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Mit schnellen Schritten eilte Carlet einer Allee am Ende der Stadt zu, die den Namen der Rosenstadt führte. Zu beiden Seiten der Straße standen freundliche, kleine Häuser mit grünen Jalousien, vor denen sich sorgfältig gepflegte, kleine Gärten hinzogen. Die Bewohner dieser Häuser wetteiferten mit einander in der Pflege ihrer Blumen; nirgends blühten Reseda und Heliotrop in solcher Fülle und Pracht, und die Rosenbäume, zu deren Füßen sie sich wie ein Teppich ausbreiteten, rankten sich mit ihren duftenden Blüthen bis hoch hinauf zu den Fenstern der Häuser. Weithin trug der Wind den süßen Blumenduft, und wenn man zwischen diesen blühenden Gärten dahinschritt, glaubte man nicht, in einer großen Stadt zu sein. In den Familien, welche diese Rosenstadt bewohnten, hatte Carlet zahlreiche Kunden, und sobald er die Straße betrat, tönte von einem Ende zum andern der frohe Ruf: »Vater Carlet kommt!«
Der Alte hatte schon die Hälfte der Straße durchwandert und bereits eine gute Einnahme gehabt. Endlich blieb er vor einem Hause stehen, an dem er niemals vorüber ging, ohne hinauf zu schauen. Vier Kinder wohnten dort, die von ihren Eltern nicht mit reichem Spielwerk verwöhnt wurden. Sie besaßen keine prachtvollen Puppen, keine theuren Schaukelpferde, und was sonst des kostbaren Spielzeugs mehr ist, und so freuten sie sich immer von neuem an den niedlichen, bunten Windmühlen, die Vater Carlet ihnen brachte. Wenn der Alte eine Woche lang nicht in der Rosenstadt gewesen war, so konnte er sicher daraus rechnen, in diesem Hause vier Mühlen zu verkaufen, gerade soviel, als Kinder da waren. Heut war nun gerade eine Woche verflossen, seit er zum letzten Male an dem Hause vorbeigekommen war, und kaum hatte er seine Flöte ertönen lassen, als drei blonde Köpfchen an dem Fenster erschienen. Aber sogleich drehten sie sich wieder um und sahen erschrocken zurück nach der Stube; ein Tisch war umgefallen, und man hörte das Klirren von Scherben.
»Aber Pauline,« rief eine Frauenstimme, »wie kannst du so ungeschickt sein! Das Tintenfaß ist zerbrochen und du hast dein ganzes Kleid verdorben.«
»O liebe Mama, es thut mir so leid,« erwiederte schluchzend eine Kinderstimme. »Ich wollte rasch an das Fenster laufen, um Vater Carlet zu sehen … und da riß ich die Decke von dem Tisch. Ich weiß gar nicht, wie es zugegangen ist. …«
»Nun ich weiß es auch nicht, aber auf jeden Fall hast du dein gutes Kleid verdorben. Geh, und ziehe es aus und bringe mir dann warmes Wasser, damit ich den Fußboden reinigen kann.«
»Ich will versuchen, mein Kleid zu waschen,« erwiederte die Kleine beschämt.
»Das ist ganz unnöthig. Tinte geht beim Waschen nicht heraus. Ziehe das Kleid nur rasch aus, sonst befleckst du damit auch noch die Möbel.«
Während Pauline das verdorbene Kleid mit einem andern vertauschte, blieb die Mutter ruhig bei ihrer Arbeit. Schweigend plättete sie die drei Knabenhemden weiter, die vor ihr lagen und überdachte sorgenvoll, wie sie im Hause etwas ersparen könne, um ihrem unvorsichtigen Töchterchen ein neues Kleid zu kaufen.
Carlet blieb indessen geduldig am Fenster stehen und wartete, obgleich einer der Knaben ihm betrübt zuflüsterte:
»Pauline hat ihr ganzes Kleid verdorben, Mama muß ihr ein neues anschaffen, nun wird sie uns heut gewiß keine Windmühlen kaufen.«
Diese Worte des Knaben brachten Carlet auf eine gute Idee. Er wußte, daß Pauline nicht viel größer sein konnte, als sein kleines Pflegetöchterchen; möglicherweise konnte Ella aus dem Unfalle Vortheil ziehen. Nur Muth, Vater Carlet, vielleicht gelingt es.
»Frau Terrasson,« sagte er vom Fenster aus schüchtern zu der jungen Frau, »ist denn das Kleid des kleinen Fräuleins ganz verdorben?«
»Ach, Sie sind da, Vater Carlet? Ja, gewiß, es ist gar nicht mehr zu gebrauchen. Der Rock ist vorn voller Flecken, und er ist nicht so weit, daß ich ein Stück heraus nehmen könnte. Ich bin recht ärgerlich, es war ein so gutes warmes Kleid; Pauline hätte es den ganzen Winter hindurch tragen können. Nun ist es gerade für den Lumpensammler gut.«
»Ach, Frau Terrasson,« erwiederte Carlet zaghaft, »wollen Sie es mir nicht lieber geben? Ich würde es Ihnen gern abkaufen.«
»Sie, Vater Carlet?« fragte die junge Frau verwundert. »Geht Ihr Geschäft denn nicht mehr gut, daß Sie mit alten Kleidern handeln wollen?«
Bei diesen Worten der Mutter brachen die drei Knaben in ein schallendes Gelächter aus.
