wind auf eine Rahe steigen oder an Bord eines Südseefahrers gehen will. Bei alledem aber behaupt' ich, daß es was Ungewöhnliches ist, wenn ein Schiff seinen eigenen Schatten im Nebel sehen kann, wie wir das jetzt können seht, dort kommt's wieder! – da, zwischen der Hintersegelstange und den Pardunen, oder, wenn ein Kauffahrer Segel trägt auf eine Manier, die jedes Krummholz in einer Bombenkiste sollte arbeiten machen, wie die Zahnbürsten, womit die Passagiers in ihren Mäulern hin und her fiedeln, nachdem sie ein Sträußchen mit der Seekrankheit bestanden haben.«
»Und doch hält der Junge das Schiff im Zügel,« sagte der Allerälteste unter den Matrosen, der das Auge von Wilders Bewegungen nicht abwendete; »er jagt die Carolina toll genug vorwärts, das geb' ich zu, aber doch, bis jetzt hat er noch keinen Faden Hanf verloren.«
»Faden!« wiederholte Nighthead in einem höchst verächtlichen Tone; »was wollen Faden sagen, wenn das ganze Tau reißen soll, und auf eine Manier, daß für den Anker keine Hoffnung übrig bleibt, außer am Bojereep? Laß dir was sagen, alter Bill, der Teufel läßt seine Geschäfte niemals halbgetan. Was kommen soll, das kommt leiblich; da gilt kein Fortschaffen, als wenn du die Kapitänsfrau ins Boot runterläßt, während er auf 'm Verdeck bleibt, um zuzusehen, daß alles geht, wie's soll.«
»Herr Nighthead versteht's, wie man ein Schiff zu handhaben hat, das Wetter mag sein, wie's wolle!« sagte ein anderer, dessen ganzes Wesen hinlänglich das Vertrauen verriet, das er auf die Geschicklichkeit des zweiten Schiffsgehilfen setzte.
»Dafür ist mir niemand Dank schuldig. Ich hab' den Dienst von der Pike an durchgemacht und jedes Seil gehandhabt vom Logger bis zum Zweidecker rauf. Wenig Leute können mehr Empfehlendes von sich anführen, als ich; denn mein bißchen Wissen hab' ich mir nicht in der Schule sondern durch viel harte Arbeit erworben. Aber was will Wissen oder selbst Seefahrerkunst sagen gegen Zauberei, oder gegen das Tun eines gewissen jemand, den ich nicht nennen mag, da man nu mal keinen Herrn unnötigerweise beleidigen soll? Ich sage, Brüder, dieses Schiff ist auf eine Manier bespannt, die kein Seemann zugeben würde oder sollte, wenn er weiß, was er will.«
Ein allgemeines Murren verkündigte, daß, wo nicht alle, doch die meisten einerlei Meinung mit ihm waren.
»Laßt uns vernünftig, wie es aufgeklärten Engländern gebührt, den ganzen Tatbestand untersuchen«, fuhr der Maat fort, indem er quer über seine Schulter zurückblickte, wahrscheinlich um sich zu vergewissern, daß die Person, vor deren Mißfallen er eine so heilsame Furcht hatte, auch nicht gerade bei seinem Ellbogen stände. »Wir alle, ohne Ausnahme, sind auf die Welt gekommen als Insulaner, da ist nicht ein Tropfen ausländischen Bluts unter uns, nicht mal ein Schottländer oder Irrländer auf dem Schiff. Erstlich also, muß euch da der ehrliche Nikolaus Nichols vom Wasserfaß abglitschen und ein Bein brechen! Nu weiß ich aber, Kameraden, daß Leute schon von Stengenspitzen und Rahen heruntergefallen sind, und doch kein Bein gebrochen haben. Aber was kommt's einer gewissen Person drauf an, wie weit sie ihren Mann wirft, da sie bloß einen Finger in die Höhe zu heben braucht, um uns alle baumeln zu machen. Ferner und zweitens kommt euch da am Bord hier ein Fremder mit einem Koloniegesicht, und nicht mit einem geradezuen, glatten Engländergesicht, was einer mit der flachen Hand bedecken kann.«
»Der Junge sieht nicht übel aus«, unterbrach ihn der alte Matrose.
