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Der Hochzeitszug.

Einundzwanzigstes Kapitel.
Die Hochzeit auf dem Lande

Der Wagen, den Carlet und Ella zu der Fahrt benutzten, setzte seine Insassen an dem kleinen Fußweg ab, der von der Fahrstraße aus in einer Viertelstunde zu Frau Robert's Besitzung führte. Der schmale Feldweg war von zahlreichen Fußgängern belebt, und von allen Seiten strömten festlich geschmückte Gäste auf den Meierhof zu. Fröhlich sah Ella in das bunte Treiben hinein, und ihre Augen leuchteten hell auf, wenn sie wieder und wieder von den Vorübergehenden sagen hörte: »Seht doch das allerliebste Kind! Wie niedlich die Kleine aussieht!« Aber freilich mischten sich dazwischen auch andere Bemerkungen, die ihr vor Aerger das Blut in die Wangen trieben: »Hast du den Alten gesehen? Welch wunderbaren Anzug er trägt! Wie mag denn der zu dem hübschen Kinde gekommen sein?«

Verletzt und zornig blickte Ella anfangs bei diesen spöttischen Reden zur Seite; als sich aber bald immer mehr verwunderte Blicke auf den alten Carlet richteten, da zog sie leise ihre kleine Hand aus der seinen. Unter dem Vorwande, Blumen zu pflücken, die sie aber achtlos wieder aus der Hand gleiten ließ, hielt sie sich immer einige Schritte von ihm entfernt, und erst als sie die Meierei betraten, legte sie wieder ihre Hand in die des Vaters. Hier waren sie eines guten Empfangs gewiß. In Frau Robert's Hause war Carlet ein gerngesehner Gast, und niemand wagte dort, das sonderbare Aeußere des alten Mannes zu verspotten. Als aber der Hochzeitszug, mit den Musikanten an der Spitze, durch die Dorfstraße von Couëron zog, erregte Carlet von neuem die Heiterkeit der Umstehenden. Lachend lies die Dorfjugend hinter ihm drein und spottete über seinen Anzug, sein Aussehn und seinen schwankenden Gang. Hätten die Kinder nur gewußt, daß dieser alte Mann der Verfertiger der so oft bewunderten Windmühlen war, sie würden ihn sicher nicht verhöhnt haben. Carlet selbst hatte keine Ahnung davon, daß er für die Dorfleute ein Gegenstand des Gelächters war. Aber Ella, die stolz am Arme eines jungen Pächters einherschritt, empfand es um so unangenehmer. Sie erröthete bei jeder spöttischen Bemerkung und wandte den Kopf zur Seite, und als der lange Zug den Rückweg aus der Kirche nach der Meierei antrat, drängte sie sich weit von Carlet weg in die vordere Reihe hinein, um nur nichts von ihrem Vater zu sehen und zu hören.

Das Mittagsessen war noch nicht bereit, als die Gäste den Meierhof wieder erreichten, und um die Zeit noch angenehm zu verbringen, eilte alles auf die frischgemähte Wiese hinaus. Bald drehte sich die Jugend im muntern Tanze, während die Alten den Schatten einer mächtigen Eiche aufsuchten und von dort aus dem lustigen Treiben zusahen.

Ella befand sich natürlich mitten unter den Tanzenden. Seit ihrer Kindheit hatte sie zwar nie wieder die Füße zum Tanze gerührt, und damals unter der Anleitung ihrer Mutter war es für das zarte Kind mehr eine Anstrengung als ein Vergnügen gewesen. Aber jetzt inmitten der jauchzenden, wirbelnden Paare schien der Tanz auch für sie die höchste Lust zu sein. Gar bald hatte sie sich wieder in die Klänge der Musik gefunden, und keine der vielen Tänzerinnen aus Stadt und Dorf drehte sich so leicht und geschickt im Kreise, wie die kleine Ella. Vater Carlet's Augen hingen unverwandt an der zierlichen Gestalt. Einsam saß er im Schatten der Eiche und beobachtete das Vergnügen, das aus Ella's Gesicht strahlte, und seine Blicke folgten bewundernd den anmuthigen Bewegungen seines geliebten Kindes.

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Einsam saß er im Schatten der Eiche.

