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Vater Carlet hatte sich nicht lange bei der Spitzenhändlerin aufgehalten. Als Ella ihn verließ, setzte er sich behaglich in den Korbstuhl nieder und fertigte zuerst noch die ungeduldigen, kleinen Kunden ab, die ihn lärmend umdrängten. Dann plauderte er mit der alten Nachbarin vom Wetter, das heute so schön und warm gewesen, vom Nebel, der die Häuser immer mehr und mehr einhüllte, von seiner lieben, braven Tochter und von dem netten Burschen, dem Johann Lebeau, der, wie die Spitzenhändlerin eben erfahren hatte, in nächster Zeit das Geschäft seines Principals übernehmen wollte. Bald aber füllte sich der Laden mit Käufern; die alte Frau hatte keine Zeit mehr, mit dem blinden Nachbar zu plaudern, und still verließ Carlet das Zimmer und tappte sich glücklich die Treppe hinan. Endlich hatte er seine Wohnung erreicht, und ermüdet blieb er einen Augenblick an der Thüre stehen, um Athem zu schöpfen, als er lebhaftes Sprechen in seinem Zimmer vernahm. Verwundert horchte er auf, und die Worte, die an sein lauschendes Ohr schlugen, bannten ihn fest an die Stelle, wo er stand. Schon nach wenigen Minuten zog er die Hand von dem Drücker zurück, wandte sich wieder um und stieg, wie von schwerer Last gedrückt, die Treppe hinab. Den freundlichen Zuruf der alten Spitzenhändlerin beachtete er gar nicht, sondern stürmte an ihr vorbei auf die Straße hinaus, ohne zu wissen, welche Richtung er einschlug.
Mit raschen Schritten eilte Vater Carlet durch den dichten Nebel, der mit seiner feuchten Kälte die Kleider des Greises mehr und mehr durchdrang. Ein leises Frösteln ging durch seine Glieder, aber er achtete nicht darauf und bemerkte auch nicht, daß die Nacht hereinbrach. Voller Verwunderung blickten die wenigen Vorübergehenden dem Alten nach, und lächelnd fragten sie sich: »Was will denn der Windmühlenverkäufer zu dieser Stunde? Wer soll ihm bei diesem Wetter wohl etwas abkaufen? Jetzt trifft er doch kein einziges Kind mehr auf der Straße.«
Aber rasch eilte ein jeder dann seines Weges, dem warmen Ofen zu, und niemand dachte mehr an den armen Greis, der unbehindert seine Irrfahrt fortsetzte, vorwärts, nur immer vorwärts.
Ein tiefer Schmerz brannte ihm wie Feuer in Kopf und Herzen, und er war nicht im Stande, einen klaren Gedanken zu fassen. Erst nach und nach kam er wieder mehr zur Besinnung; er erinnerte sich dessen, was vorgefallen war und rief sich die Worte, die er gehört hatte, in das Gedächtniß zurück. Doch sein Kummer wurde nur um so größer. Es war ihm mit einem Male klar geworden, daß Ella kein Kind mehr sei, sondern ein erwachsenes Mädchen, das wie andre junge Mädchen wünschen konnte, sich zu verheirathen und im eignen Hause, in der eignen Familie glücklich zu sein. Und er hatte es selbst mit angehört, daß ihre Wünsche darauf hinaus gingen, daß sie mit Freuden dem jungen Tischler die Hand gereicht hätte, wenn … »ja, wenn der alte Carlet nicht wäre!« murmelte er tief aufseufzend vor sich hin.
Wie tief betrübte den armen Greis der Gedanke, daß er dem Glücke seines Kindes im Wege stehe. Er hatte gehört, daß sie niemals heirathen, sondern immer bei ihrem alten Vater bleiben wollte; aber glücklich konnte sie dabei nicht sein, wenn sie es ihm auch zu verbergen suchte, daß der Kummer an ihrem Herzen nage. Er hatte ihre geheimen Gedanken und Wünsche belauscht, und deshalb konnte ihre scheinbare Heiterkeit, ihr Lachen und Singen ihn jetzt nicht mehr täuschen. Und sahen seine blinden Augen auch nicht, wenn ihre Lider vom Weinen geröthet waren, die Stimme, die Bewegungen seines Kindes würden ihm ihre Traurigkeit verrathen. Ihr Opfer würde ihn für alle Zeiten unglücklich machen, und schweigend mußte er diesen Kummer bis an das Ende seiner Tage tragen.
Ein heftiger Stoß weckte Carlet plötzlich aus seinen trüben Gedanken. In unsicherm Laufe war er gegen einen eilig Vorübergehenden geprallt und würde zur Erde gefallen sein, wenn nicht eine starke Hand seinen Arm ergriffen und ihn, wenn auch unsanft, wieder aufgerichtet hätte.