»I, darin liegt ja eben die ganze Teufelei dieser Affäre! Er sieht gut aus, zugegeben: aber es ist nicht das gute Aussehen, das einem Engländer zusagt. Er hat so was Sprechendes an sich, das mir nicht gefallen will; denn mir gefällt niemals zuviel Sprechendes an einem, weil man da nicht immer wissen kann, was er eigentlich vorhat. Weiter, drittens, dieser Fremde nu weiß, Schiffpatronsrang hier am Bord zu erlangen, während der, der hier auf dem Verdeck sein sollte, unten in seiner Hängematte liegt, unfähig, sich selbst umzudrehen, geschweige das Schiff; und doch weiß kein Mensch, wie es eigentlich zugegangen ist.«
»Er handelte mit dem Kommissionär um die Stelle, und der schlaue Kaufmann schien sich nicht schlecht zu freuen, daß er so 'n schmucken Jungen zur Führung der Carolina gefunden hatte.«
»Ach, ein Kaufmann ist, wie alle übrigen, nur aus Ton gemacht; und, was noch schlimmer ist, aus Ton, der nicht mit Salzwasser zersetzt ist. Schon manch Handelsmann hat die Brille von der Nase genommen, seine Bücher geschlossen und sich ins Fäustchen gelacht, weil er meinte, er hätte seinen Nächsten übervorteilt, als er aber seine Bücher wieder aufmachte, ja, da fand sich 's, daß er nur sich selbst übervorteilt hatte. Herr Bale glaubte gewiß Wunder was für 'n gescheiten Streich er für die Eigentümer ausführte, als er diesen Herr Wilder so spottwohlfeil bekam. Er hat wahrscheinlich nicht gewußt, daß er das Schiff verkaufte an den . . . es geziemt einem einfältigen Seemann nicht, irgend jemand, unter dessen Befehl er nu mal segelt, zu verachten; darum will ich ohne Not die Person nicht nennen, die meines Dafürhaltens kein geringes Anrecht auf dieses Fahrzeug erlangt hat, sie mag nu ehrlich oder anderswie dazu gekommen sein.«
»Ich hab' noch nie 'n Schiff hübscher aus der Klemme bringen sehen, wie diesen Morgen, als er die Führung der Carolina dem Lotsen entriß und selbst übernahm.«
Hier brach Nighthead in ein gemeines Gelächter aus, was aber seine Zuhörer voller Bedeutsamkeit fanden.
»Wenn ein Schiff einen Kapitän von einer gewissen Gattung hat, muß einen nichts wundernehmen«, antwortete er, von seinem bedeutsamen Lachen zurückkommend. »Für meine Person, ich hab' mich zu Bristol eingeschifft, um nach den Carolinas und Jamaika zu gehen, und unterwegs hin und zurück in Newport anzulegen; und ich gestehe, ich hab' gar keine Lust anderswohin zu gehen. Nu ja, er hat die Carolina aus ihrem schlechten Kielwasser raus- und bei dem Sklavenhändler geschickt genug vorbeigebracht; nur zu geschickt für einen so jungen Seemann. Hätte ich's selber getan, es hätte fast nicht besser ausfallen können. Aber, was haltet Ihr von dem Graubart in dem Boot, Brüder? So eine Jagd und ein solches Entwischen mit anzusehen, das Glück wird wenig alten Seehunden zuteil! Ich hab' von einem Schmuggler erzählen hören, den die königlichen Zollschiffe wohl hundertmal bis in eine Bucht des Kanals verfolgt hatten, und wenn sie nu glaubten: Jetzt haben wir ihn, den Schuft aus Guernsey, risch! segelte er euch in einen dienstfertigen Nebel rein, aus dem ihn kein Mensch wieder rauskommen sah! Dies Boot mag meines Wissens zwischen dem Guernseyfahrer und der Küste Dienste getan haben, ich aber hab' keine Lust, in einem solchen Boote ein Ruder zu führen.«
»Merkwürdig war jene Flucht allerdings!« rief der alte Seemann, dessen Glaube an den guten Charakter unseres Abenteurers nach und nach durch diese Anhäufung von Beweisen zum Wanken gebracht war.
