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Wie viel hatten Carlet und Ella sich zu sagen! Immer wieder erzählte das junge Mädchen, in welcher Angst sie geschwebt, als sie den Vater verschwunden glaubte; wie groß ihre Freude gewesen sei, als Johann ihr sichre Kunde von ihm gebracht; in welche Trauer die lange Trennung sie versetzt und mit welcher Ungeduld sie dieselbe ertragen habe. Ihre zärtlichen Vorwürfe über seine Flucht beantwortete der Alte lächelnd mit dem Versprechen, niemals wieder etwas Aehnliches zu thun; aber freilich wäre jetzt damit auch keine Gefahr verbunden gewesen, denn er war ja nicht mehr der arme Blinde, der von Anderer Führung abhängig war. Aber Ella hatte nicht Zeit darüber nachzudenken; der Vater drängte sie, nur schnell ihren besten Staat anzulegen, da es bald Zeit sei, der Einladung des freundlichen Arztes nachzukommen. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß Vater Carlet eine Einladung zum Diner erhalten hatte.
Endlich war es Zeit, den Weg anzutreten, und Johann klopfte leise an Vater Carlet's Thür.
»Wir kommen schon, mein Sohn,« erwiederte Carlet und blickte zu Ella hinüber, die bei seinen Worten lebhaft erröthete. Sorgsam führte das junge Mädchen den Alten die Treppen hinab, und während er selbst sich nicht genug der wiedergewonnenen Sehkraft freuen konnte, vergaß Ella immer wieder, daß er nicht mehr der hülfsbedürftige Blinde sei, und leitete ihn, wie sie es noch vor wenigen Tagen gethan hatte.
Es ist wohl unnöthig zu sagen, daß das kleine Fest sehr heiter verlief. Der Doctor wurde von einigen Leuten für stolz gehalten; andere wieder nannten ihn grob und brummig, weil er zu ehrlich war, um gegen Leute, die er nicht achtete, freundlich zu sein; heute aber war er der beste und liebenswürdigste Gesellschafter, den man sich denken konnte. Er überhäufte seine Gäste mit Freundlichkeiten und war bald mit ihnen so vertraut, als kenne er sie schon seit Jahren.
Nach dem Essen holte er noch eine Flasche guten Wein herbei, und die Gläser füllend rief er laut:
»Es lebe Vater Carlet! Mögen seine wiedergenesenen Augen ihm noch lange Jahre dienen.«
»Auf Ihre Gesundheit, lieber Herr Doctor,« erwiederte Carlet, das Glas erhebend. »Mag Ihnen der liebe Gott vergelten, was Sie an mir gethan. Ich bin nur ein armer Mann, ich kann es nicht; aber so lange ich lebe, will ich Ihnen dankbar sein und Ihre hülfreiche Hand segnen.«
»Laßt das gut sein, mein Freund, davon reden wir nicht mehr. Wozu ist denn ein Arzt da, wenn er nicht den Kranken helfen soll? – Jetzt habe ich aber noch einige Worte an Fräulein Ella zu richten. Sie haben mir ja versprochen, mir keine Bitte abzuschlagen, und so möchte ich Sie denn freundlichst ersuchen, ein gewisses Zimmer zu bewohnen, das ich mir soeben angesehen habe. Es ist wirklich sehr hübsch eingerichtet. Ich habe auch dicht daneben noch eine leere Stube bemerkt, die für Vater Carlet's Möbel wie geschaffen ist. Vater Carlet bedarf ja jetzt nicht mehr so vieler Pflege und Fürsorge, und mir scheint, mein liebes Fräulein, Sie haben wirklich keinen Grund mehr, sich zu weigern, die Gattin unsres jungen Freundes Johann zu werden.«
»Ich weigere mich auch nicht länger,« sagte Ella erröthend und reichte dem jungen Tischler die Hand. »Ich weiß, er wird meinem Vater ein guter Sohn sein.«
»Und ich werde an dir eine gute Tochter haben, nicht wahr, mein liebes Kind?« sagte Frau Lebeau zärtlich; »wir werden vereint ein glückliches Leben führen.«
»Und wann soll die Hochzeit sein?« fragte der Doctor dazwischen. »Ich werde doch auch eine Einladung dazu erhalten?«
»Nun das versteht sich,« erwiederte Johann. »Wir richten das Hochzeitsessen in meiner Werkstatt aus. So feiert der Meister am würdigsten den Einzug seiner Meisterin. Mir ist jeder Tag recht, den meine Braut bestimmt; morgen, wenn sie will.«
»Morgen? Nein, das ist unmöglich,« rief Ella lachend. »Wir müssen doch aufgeboten werden, und meinen Anzug muß ich auch erst besorgen. Dies Mullkleid mit dem Tüllschleier, das so gut für die Frau eines Tischlers paßt.«
»Ja, das ist richtig, bis morgen ist zu wenig Zeit. Aber wenn meine Mutter hilft, so werden in einigen Tagen doch die nöthigen Vorbereitungen getroffen sein. Alles Uebrige habe ich schon längst in Ordnung gebracht, seit ich Vater Carlet aus dem Wege der Besserung wußte.«
Ella konnte jetzt nichts mehr dagegen einwenden, und so wurde denn bestimmt, daß die Hochzeit im Laufe der folgenden Woche stattfinden solle. Lustig klangen die Gläser zum Wohle der Verlobten aneinander, und unter frohem Geplauder blieb die kleine Gesellschaft noch lange beisammen.
