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Achtundsechzigstes Kapitel

Iris sah Fannys Annonce, und ihr erster Gedanke war, das Mädchen wieder in ihre Dienste zu nehmen; aber sie erinnerte sich daran, daß sie vor allen früheren Bekannten verborgen bleiben müßten. Sie durfte sich und ihren Gatten nicht in die Gewalt dieses Mädchens geben, dessen Treue auf zu harte Proben gestellt werden könnte.

Daher beantwortete sie die Annonce durch einen Brief, der keine Adresse enthielt und den sie selbst auf das Hauptpostamt trug. Sie überlegte ihre Worte sehr sorgfältig. Sie durfte nicht zu viel und nicht zu wenig sagen.

»Ich lege diesem Brief,« schrieb sie, »eine Banknote von zehn Pfund bei, welche Sie für sich verwenden sollen. Ich stehe im Begriff, ins Ausland zu reisen, muß aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen auf die Dienste eines Kammermädchens Verzicht leisten. Im weiteren Verlauf meiner Reisen werde ich, wie ich hoffe, auch nach Brüssel kommen. Wenn Sie daher mir etwas zu sagen oder mich etwas zu fragen haben, so schreiben Sie, bitte, dorthin postlagernd an mich, und innerhalb von ungefähr sechs Monaten werde ich den Brief, wie ich mit Sicherheit annehmen zu können glaube, von dort abholen lassen. Ich erwarte aber dann auch gewiß einen Brief von Ihnen. Denken Sie nicht etwa, daß ich Sie oder Ihre treuen Dienste vergessen habe, obgleich ich für den Augenblick außer stande bin, Sie an meine Seite zu rufen. Fassen Sie sich daher in Geduld!«

Daß in dem Brief keine Adresse angegeben war, mußte befremden. Wenn Lady Harry sich in London befand, – und der Brief war auf dem dortigen Hauptpostamt aufgegeben – warum nannte sie dann ihre Adresse nicht? Und wenn sie sich im Ausland befand, warum verheimlichte sie selbst dann ihren Aufenthaltsort? Auf jeden Fall, warum sollte sie sich ohne ein Kammermädchen behelfen, sie, die niemals ohne ein solches gewesen war, der ein Kammermädchen so notwendig war wie eine ihrer Hände? – O, sie konnte überhaupt niemals ohne Kammermädchen sein. Fanny wußte natürlich nichts, noch ahnte sie irgend etwas von den Geschäften, welche Iris in London gehabt hatte, und von deren Teilnahme an dem Verbrechen.

Sie wandte sich daher wieder an ihre einzige Freundin, an Mrs. Vimpany, welcher sie den Brief von Lady Harry schickte, und beschwor sie, wenn es möglich wäre, Mr. Mountjoy jetzt die ganze Geschichte zu erzählen.

»Er ist nunmehr um so viel kräftiger und gesünder geworden,« schrieb Mrs. Vimpany zurück, »daß ich es demnächst werde wagen können, ihm alles mitzuteilen: aber übereilen Sie nichts. Wir wollen um Gottes willen nichts thun, was ihr irgendwelche Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Ich bin fest überzeugt, daß wieder irgend etwas im Werk ist, natürlich etwas Schlechtes. Ich habe Ihren Bericht von dem, was Sie erfahren und miterlebt haben, wieder und immer wieder durchgelesen und bin ebenso überzeugt wie Sie, daß Lord Harry und mein würdiger Gatte den vermeintlichen Tod des ersteren zu ihren unsauberen Zwecken ausbeuten. Wir können aber jetzt nichts thun, wir müssen warten.«

Drei Tage später schrieb sie wieder:

»Der günstige Augenblick, auf den ich gewartet habe, ist jetzt endlich gekommen. Mr. Mountjoy hat sich wieder, wie ich glaube, vollständig erholt. Als ich ihn heute morgen so gesund und kräftig fand, nahm ich die Gelegenheit wahr, ihn zu fragen, ob ich es wagen dürfte, ihm ein Buch vorzulegen, das eine Erzählung enthielte.

»›Betrifft die Erzählung Iris?‹ fragte er.

»›Sie hat mit Lady Harry indirekt zu thun.‹

»Eine Zeit lang gab er keine Antwort. Dann fragte er mich, ob sie auch deren Gatten betreffe.

»›Auch Lord Harry und meinen Gatten,‹ antwortete ich.