»Das denk' ich auch,« fuhr Nighthead fort, »andere verstehen's vielleicht besser als ich, der ich erst fünfunddreißig Jahre zur See bin. Dazu kommt nu noch, daß das Meer nu auf einmal in Aufstand gerät, kein Mensch weiß wie? Und dann schaut mal diese Haufen von Wolken an, die den Himmel verdunkeln, und trotzdem kommt Euch soviel Licht aus dem Meere hervor, daß einer dabei lesen könnte, wenn er sonst ein tüchtiger Gelehrter ist.«
»Ich hab' doch aber schon oft Wetter wie das jetzige gesehen.«
»Das hat wohl jeder. Es geschieht selten, daß einer, er mag kommen woher er will, schon die erste Seereise als Kapitän mitmachte. Wer diese Nacht zur See ist, er sei, wer er wolle, ich stehe dafür, der ist nicht das erstemal da. Hab' auch schon schlimmer aussehenden Himmel, ja sogar schlimmer aussehendes Wasser über und unter mir gehabt; aber was Gutes ist meines Wissens weder aus dem einen noch aus dem anderen jemals geworden. In der Nacht, wo ich schiffbrüchig wurde in der Bai . . .«
»He, ihr auf der Kuhl dort!« erschallte der ruhige Gebieterton Wilders.
Wäre eine warnende Stimme dem stürmisch einherrauschenden Ozean entstiegen, nicht schrecklicher würde sie den Ohren der schuldbewußten Matrosen geklungen haben, als dieser plötzliche Ruf. Der junge Befehlshaber sah sich genötigt, ihn zu wiederholen; denn Nighthead, dem es von Amts wegen zukam, zu antworten, konnte dazu nicht gleich Entschlossenheit genug aufbieten.
»Setzt das Voroberbramsegel bei!« fuhr Wilder fort, als ihm endlich der gewöhnliche Erwiderungsruf sagte, daß er gehört werde.
Der Maat und seine Gefährten sahen einander einen Augenblick mit dumpfer Verwunderung an, und manches melancholische Kopfschütteln wechselten sie, ehe sich einer von ihnen endlich in das Tauwerk der Luvseite warf und, voller Zweifel im Herzen, hinankletterte, um das genannte Segel von den Reffen loszumachen.
Wilder ließ allerdings so verzweifelt viele Segel aufspannen, daß selbst Leute, die weniger abergläubisch gewesen wären, als seine Untergebenen, dadurch zum Mißtrauen in seine Absichten oder in sein Urteil hätten veranlaßt werden können. Earing sowohl als sein weniger einsichtsvoller und daher um so mehr eigensinniger Kollege hatten längst eingesehen, daß ihr junger Vorgesetzter die gleichen Wünsche mit ihnen hegte, nämlich: dem gespenstischen Schiffe zu entkommen, das so unbegreiflicherweise ihren Bewegungen folgte. Nur in der Art und Weise, dies auszuführen, waren ihre Ansichten von den seinigen verschieden; aber so wesentlich verschieden, daß beide Gehilfen beiseite gingen, um sich miteinander zu beraten, worauf Earing durch die dreistgeäußerte Meinung seines Zugesellten selber etwas angespornt, auf seinen Kommandeur losging, entschlossen, das Resultat ihrer gemeinschaftlichen Beratung mit der Unumwundenheit vorzutragen, die ihm der Drang des Augenblicks zu erfordern schien. Allein in dem festen Blick und in der gebieterischen Miene Wilders war etwas, das seinen Entschluß wanken machte, und er berührte den bedenklichen Gegenstand mit einer Bescheidenheit und auf Umwegen, die mit seinem Wesen in ganz eigenem Kontrast standen. Er beobachtete die Wirkung des erst beigesetzten Segels mehrere Minuten lang, ehe er sich nur getraute, den Mund zu öffnen. Doch ein schreckliches Aufeinandertreffen des Schiffes und einer Woge, die ihr zürnendes Haupt mehrere Dutzend Fuß über das herankommende Vorderdeck erhob, ermutigte ihn in seinem Vorsatz, indem ihm die Gefahr längeren Schweigens von neuem vor die Augen trat.
»Ich sehe nicht, daß wir den Fremden aus den Augen verlieren, obgleich sich das Schiff so schwer durchs Wasser vorwärts wälzt«, fing er an, sich endlich äußerst behutsam und umsichtig mit einer Vorstellung herauswagend.