»Vater Carlet will Lumpensammler werden!« riefen sie jubelnd, während Pauline noch immer beschämt im Hintergrunde des Zimmers stand; denn nach den ernsten Worten der Mutter wagte sie nicht sogleich in die Heiterkeit der Brüder mit einzustimmen.
»Nein, bewahre,« sagte Carlet jetzt ebenfalls lachend; »ich will meine Beschäftigung nicht ändern. Was sollten wohl die kleinen Kinder dazu sagen, wenn ich ihnen keine Mühlen mehr brächte. Es ist heut nur eine Ausnahme; ich möchte gern ein Kleid für meine kleine Tochter haben; sie braucht es so nothwendig.«
»Sie haben eine kleine Tochter, Vater Carlet? Seit wann denn?«
»Seit gestern, liebe Frau Terrasson. Ich will Ihnen erzählen, wie ich dazu kam. Sie sind ja so gut, Sie werden es den Kunstreitern nicht wieder sagen.«
Carlet stützte die Arme auf das Fensterbrett und begann nun, Ella's Geschichte zu erzählen. Die Kinder lauschten mit offnem Munde seinen Worten, und auch die Mutter ließ die Arbeit ruhen und folgte aufmerksam der Erzählung.
»Und nun ist die Kleine noch immer bei mir, und ich muß doch für sie sorgen,« schloß Carlet tief aufseufzend, als habe ihn die lange Rede ganz erschöpft, und erhob prüfend den Blick, um zu sehen, welchen Eindruck seine Erzählung auf die junge Frau gemacht habe. Ein freundliches Lächeln spielte um ihren Mund, während Thränen in ihren blauen Augen glänzten.
Frau Terrasson war die beste, kleine Frau von der Welt. Sie war nicht reich; ihr Gatte war in einem großen Handelshause beschäftigt, und sein Einkommen reichte nur eben hin, die kleine Familie zu erhalten. Da ging es oft knapp zu, wenn die Schuhe der Kinder gar zu rasch zerrissen, die Höschen zu kurz und die Kleiderchen alt wurden. Aber doch hatte Frau Terrasson in ihrer Güte noch immer etwas übrig, wenn es galt, andern zu helfen oder ihnen eine Freude zu machen. Sie war immer zufrieden, dachte nie an sich selbst und lebte nur ihrem Manne und ihren Kindern. Vom Morgen bis zum Abend trippelte sie durch das ganze Haus wie ein flinkes Mäuschen, still und geschäftig, ohne je zu ermüden, und doch fand sie nebenbei noch immer Zeit, sich um die Arbeiten ihrer Kinder zu bekümmern. Oft saß sie am Spinnrade oder war bei der Wäsche beschäftigt, während eins ihrer Kinder vor ihr stand und das Einmaleins hersagte, oder ein anderes Lafontaine'sche Fabeln recitirte. Nie wurde sie ärgerlich über die Mühe, welche die Kinder ihr verursachten; diese wetteiferten dafür aber auch in Liebe und Verehrung für die Mutter, und das Ziel ihrer Wünsche war, ihr einmal eine behagliche und sorgenfreie Zukunft zu bereiten.
»Wenn ich groß bin,« sagte einmal der kleine Paul, »dann soll Mama immer in Sammt und Seide gehen.«
»Schade, daß sie dann schon alt ist,« erwiederte Georg, der älteste der Knaben. Erzürnt wandten sich die Geschwister bei diesen Worten von dem Bruder ab. Sie wollten nicht glauben, daß ihre liebe, schöne Mama auch einmal alt werden könne.
Die junge Frau war ganz bewegt von der Erzählung des Alten und wandte sich, als er nun schwieg, freundlich zu ihm.
»Sie sind ein braver Mann,« sagte sie; »ich will Ihrem kleinen Mädchen das Kleid und noch einige andere Sachen schenken. Wenn Sie auf ihrem Heimweg wieder hier vorbeikommen, sollen Sie alles bereit finden.«
Frau Terrasson nahm nun das Kleid ihres Töchterchens, versuchte die Flecke etwas heller zu machen und holte dann noch einige andre Kleidungsstücke herbei, die Pauline entbehren konnte. Dabei dachte sie an die Freude des alten Mannes und seiner kleinen Tochter und vergaß darüber den eigenen Verlust.
Lustig stimmte sie ein Liedchen an und ging so vergnügt hin und her, daß ihr Töchterchen Pauline hoch erfreut glaubte, Mama zürne ihr nicht mehr wegen ihres Versehens. Leise schlich sie sich zur Mutter hin, legte die beste ihrer drei Gelenkpuppen auf Carlet's Bündel und blickte dabei so bittend in die Augen der Mutter, daß die gute Frau ihr nicht länger böse sein konnte. Lächelnd zog sie das kleine Mädchen in ihre Arme und küßte sie zärtlich.
»Hier, nehmen Sie dies für Ihre Kleine,« sagte Frau Terrasson, als kurze Zeit darauf der alte Carlet wieder bei ihr eintrat. »Ich habe noch eine Schürze beigelegt, die wird die Flecke im Kleide verdecken; dann auch noch einige alte Hemden, ein Röckchen, einige Paar Strümpfe und Schuhe.«
Carlet war vor Freude und Ueberraschung keines Wortes mächtig. Schweigend nahm er von seinem Stock vier der schönsten, kostbarsten Mühlen, gab sie den Kindern, die ihn umstanden und eilte dann mit schnellen Schritten seiner Wohnung zu.