»Darauf schwieg er wieder eine Zeit lang.

»Nach einer Weile sah er auf und sagte:

»›Ich habe mir selbst das Versprechen gegeben, mich niemals wieder in Lady Harry Norlands Angelegenheiten zu mischen. Ist es Ihr besonderer Wunsch, daß ich diese Erzählung lese, Mrs. Vimpany?‹

»›Gewiß. Es liegt mir sehr viel daran, daß Sie sie lesen und mir dann einen Rat geben.‹

»›Wer hat sie geschrieben?‹

»›Fanny Mere, das Kammermädchen der Lady.‹

»›Wenn es sich nur darum handelt, mir zu sagen, daß Lord Harry ein Schurke ist, dann will ich sie nicht lesen.‹

»›Wenn Sie nun durch die Lektüre in stand gesetzt würden, Lady Harry vor einem furchtbaren Unglück zu bewahren?‹ wendete ich ein.

»›Geben Sie mir den Bericht, ich will ihn lesen,‹ sagte er darauf.

»Bevor ich ihm jedoch Ihre Aufzeichnungen einhändigte, – ich trug sie stets bei mir in meiner Tasche – zeigte ich ihm eine Zeitung, welche eine gewisse Anzeige enthielt.

»›Lord Harry tot?‹ rief er. ›Unmöglich, dann ist Iris ja frei?‹

»›Sie lesen vielleicht zuerst diese Aufzeichnungen von Fanny Mere,‹ entgegnete ich und zog das Buch aus der Tasche, übergab es ihm und ging aus dem Zimmer. Er sollte allein sein, während er Ihren Bericht las.

»Eine halbe Stunde später kam ich wieder zurück. Ich fand ihn in einem Zustand der heftigsten Erregung, jedoch ohne irgendwelches Zeichen von Schwäche, wie ich es bei früheren ähnlichen Gelegenheiten an ihm bemerkt hatte.

»›Mrs. Vimpany,‹ rief er, ›das ist ja entsetzlich! Für mich ist kein Zweifel, nicht der geringste Zweifel mehr vorhanden, daß der Däne Oxbye derjenige ist, welcher unter dem Namen Lord Harry Norlands auf dem Friedhof von Auteuil beerdigt wurde, und daß er ermordet worden ist, mit kaltem Blut ermordet worden von jenem schlechtesten aller Schurken –‹

»›Von meinem Gatten!‹ sagte ich.

»›Ja, von Ihrem Gatten, Sie unglücklichste aller Frauen! Was Lord Harrys Beteiligung an dem Mord betrifft, so ist es gleichfalls vollständig erwiesen, daß er davon wußte, wenn er nicht sogar damit übereingestimmt hat. Mein Gott im Himmel, verstehen Sie es, können Sie sich wirklich vorstellen, was sie gethan haben? Ihr Gatte und der Gatte von Iris können deswegen in Untersuchung gezogen werden, in eine wirkliche Untersuchung wegen Mords, und zu einem schmachvollen Tod verurteilt werden. Haben Sie schon daran gedacht?‹

»›Ich denke immer daran; der Himmel weiß es, ich denke jeden Tag daran, ich denke daran Tag und Nacht. Ich werde aber nichts laut werden lassen, was dieses Schicksal auf sie herabbeschwören könnte, und ebensowenig wird Fanny Mere irgend etwas sagen. Wenn Fanny nicht zufälligerweise Augenzeugin gewesen wäre, so würden wir überhaupt nicht die geringste Ahnung davon haben, wie sich die ganze Sache in Wirklichkeit verhält.‹

»›Was weiß aber Iris davon?‹

»›Von dem Morde sicherlich nichts!‹

»›Nein, nein, sie kann nichts davon wissen. Das wenigstens durften sie ihr nicht sagen. Aber wie weit mag sie im übrigen in diese dunkle Sache verwickelt sein? Mrs. Vimpany, ich werde noch heute abend nach London zurückkehren. Wir werden mit dem Nachtzug fahren. Ich fühle mich vollständig kräftig genug.‹

»Ich begann diesen Brief in Schottland, ich vollende ihn hier in London.

»Wir sind wieder in der Stadt. Kommen Sie sofort in das Hotel und suchen Sie uns auf.«

So, da war endlich der Mann da, der einen guten Rat geben konnte. Zum erstenmal seit langer, langer Zeit war Fanny wieder dafür dankbar, daß es auf der Welt Männer gab.