Wilder blickte noch einmal auf den Nebelpunkt am Horizont, der schon solange sein Auge fesselte, dann zürnend nach dem Punkte hin, wo der Wind stand, gleichsam als wollte er dessen ganze Gewalt herausfordern: Earing wartete vergebens aus Antwort.
»Wir haben die Leute immer unzufrieden gesehen, Sir, wenn's ans Pumpen gehen sollte,« nahm er seine Worte wieder auf, als er fand, daß seine Pause keine Antwort hervorlockte; »ich darf einem Offizier, der seinen Dienst so gut versteht, wohl nicht erst sagen, daß Matrosen selten Freunde von Pumpen sind.«
»Die Befehle, Herr Earing, die ich zu geben für notwendig erachten werde, wird die Bemannung dieses Schiffes ebenso notwendig vollziehen müssen.«
Die gestrenge, gesetzte Herrschermiene, von der diese abgedrungene Antwort begleitet war, verfehlte ihren Eindruck nicht. Earing wich auf eine ehrerbietige Weise einen Schritt zurück und tat, als wenn er im Anschauen der vorbeitreibenden kolossalen Wolken verloren wäre; sich endlich ganz zusammennehmend, versuchte er den Angriff von einer anderen Seite.
»Ist es Ihre reiflich erwogene Meinung, Herr Kapitän,« sagte er, indem er sich begütigend eines Titels bediente, worauf unseres Abenteurers Ansprüche freilich sehr problematisch waren, »ist's Ihre wirkliche Meinung, daß menschliche Mittel imstande seien, die Royal Carolina dem Gesichtskreis des Fahrzeuges dort zu entführen?«
»Ich fürchte, nein«, versetzte der Jüngling, dabei so tief Atem holend, als ob die geheimen Besorgnisse in seiner Brust um einen entsprechenden Ausdruck kämpften.
»Und ich – mit gebührender Rücksicht auf Ihre bessere Einsicht und Autorität, mein Herr, sag' ich es – ich weiß, daß es unmöglich ist. Ich hab' zu meiner Zeit viel dergleichen Partien gesehen; und weiß nur zu gewiß, daß alle Anstrengung, einem solchen Vogel den Wind abzugewinnen, so gut wie vergeblich ist.«
»Hier Earing, nehmen Sie selber das Fernglas, und sagen Sie mir, unter wievielen Segeln der Fremde steuert, und wie weit er ungefähr von uns ab sein mag«, sagte Wilder gedankenvoll, ohne im mindesten auf die eben gemachte Bemerkung des anderen geachtet zu haben.
Der ehrliche und wohlmeinende Gehilfe legte den Hut aufs Deck und tat, wie ihm befohlen war. Er blickte lange, ernst und unverrückt durch das Glas, drückte dann die Glieder des Fernrohres mit seiner gewaltigen flachen Hand zusammen und antwortete endlich wie einer, der nach vieler Überlegung mit sich aufs reine gekommen ist.