Aber nicht Carlet's Augen allein ruhten mit Wohlgefallen auf dem lieblichen Mädchen. Trotz ihrer großen Jugend war Ella von allen Seiten umschwärmt, und obgleich die jungen Bauern von Couëron sonst keine Vorliebe für die Städter zeigten, so widmeten sie Ella doch so viel Aufmerksamkeit, wie keinem andern der jungen Mädchen. Keiner von ihnen ahnte, daß sie nur ein armes, verlassenes Seiltänzerkind sei, welches der alte Windmühlenhändler aus Barmherzigkeit bei sich aufgenommen hatte. Sie war in ihrem neuen, rosa Kleide mit den rosenfarbenen Bändern eine so niedliche Erscheinung, daß sie zu den begehrtesten Tänzerinnen des Festes gehörte. Ihr Gesichtchen glühte vom Tanz und Vergnügen, und sie gab sich ganz der ungewohnten Lust und Freude hin. Da rief plötzlich ihr Tänzer, ein stolzer, aufgeputzter Bauerbursch, indem er mit lautem Gelächter nach der Eiche hinwies: »Sehen Sie doch dort drüben den drolligen Kerl! In meinem ganzen Leben habe ich nichts Lächerlicheres gesehen. Was hat denn der Alte für einen Rock an! Und diese Mütze! Ich will einmal hingehen und ihn nach seinem Schneider fragen. Zu meiner Hochzeit lasse ich mir auch solch einen feinen Anzug machen.«

Ella's Blicke folgten denen ihres Begleiters, und tiefe Röthe bedeckte sogleich ihre Wangen; denn wieder war es die Gestalt ihres guten, alten Pflegevaters, die den Spott und das Gelächter auf sich zog.

Ella war keines Wortes mächtig; verwirrt stand sie neben ihrem Tänzer, der, als er sie nicht in sein Lachen mit einstimmen hörte, sich wieder mit der Frage zu ihr wandte: »Sie kennen doch nicht etwa die alte Vogelscheuche? Oder wissen Sie vielleicht, wer es ist?«

Das junge Mädchen zögerte einen Augenblick mit ihrer Antwort, dann aber richtete sie entschlossen den Kopf in die Höhe, und ein kurzes »Nein« kam über ihre Lippen.

Armer Vater Carlet! Das undankbare Kind, das er vom Tode gerettet, dem er Schutz und Nahrung gegeben hatte, als es elend auf der Straße lag, das verleugnete ihn jetzt! Tag und Nacht hatte er gearbeitet, um Ella für das Fest die zierlichen Kleider zu verschaffen, in denen sie die allgemeine Bewunderung erregte; und zum Lohne dafür wandte sie, die Gefeierte, ihrem Wohlthäter den Rücken und schämte sich seiner, des einfachen Rockes wegen, in dem er einherging.

Welch tiefen Schmerz hätte es dem alten Manne bereitet, hätte er diese Antwort seines Kindes gehört. Zum Glück aber ahnte er nichts von den Gedanken seines undankbaren Lieblings. Er fand nur, daß die Stunden unerträglich langsam dahinschlichen. Mehrere Male versuchte er, sich Ella zu nähern, um sich zu überzeugen, daß sie zufrieden und vergnügt sei, und daß sie sich auch nicht zu sehr ermüde. Aber niemals konnte er bis zu ihr gelangen, und fast hatte es den Anschein, als ob das junge Mädchen ihn zu vermeiden suchte.

Wirklich war es auch Ella's Absicht, ihrem Vater so lange als irgend möglich auszuweichen. Zum Theil wurde sie noch immer durch die falsche Scham über sein sonderbares Aeußere hierzu veranlaßt, andererseits aber wagte sie nicht, sich ihm zu nähern, da sie die heftigsten Gewissensbisse über ihr begangenes Unrecht empfand. Sie schämte sich ihres Vaters, aber sie schämte sich auch ihrer selbst, und von Minute zu Minute drückte die Schuld ihr Herz schwerer und schwerer. Alle Heiterkeit war von ihr gewichen, und still und niedergeschlagen verbrachte sie den Rest des Tages. Sie aß, sie tanzte und spielte, aber ohne daß sie Vergnügen dabei empfand, und Frau Robert, deren Blicke überall waren, sagte leise zu sich, als sie nach dem Braten sah und ein frisches Fäßchen Weißwein in einer Ecke des Saales auflegte:

»Was nur der Kleinen sein mag? Sie lacht jetzt gar nicht mehr, und heut früh war sie doch so vergnügt; ich glaube fast, sie ist schon müde.«

Einer der unangenehmsten Augenblicke des Tages war es dann noch für Ella, als Carlet sie am Abend zu sich rief, um mit ihr den Heimweg anzutreten. Fast sank sie vor Scham in die Erde, als sie den erstaunten Blick des Bauerburschen bemerkte, dem sie am Morgen so bestimmt versichert hatte, daß sie nicht wisse, wer der alte Mann sei. Rasch ergriff sie die Hand des Vaters, verabschiedete sich mit wenigen Worten und verließ, so eilig sie konnte, die Gesellschaft.

