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»Armes Kind!« sagte er mitleidig vor sich hin. »Sie ist das niedlichste, kleine Ding von der Welt. Wie wenig Glück hat sie bis jetzt im Leben genossen, … nicht einmal satt zu essen hat sie gehabt! Ich werde sie nicht wieder in die Hände der drei Schurken fallen lassen, vor denen sie so große Furcht hat; sie würde bei ihnen gewiß bald sterben. Nein, nein, das kleine Ding soll bei mir bleiben, bis die Kunstreiter die Stadt verlassen haben … Ihre Bude war heut früh geschlossen. Ob sie wohl noch immer nach dem Kinde suchen? Ja, sucht nur, ihr Hallunken! Ihr werdet sie nicht finden, dafür ist gesorgt. Aber wenn die Polizei sie von mir zurückforderte? – Nein, das kann sie nicht; die Kunstreiter haben kein Recht an die Kleine, sie ist ja nicht ihre Tochter. – In einigen Tagen bringe ich sie in's Waisenhaus; dort wird sie gut aufgehoben sein. Da erhält sie gutes Essen, warme Kleider und Schuhe; da wird sie glücklich sein, und es wird ihr an nichts fehlen.«
Diese Gedanken beschäftigten Carlet in so hohem Grade, während er die Straßen von Nantes durcheilte, daß er darüber sogar vergaß, die Kinder durch die Töne seiner Flöte anzulocken, und auch sein bekannter Vers:
»Kommt, Kinder, kommt, ich bring euch hier
Die schönsten Mühlen von Papier!«
tönte nicht ein einziges Mal durch die Straßen.
Ein langer Zug kleiner Mädchen weckte ihn endlich aus seinen Träumereien. Die Kinder gingen zwei und zwei hinter einander und waren von einer Nonne begleitet. An ihrer Kleidung erkannte Carlet sogleich, daß dies die Waisenkinder seien. Er blieb stehen, freute sich an dem guten Aussehn und der saubern Kleidung der Kleinen und sagte mit zufriedner Miene zu sich:
»So gut wird es Ella auch einmal haben.« Aber schon der nächste Augenblick änderte seine Meinung. Eins der kleinen Mädchen hatte ihn bemerkt. Sie machte einen Schritt seitwärts, wandte den Kopf nach ihm hin und blieb einen Augenblick stehen, um ihn und seine Mühlen zu betrachten. Ein Wink und ein strenger Blick der Nonne brachten die Kleine aber sogleich wieder an ihren Platz; sie erröthete, senkte den Kopf und ging mit den andern weiter. So natürlich dieser unbedeutende Vorgang an und für sich auch war, so änderte er Carlet's Meinung von dem glücklichen Leben der Waisen doch vollständig. Er mußte der Nonne zwar recht geben, sie durfte ihrer kleinen Heerde nicht erlauben, sich nach Gefallen zu zerstreuen; aber doch bedauerte der Alte die armen Kinder von Herzen.
»Nicht stehen bleiben, wann es ihnen beliebt! In Reih und Glied gehen mit gesenkten Augen! Nein, das wäre kein Leben für meine kleine Ella. Es geht nicht, in das Waisenhaus kann ich sie doch nicht bringen; ich muß etwas anderes für sie ausdenken. Es giebt ja so viele Leute, die gern ein Kind aufnehmen, ich werde einmal Frau Robert oder Mutter Günther deshalb befragen. Aber jedenfalls müssen die Kunstreiter erst die Stadt verlassen haben. – Wie? da schlägt es schon zwölf Uhr? da muß ich ja rasch suchen, meine Waare los zu werden. Wie soll ich sonst meiner Kleinen ein gutes Mittagbrod verschaffen.«
Sogleich nahm Carlet seine Flöte an die Lippen, sang seinen Vers, und nach kurzer Zeit hatte er einen großen Theil seiner Mühlen abgesetzt. Er kaufte nun in einem Fleischerladen ein großes Stück Wurst, holte aus dem »grünen Baum« eine Flasche Wein und eilte dann mit schnellen Schritten nach Hause. Freilich war das ganz gegen seine bisherige Gewohnheit. Sonst aß er, wenn er Hunger hatte, in irgend einem Laden ein Stück Brod oder Fleisch, trank in der nächsten Schenke ein Glas Wein und setzte dann seinen Weg durch die Straßen fort, solange es ihm gerade gefiel. Heut aber eilte er mit den eingekauften Schätzen schnell seiner Wohnung zu. Als er die Thür seines Zimmers öffnete, sprang ihm Ella jubelnd entgegen. Carlet küßte sie zärtlich, dann aber mußte er über ihr Aussehn herzlich lachen. Mit feierlicher Miene stand das kleine Ding vor ihm, und von ihren Schultern fiel ein Mantel in langen Falten zur Erde, als wäre sie eine Prinzessin, der nur der Page fehlte, die Schleppe zu tragen. Ella hatte sich diesen Aufputz aus der wollenen Decke zurecht gemacht, zum Theil wohl in Erinnerung an ihr bisheriges Leben, andererseits aber auch, um sich zu erwärmen, denn ihre leichte Kleidung schützte sie nur wenig gegen die Kälte. Jetzt erst dachte Carlet daran, wie schlecht er für das Kind gesorgt hatte. Schnell zündete er mit den letzten Stücken seines Holzes ein helles Feuer an, setzte sich mit Ella an den Kamin und verzehrte mit ihr die reichlichen Vorräthe, die er heim gebracht hatte.
Dann aber griff er wieder nach seiner Mütze und nahm seine Mühlen auf die Schulter.
»Lieber Vater Carlet, willst du denn schon wieder fortgehen?« fragte die Kleine schmeichelnd. »Ich langweile mich hier so sehr, nimm mich doch mit.«
»Es geht nicht anders, ich muß wieder fort, mein Liebling. In einer Straße der Vorstadt warten viele Kinder sehnsüchtig auf mich; dort habe ich auch stets einen guten Verdienst, und den können wir jetzt brauchen. Ich würde dich ja so gern mitnehmen, mein kleines Lämmchen, aber in diesen Kleidern kannst du nicht auf die Straße gehen. Da würden dich die bösen Männer gleich erkennen, wenn sie uns begegneten. Darum sei artig und bleibe hier. Sobald ich kann, bin ich wieder bei dir.«
Ohne noch einen Blick auf die Kleine zu werfen, verließ er schnell das Zimmer, denn er hörte, wie Ellas Stimme zitterte, als sie ihm Lebewohl sagte. Gewiß hatte sie Thränen in ihren Augen; das konnte er nicht sehen, das hätte ihm zu bitter weh gethan.