»Wenn das Segel dort wie jedes andere sterbliche Schiff gebaut und ausgerüstet wäre, so würde ich nicht anstehen, es für ein wohlbetakeltes, mit seinen drei einfach gerefften Bramsegeln, großen Untersegeln und Treiber und Klüver versehenes Fahrzeug zu erklären.«
»Und hat es nicht mehr?«
»Dafür wollte ich mich verbürgen, wohlverstanden, wenn ich mich erst vergewissern könnte, daß es in jedem Betracht anderen Fahrzeugen gleicht.«
»Und doch, Earing, haben wir mit diesem ganzen Segeldruck, wenn überhaupt der Kompaß richtig zeigt, jenem Schiff keinen Fuß Weges abgenommen.«
»Mein Gott,« erwiderte der Gehilfe, mit dem Kopf nickend, wie jemand, der von der Torheit eines solchen Beginnens vollkommen überzeugt ist, »und wenn Sie soviel beisetzen, daß jedes Tuch im großen Segel platzt, durchs Schnellfahren verändern Sie die Stellung jenes Segels dort um keinen Zoll bis zu Sonnenaufgang! Dann freilich dürften es gute Augen in die Wolken hineinsteuern sehen; obgleich ich für meine Person niemals das Glück oder das Unglück gehabt habe, daß mir einer dieser Kreuzer bei hellem Tage aufgestoßen wäre.«
»Und wie weit ist es ab?« sagte Wilder: »Sie haben immer noch nicht gesagt, wie weit es entfernt ist.«
»Das kommt auf die Art an, wie man mißt. Kann sein, daß es in diesem Augenblicke hier liegt, nahe genug, um uns einen Zwieback in die Topps werfen zu können; kann aber auch sein, daß es dort liegt, wo wir es zu sehen scheinen, mit dem Rumpf ganz in den Horizont getaucht.«
»Wenn es auch wirklich dort liegt, wie weit ist's ab?«
»Je nun, dem Scheine nach ist's ein Schiff von ungefähr sechshundert Tonnen, und nach dem äußeren Blick zu urteilen, möchte man sagen, es liege ein paar Stunden, drüber oder drunter, leewärts ab von uns.«
»Das stimmt mit meiner Berechnung! Sechs MeilenEnglische Meilen, wovon ungefähr fünf auf eine deutsche gehen. windab ist bei einer scharfen Jagd kein unbedeutender Vorsprung. Beim Himmel, Earing, ich will den Kerl hinter mir lassen, und sollte ich die Carolina bis aufs Trockene treiben!«
»Das wäre tunlich, wenn das Schiff Flügel hätte wie eine Seemöwe; so aber glaub' ich, treiben wir's auf den Grund.«
»Es hält sich noch immer gut unter der vielen Leinwand; Sie wissen nicht, was das Boot aushalten kann, wenn's angetrieben wird.«
»Ich hab' es bei allen Gattungen von Wetter segeln sehen, aber, Herr Kap . . .«
Sein Mund verschloß sich plötzlich. Eine ungeheure schwarze Woge erhob sich zwischen dem Schiffe und dem östlichen Horizont, im Heranrollen alles ihr in den Weg Kommende zu verschlingen drohend. Selbst Wilder sah dem Stoß mit atemloser Angst entgegen, und für den Augenblick drängte sich ihm das Gefühl auf, daß die Klugheit doch wohl nicht rechtfertige, das Schiff mit so großem Ungestüm gegen eine solche Wassermasse angetrieben zu haben. Einige Klafter vor dem Bug der Carolina überstürzte sich die Woge und eine Flut von Schaum verhüllte das Verdeck. Eine halbe Minute lang verschwand das Vorderteil des Schiffes, gleichsam als wollte es unter der Woge, die es nicht erklimmen konnte, hinwegtauchen, dann hob es sich langsam wieder, mit Millionen funkelnder Infusionstierchen des Ozeans wie mit ebenso vielen Brillanten überdeckt. Das Schiff hatte inne gehalten, indes jede Fuge seines starken und kolossalen Baues bebte, und der Wiederantritt seines Laufes geschah mit einer Langsamkeit, die warnend seine Leiter der Unbesonnenheit zu bezichtigen schien.
Schweigend sah Earing seinen Obern an, überzeugt, daß nichts, was er vorzubringen vermöchte, einen schlagenderen Beweis enthalten könnte. Nun standen die Matrosen nicht länger an, ihre Unzufriedenheit laut werden zu lassen; sie erkühnten sich, über die Folgen solches schonungslosen, tollkühnen Wagnisses ihre Prophezeiungen zu machen. Wilder hörte nichts oder wollte nichts hören. Unerschütterlich in seinem geheim gefaßten Entschlusse, würde er, um ihn auszuführen, noch größerer Gefahr die Stirne geboten haben. Allein ein durchdringender, obgleich halb zurückgehaltener Schrei vom Spiegel des Schiffes her, erinnerte ihn an das Zagen anderer. Sich rasch auf dem Absatze umdrehend, näherte er sich der noch bebenden Gertraud und ihrer Erzieherin, die sich beide während der letzten unsäglich bangen Stunden zwar fern von ihm gehalten, aber mit schmerzlicher Spannung die geringste seiner Bewegungen beobachtet hatten.