Schweigend ging sie neben dem Alten den Feldweg entlang, und ohne ein Wort zu sagen, drückte sie sich in eine Ecke des Wagens, der sie wieder nach der Stadt zurückbringen sollte. Vater Carlet bemerkte das sonderbare Benehmen des Kindes nicht; er erging sich in einer langen Lobrede über die Vorzüge des Landlebens und seine besondern Annehmlichkeiten im Monat Mai, und sprach dann über das schöne Fest, das sie heute verlebt hatten, über die gute Frau Robert, ihren Bruder und all die liebenswürdigen Nichten und Neffen. Zuletzt brachte er sogar die Rede auf Ella selbst. Zärtlich blickte er zu ihr hinüber und versicherte ihr immer wieder, daß sie von allen Tänzerinnen des Festes die schönste gewesen sei und sicher auch die beste und liebenswürdigste.

Ella wurde immer unruhiger bei diesen Lobsprüchen, die sie so wenig verdiente; kaum konnte sie die Gewissensbisse über ihr begangenes Unrecht mehr ertragen, und sie war eben im Begriff, sich in des Vaters Arme zu werfen und ihn um Verzeihung anzuflehen, als der Alte in seiner Rede fortfuhr:

»Du glaubst gar nicht, wie glücklich ich war, wenn ich die Leute sagen hörte: Seht doch das hübsche, kleine Mädchen! Wem mag das Kind gehören? Ich trat dann leise heran, nahm höflich meine Mütze ab und sagte: Liebe Herrschaften, des Kindes Vater bin ich, das heißt, nicht in Wirklichkeit, aber es ist so gut, als ob ich sein Vater wäre. Und dann erzählte ich, auf welche Weise du zu mir gekommen und meine kleine, liebe Tochter geworden bist.«

Bestürzt drückte sich Ella bei diesen Worten tiefer in die Ecke des Wagens; denn sie erkannte jetzt, wie nutzlos ihre Lüge gewesen war, und Scham und Aerger erstickten die Bitte, die bereits auf ihren Lippen schwebte.

Endlich hatten sie ihre Wohnung wieder erreicht. Frau Peters war bereits zur Ruhe gegangen. Vater Carlet holte ein Licht herbei, zündete es an und beugte sich dann zu Ella herab, um ihr, wie an jedem Abend, mit einem zärtlichen Kusse gute Nacht zu sagen. Aber betroffen fuhr er zurück, als er in das erregte Gesicht des Kindes sah.

»Was ist dir denn, mein Liebling?« fragte er voller Angst. »Du machst ja ein ganz wunderliches Gesicht.«

Besorgt blickte der Alte auf Ella herab, die mit niedergeschlagenen Augen vor ihm stand, und schon fürchtete er, daß das ungewohnte Vergnügen die Kleine zu sehr ermüdet haben könnte, als sie auf seine Frage zögernd erwiederte:

»Es ist, weil … Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll … Könntest du dir denn nicht auch bessere Kleider anziehen, wenn wir zusammen zu einer Hochzeit gehen?«

Vater Carlet verstand sogleich alles. Unbeweglich stand er da, wie vom Blitze getroffen und war keines Wortes mächtig. Endlich wagte Ella die Augen zu ihm aufzuschlagen, aber sein Blick war mit einem solchen Ausdruck auf sie gerichtet, daß sie sich nicht getraute, noch ein Wort hinzuzufügen. Zitternd wich sie einige Schritte zurück und eilte in ihre Kammer.

Kaum hatte sie dieselbe betreten, als Carlet die Thür hinter ihr schloß; schweigend wankte er bis an den Kamin, setzte sich dort nieder, und das Gesicht in den Händen verbergend, brach er in einen Strom von Thränen aus.

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