Am andern Morgen hielt es Carlet nicht lange daheim aus. Er freute sich seiner wiedergewonnenen Freiheit und Unabhängigkeit, und wie ehemals durcheilte er wieder allein die Straßen von Nantes, seine Windmühlen im Arm und die Flöte in der Hand.
Sein erster Weg war heute zu Frau Terrasson, und mit aufrichtiger Theilnahme lauschte die gute Frau der Erzählung ihres greisen Freundes, als er ihr die glücklichen Ereignisse der letzten Wochen mittheilte.
Frau Terrasson war im Laufe der letzten Jahre bedeutend gealtert; aber ihr Herz schlug noch immer in warmer Liebe für ihre Freunde, und mit inniger Freude hörte sie von Ella's Glück. Sie bewohnte mit ihrer Familie noch immer das Häuschen in der Rosenstadt, obwohl sich ihre Verhältnisse im Laufe der Jahre bedeutend gebessert hatten. Ihre drei Knaben waren jetzt zu stattlichen Männern herangewachsen und standen bereits auf eigenen Füßen, und Pauline hatte der Mutter alle Sorgen des Hauses abgenommen und leitete die Wirthschaft mit Umsicht und Treue.
»Aber ich werde sie bald hergeben müssen,« sagte Frau Terrasson lächelnd zu Vater Carlet; »sie will nun auch ihren eignen Haushalt haben, gerade wie Ihre Tochter.«
Als Vater Carlet die Rosenstadt verlassen hatte, wandte er sich dem Markte zu. Freilich konnte er nicht hoffen, dort, wie sonst, seine alte Freundin, Frau Robert anzutreffen; die tägliche Fahrt nach der Stadt war der alten Bäuerin jetzt zu beschwerlich, und sie schickte deshalb stets eine ihrer Nichten zum Markte. Diese hatte Carlet bald gefunden. Er übergab ihr mit den herzlichsten Grüßen einen Brief von Ella, der für Frau Robert bestimmt war, und das junge Mädchen, das die Schule von Couëron besucht hatte, und stolz darauf war, lesen und schreiben zu können, versprach, der Tante den Brief gewissenhaft vorzulesen, ohne dabei ein einziges Wort zu überspringen.
Acht Tage waren seit dem kleinen Feste im Hause des Arztes verflossen. Der Tag der Hochzeit war endlich gekommen, und von den treusten und aufrichtigsten Freunden umgeben, trat das junge Paar an den Altar. Frau Terrasson hatte es sich nicht nehmen lassen, die Braut selbst mit Kranz und Schleier zu schmücken, und mit glücklichem Lächeln sagte sie dabei zu Ella:
»Bald werde ich ja auch meiner eignen Tochter diesen Dienst erweisen.«
Auch Frau Robert gehörte natürlich zu den Hochzeitsgästen. Sie hatte das Prachtstück des Mahles, einen riesigen Truthahn von ihrem Hühnerhof geliefert, und am Hochzeitstage traf sie mit einer so reichen Ladung von Vorräthen bei ihren Freunden ein, als wollte sie allen Mangel für immer aus der jungen Wirthschaft verbannen. Heiter saß sie bei Tische neben Vater Carlet, und die beiden alten Freunde schienen darin zu wetteifern, alle Erinnerungen aus Ella's Jugend wieder wach zu rufen.
»Lieber Vater,« sagte die junge Frau gerührt, »wenn ich daran denke, wieviel Gutes du mir erzeigt hast, so fühle ich, daß ich es dir nie genug danken kann. Es wäre nicht zu viel gewesen, wenn ich dir zu Liebe auf alles andre Glück verzichtet hätte.«
»Glücklicherweise ist dies nicht nöthig gewesen,« erwiederte der gute Alte. »Aber fast glaube ich, ich habe dir noch mehr zu danken, als du mir. Welch gedankenloser Tagedieb war ich früher, ehe ich dich an meiner Seite hatte; ohne Nutzen für mich oder andere verbrachte ich meine Tage. Und was hätte aus mir werden sollen, wenn das Alter an mich herantrat, und ich hätte dich nicht gehabt? In einem Winkel auf ein wenig Stroh wäre ich elend umgekommen, und Niemand hätte mich geliebt und meinen Tod beweint. Nein, mein geliebtes Kind, du bist mir keinen Dank schuldig; denn alles, was ich für dich gethan habe, brachte mir selbst einen Segen, reicher, als er je einem Vater aus der Liebe seines Kindes hervorgehen kann.«