»Das Schiff hat diesen Stoß so gut ausgehalten, daß ich mich auf seine Stärke vollkommen verlasse«, sagte er besänftigend, um sie in blinde Sicherheit einzulullen. »Mit einem festen Schiff ist ein tüchtiger Matrose nie in Verlegenheit.«
»Herr Wilder,« versetzte die Gouvernante, »ich habe das fürchterliche Element, auf dem Sie Ihr Leben zubringen, in vielen Gestalten gesehen; vergebens bestreben Sie sich, mich zu täuschen. Ich weiß, daß Sie das Schiff auf eine ungewöhnliche Weise antreiben; haben Sie auch hinlänglichen Beweggrund zu diesem verwegenen Unterfangen?«
»Den hab' ich, Madame!«
»Und soll er, wie so viele andere von Ihren Beweggründen, ewig in Ihrer Brust verschlossen bleiben, oder dürfen wir, gleich betroffen von dessen Folgen, nicht auf einen gleichen Teil der Kenntnis davon Anspruch machen?«
»Da Sie so viele Sachkunde besitzen,« erwiderte der Jüngling mit einem erzwungenen Lachen, das ihm etwas Schreckenerregendes gab, »so ist es ja überflüssig, Ihnen zu sagen, das man, um windwärts zu steuern, dem Schiffe Segel aufsetzen müsse.«
»Eine von meinen Fragen werden Sie wenigstens unverhohlener beantworten können: Ist dieser Wind günstig genug, um uns über die gefährlichen Untiefen des Hatteras zu führen?«
»Ich zweifle.«
»Warum denn nicht lieber dahin umkehren, woher wir kommen?«
»Sie sind es zufrieden, wieder umzukehren?« fragte der Jüngling mit der Blitzesschnelle des Gedankens.
»Zu meinem Vater will ich«, sagte die vor Sehnsucht glühende Gertraud mit einer der seinigen so nahekommenden Schnelligkeit, daß ihr die wenigen Worte fast den Atem versetzten.
»Und ich, Herr Wilder,« nahm ruhig die Gouvernante wieder das Wort, »wünsche, überhaupt dieses Schiff zu verlassen. Ich verlange keine Erklärung aller Ihrer geheimnisvollen Warnungen; keine Frage soll Sie je wieder belästigen, nur geben Sie uns unseren Freunden in Newport zurück.«
»Es könnte geschehen!« murmelte unser Abenteurer, »es könnte geschehen! Ein paar tüchtige Stunden bei diesem Winde wären hinreichend – Herr Earing!«
Der Gehilfe stand augenblicklich neben ihm. Wilder wies mit dem Finger auf den trüben Punkt leewärts und reichte ihm das Glas, um eine zweite Untersuchung anzustellen. Sie blickten abwechselnd beide lang und scharf dahin.
»Es zeigt keine Segel mehr!« sagte ungeduldig der Kommandeur, als er einige Minuten lang stumm hingeschaut hatte.
»Nicht einen Faden, Herr. Aber was liegt auch einem Fahrzeug dieser Art daran, ob viel oder wenig Leinwand flattert, ob der Wind Ost oder West steht?«
»Hören Sie, Earing, der Wind hat zuviel von Süden in sich; und dort der düstere Wolkenstreifen auf unserer Windseite verkündet eine Wettergall. Lassen Sie das Schiff zwei Punkte oder etwas mehr vom Wind abfallen, und vermindern Sie den Druck an den Spieren durch das Anziehen der Luvbrassen.«
Der arglose Maat vernahm die Order mit einem Erstaunen, das er sich gar nicht zu verbergen bestrebte. Denn der erfahrene Seemann sah ohne Schwierigkeit, daß auf die Ausführung dieser Order nichts anderes erfolgen könnte, als daß sie denselben Weg, den sie bereits hinter sich hatten, wieder zurück gingen, was also wesentlich den Zweck der Fahrt aufgeben hieße. Er wagte es daher, mit der Ausführung zu zögern, um Gegenvorstellungen zu machen.
»Nehmen Sie es einem bejahrten Seemann wie mir nicht übel, Herr Kapitän, daß er sich über das Wetter ein Urteil erlaubt. Wenn es der Vorteil des Eigentümers verlangte, so hätte ich nichts dawider, umzukehren, denn ich mag nicht Land, auf das der Wind zu-, statt abtreibt. Ich dächte aber, wir könnten wohl das Meer behalten, wenn wir die Segel nur ein wenig anreffen; jeder Schritt von den Hatteras weg wäre schon barer Gewinn. Zudem kann sich ja der Wind zwischen heut und morgen nach Nordwest drehen.«
»Ein paar Punkte abgefallen! Und die Luvbrassen angeholt! sage ich!« rief Wilder aufgebracht.