»Zum Teufel, so passen Sie doch auf!« rief eine tiefe Stimme in barschem Tone.
»Entschuldigen Sie, lieber Herr, ich habe es nicht gern gethan,« erwiederte Carlet sanft und setzte seinen Weg fort.
»Der arme Kerl scheint nicht ganz sicher auf den Füßen,« murmelte der Andere mitleidig und folgte dem Greise mit seinen Blicken. »Ach was! er wird wohl betrunken sein, … das heißt, er sah eigentlich nicht so aus … Aber wo geht er denn hin! Er ist ja schon ganz dicht am Wasser; noch ein Schritt, und er ist verloren.«
Eilig wandte der Fremde sich um und war mit wenigen Sprüngen an Carlet's Seite.
Der Alte hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Er war ziellos durch die Straßen geeilt, hatte endlich das Ufer des Flusses erreicht und schritt achtlos über die feuchte, schlüpfrige Wiese, die sich steil gegen das Wasser hin senkte. Er ahnte nicht, in welcher Gefahr er sich befand, und ohne die Hülfe des Fremden wäre er rettungslos verloren gewesen. Gerade als dieser an seine Seite eilte, fühlte der Greis den Boden unter seinen Füßen weichen und war im Begriff, den Abhang hinabzurollen. Erschreckt breitete er mit einem lauten Angstschrei die Arme hülfesuchend aus, als er mit raschem Griff erfaßt und zurück auf den festen Boden geführt wurde.
»Aber lieber Mann, was machen Sie denn?« sagte ärgerlich dieselbe Stimme, die ihn vor wenigen Augenblicken so kurz zurechtgewiesen hatte. »Wäre ich nicht hier gewesen, so lägen Sie jetzt im Flusse, und das müssen Sie doch wissen, daß man bei Nacht und Nebel nicht so leicht wieder herauskommt. Wollten Sie denn Ihre Windmühlen an die Fische verkaufen?«
»Ich danke Ihnen vielmals, lieber Herr; seien Sie mir nur nicht böse. Aber, sehen Sie, ich wußte ja nicht, daß ich hier an das Wasser gekommen war. Ich bin blind, lieber Herr.«
»Blind? Das hätte ich mir freilich denken können,« rief der Fremde und schlug sich vor die Stirn. »Aber wie können Sie da auch so allein ausgehen! Sie haben ja nicht einmal einen Hund bei sich. Besitzen Sie denn keine Kinder, haben Sie gar niemanden, der Sie begleiten könnte?«
Der arme Carlet schwieg, und nur ein tiefer Seufzer rang sich aus seiner Brust empor.
»Nun, seien Sie nur ruhig, ich sehe Ihnen wohl an, daß Sie Kummer haben. Unterwegs müssen Sie mir erzählen, was Ihr Herz bedrückt; denn ich werde Sie natürlich nicht einsam hier am Wasser stehen lassen. Geben Sie mir Ihren Arm. Und nun sagen Sie mir Ihre Wohnung, damit ich Sie sicher dorthin führen kann … Nun, wo wohnen Sie, alter Freund?«
»Sie sind sehr gütig, lieber Herr. Und Sie haben Recht, ich muß rasch zu meiner kleinen Tochter zurück,« sagte Carlet bestürzt, denn er dachte mit Schrecken an die Sorge und Angst, welche Ella sein Verschwinden verursachen mußte. »Das liebe Kind hat mich gewiß schon längst vermißt, sie wird in rechter Unruhe um mich sein. Ach, sie hat nichts, als Kummer durch mich! Wie ein Narr bin ich aus dem Hause gelaufen, ohne zu wissen, was ich that; aber ich war zu unglücklich. Wenn ich jetzt nach Hause komme, will ich aber wenigstens versuchen, heiter zu sein, und dann … mag mich der liebe Gott bald zu sich rufen.«
Von neuem übermannte der Schmerz den guten Alten, und er brach in bittre Thränen aus.
Der Fremde führte ihn zu einer Bank und bat ihn mit freundlichen Worten, ihm seine Geschichte zu erzählen und damit sein Herz zu erleichtern. Carlet folgte der Bitte seines Retters, und voller Theilnahme lauschte dieser der Erzählung des Greises. Dann blickte er einen Augenblick nachdenklich vor sich nieder, aber rasch war sein Entschluß gefaßt. Er winkte eine Droschke heran, stieg mit dem Alten hinein und rief dem Kutscher mit gedämpfter Stimme den Namen einer Straße zu. Aber es war nicht Vater Carlet's Wohnung, die er dem Kutscher bezeichnet hatte.