Längerer Verzug unter solchen Umständen war nicht des ehrlichen Earing Sache; er hatte ein zu friedfertiges, unterwürfiges Gemüt dazu. Daher förderte er die Orders an die Subalternen, die zwar gehorchten, wie sich von selbst versteht, allein Nighthead und noch einige Veteranen von der Schiffsmannschaft ließen doch über die unschlüssige und scheinbar unvernünftige Schwankung im Willen ihres Kommandeurs halb unterdrückte und bedeutungsschwere Töne hören.
Bei allen diesen Zeichen der Unzufriedenheit blieb Wilder, wie vorher, gleichgültig. Wenn er sie überhaupt bemerkte, so verschmähte er es entweder, die geringste Notiz davon zu nehmen, oder tat, sich dem Drange des Augenblicks fügend, als merkte er nicht, worum es sich handle. Inzwischen glitt das Schiff gleich einem Vogel, der, durch langes Ankämpfen gegen den Luftstrom ermüdet, seinem Fluge eine andere, minder schwierige Richtung gibt, über die Wellenspitzen, oder durch die hohle See leicht einher, weil es nunmehr mit einem günstigeren Winde segeln durfte, und der Lauf des Stroms dem Seinigen nicht länger entgegengesetzt war. In demselben Grade, als es vom Winde abfiel, stellte sich das Gleichgewicht seiner Kraft und des Segeldruckes wieder her. Doch war die ganze Mannschaft der Meinung, daß bei einer so bedrohlichen Nacht noch immer des Segeltuches mehr als genug beigesetzt wäre. Nicht so urteilte der Fremdling, dem das Schicksal des Schiffes anvertraut worden war. Mit einer Stimme, die noch immer die Subalternen an die Gefahr des Ungehorsams erinnerte, befahl er, mehrere große Leesegeltücher rasch nacheinander beizusetzen. Auf diese Weise von neuem angetrieben, lief das Schiff in voller Karriere über die Wellen, seine Spur mit einer Masse Schaums bezeichnend, die der Größe und dem Glanze nach mit dem überstürzenden Gipfel der ungeheuersten Wogen hätte wetteifern können.
Als Segel auf Segel beigesetzt war, bis sich selbst Wilder gestehen mußte, daß die Royal Carolina, so dauerhaft sie war, doch nicht mehr tragen könne, begann er von neuem auf dem Deck rasch auf und ab zu gehen, und dabei umherzuschauen, um den Erfolg seines neuen Versuches zu beobachten. Die Veränderung im Laufe des Bristoler Kauffahrers hatte eine entsprechende Veränderung in der Fahrt des fremden Schiffes zur Folge, das noch immer wie ein kleiner Nebelpunkt am Horizont dahinschwebte, noch immer, wie der unfehlbare Kompaß den wachsamen Abenteurer lehrte, dieselbe gleiche Richtung mit ihm behielt, wie damals, als er es zuerst entdeckte.Der Leser begreift wohl, daß sich die scheinbare Richtung eines Schiffes zur See, vom Deck eines andern aus gesehen, mit der Kursveränderung des letzteren gleichfalls ändert, daß aber die wahre Richtung nur durch einen Wechsel der relativen Lage abgeändert werden kann. Seine verzweifeltsten Anstrengungen schienen dem Fremden keinen Zoll abgewinnen zu können. Nach einer schnell dahin geflogenen Stunde sah er am Geschwindigkeitsmesser, daß das Schiff drei Stunden Weges zurückgelegt hatte, und dennoch, dennoch lag das fremde Schiff dort im Westen, gleichsam als wäre es der Schatten der Carolina, den die fernen düsteren Wolken zurückgäben. Die einzige am Fremden zu gewahrende Veränderung bestand darin, daß das Auge nunmehr eine größere Fläche seiner Segel bestreichen konnte, eine Folge der neuen Richtung beider Schiffe. Es war aber bei der Entfernung und der Finsternis selbst dem erfahrenen Earing nicht möglich, zu entdecken, ob der Fremde neue Segel zugesetzt habe. Wir wollen es nicht leugnen, die erregte Gemütsstimmung des guten Earing hatte ihn so sehr zum Glauben an die Wunderkräfte des rätselhaften Nachbars gestimmt, daß ihm seine geübten Sinne diesmal die gewöhnlichen guten Dienste versagten. Allein Wilder selbst, der sein scharfes Auge durch oft wiederholtes Spähen aufs Äußerste anstrengte, konnte sich nicht verbergen, daß das fremde Schiff durch die Meereswogen dahinglitt, mehr wie ein in der Luft schwebender Körper, als wie ein auf die gewöhnlichen Hilfsmittel der Schiffahrt angewiesenes Fahrzeug.
Was Mistreß Wyllys und ihre Pflegebefohlene betrifft, so hatten sich beide bereits in ihre Kajüte zurückgezogen; die erstere sich innerlich über die Aussicht Glück wünschend, recht bald ein Schiff verlassen zu können, das seine Fahrt unter so unglückweissagenden Umständen angetreten hatte, daß selbst ihr durchgebildeter und ruhiger Geist dadurch die Fassung verlor. Gertraud ließ sie von dem veränderten Laufe nichts merken; ihrem ungeübten Auge bot die öde See nichts dar, als eine unterscheidungslose Fläche, und Wilder hätte die Richtung des Schiffes zwanzigmal verändern können, ohne daß sie das mindeste gemerkt hätte.
Ihm, dem wohlunterrichteten Seemanne, ging es freilich anders. Für ihn gab es auf seinem mitternächtlichen Meerespfade weder äußerste Finsternis noch inneren Zweifel. Kein Stern hob sich aus dem wogenden Bette der See, um an einem anderen dunkeln und unbestimmten Umriß des Wassers wieder zu verschwinden, der seinem Auge nicht längst vertraut gewesen wäre; kein Wind auf dem Ozean berührte seine brennende Wange, von dem er nicht wußte, aus welcher Himmelsgegend er käme. Nicht die geringste Neigung des Schiffes luv- und leewärts, deren Ursache er nicht begriffen hätte, sein Geist vermochte die zahllosen Wendungen und Krümmungen auf dem spurlosen Pfade mit der größten Klarheit und Bestimmtheit festzuhalten, und nur selten fühlte er bei der Lenkung seiner Fahrt, bei der Art und Weise, wie die Bewegungen seines künstlich gebauten Schiffes geleitet werden müßten, das Bedürfnis, zu den äußeren Hilfsmitteln der Schiffahrtskunde seine Zuflucht zu nehmen. Aber all sein Wissen reichte nicht hin, ihm die außerordentlichen Evolutionen des Fremden zu erklären. Nahm er auch die unbedeutendste Veränderung vor, so war es, als hätte sie der Fremde vorausgesehen, so schnell wurde ihr entsprochen, und des Fremden Behendigkeit im Manöverieren und Überlegenheit im Segeln raubte ihm endlich die Hoffnung, der unermüdlichen Wachsamkeit noch entgehen zu können, ja alle seine Bildung konnte nicht verhindern, daß sich ihm die Idee aufdrängte, hier seien mehr als natürliche Kräfte im Spiele.
Während er sich dergleichen niederschlagenden Gedanken überließ, gewann der Himmel und die See ein anderes Aussehen. Die lichte Linie, die solange über dem östlichen Horizont geweilt und ausgesehen hatte, als wenn sich der Vorhang des Firmaments nur gelüftet hätte, um den Winden einen Durchgang zu gewähren, war plötzlich gefallen; schwere Massen schwarzer Wolken ballten sich an jener Stelle, bis sich die ungeheuern Dunstsäulen so aufeinander gehäuft hatten, daß keine Grenzlinie zwischen beiden Elementen mehr zu unterscheiden war. Auf der anderen Seite, im Westen, hob sich das dunkle Gewölbe, umgürtet von einem grausenerregenden Lichtstreifen, und in dem glänzenden, unheilverkündenden Nebel sah man noch immer das fremde Schiff schweben, wenn auch dann und wann dessen matte, phantastische Umrisse in Luft zu zerfließen schienen.