Das erste, was Mountjoy that, nachdem er sich durch Rücksprache mit Fanny Mere noch einmal sorgfältig von der Richtigkeit aller ihrer brieflichen Angaben versichert, war, daß er sich erkundigte, ob und welche Schritte in der Versicherungsangelegenheit gethan worden seien. Um Iris willen ging er dabei ganz offen vor, denn es durfte nur den Anschein haben, als ob er die gegenwärtige Adresse der Lady Harry wissen wollte. In einer Sache, bei der Bankiers, Lebensversicherungsgesellschaften und Rechtsanwälte gemeinsam beteiligt waren, konnte es unmöglich schwer halten, etwas so Einfaches ausfindig zu machen.

Er erfuhr denn auch alsbald die Namen der Rechtsanwälte der Familie Norland. Er suchte deren Bureau auf, schickte seine Karte hinein und trug, nachdem er vorgelassen worden, sein Anliegen vor. Als langjähriger Freund der Lady Harry wünschte er deren gegenwärtige Adresse zu wissen. Er sei soeben aus Schottland gekommen, wo er krank gelegen, und habe daher auch jetzt erst ihren schmerzlichen Verlust erfahren. Der Rechtsanwalt machte keinerlei Schwierigkeiten; hatte er doch nicht den geringsten Grund dazu. Lady Harry, berichtete er, war in London gewesen; sie war fast zwei Monate lang durch die Geschäfte in der Stadt aufgehalten worden, die mit dem traurigen Ereignis zusammenhingen; sie war aber jetzt schon wieder fortgereist und befand sich in der Schweiz oder sonst wo. Ihre Adresse habe sie ihm demnächst zu senden zugesagt.

»Das, was Lady Harry hier in London zu thun hatte, betraf, so viel ich weiß, die Eröffnung des Testaments und die Ordnung ihrer Vermögensverhältnisse.«

»Ganz richtig!«

»Lady Harry besaß auch ein eigenes kleines Vermögen,« fuhr Mr. Mountjoy fort, »das sie endlich doch noch von ihrem Vater bekommen hatte, ungefähr fünftausend Pfund, mehr war es meines Wissens nicht.«

»So? Sie hat in der Beziehung nicht meine Hilfe in Anspruch genommen.«

»Ich glaube, dieses Vermögen war sicher angelegt und befand sich in den Händen eines Vormundes. Aber ich weiß es selbst nicht genau. Lord Harry war, soviel ich gehört habe, gewöhnlich in Geldverlegenheit. Hatte er denn sein Leben versichert?«

»Ja, glücklicherweise. Die Versicherungssumme hatte seine Familie für ihn bezahlt, sonst würde er seiner Witwe überhaupt nichts hinterlassen haben.«

»Und diese Summe ist ihr gewiß schon ausgezahlt worden?«

»Ja. Sie ist auf ihr Privatconto übertragen worden.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Mr. Mountjoy. »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich einen Brief an Lady Harry in Ihre Hände legen mit der Bitte, ihn bei nächster Gelegenheit an sie weiter zu befördern.«

»Iris wird nie wieder nach London kommen,« dachte er; »ihr Gatte hat sie also wirklich dahin gebracht, an dem Verbrechen teilzunehmen. Gott im Himmel, sie ist eine Schwindlerin, eine Betrügerin, eine Verbrecherin geworden! Iris! Es ist unglaublich, es ist fürchterlich! Was ist da zu thun?«

Er schrieb zunächst einen Brief, den er in die Hände des Rechtsanwalts niederlegte. Er teilte ihr darin mit, daß er eine Entdeckung gemacht habe, die für sie von der größten Wichtigkeit sei, vermied aber alles, was den geringsten Verdacht in ihr erregen konnte; er beschwor sie, ihm eine Zusammenkunft irgendwo, in irgend einem Teil der Welt, aber mit ihr allein, zu gewähren. Er sagte ihr, daß die Folgen einer abschlägigen Antwort verhängnisvoll, furchtbar verhängnisvoll für ihr zukünftiges Glück sein könnten, und bat sie noch einmal inständigst, ihm zu glauben, daß er für nichts anderes als für ihr Glück besorgt, und daß er noch immer, wie zu jeder Zeit, ihr aufrichtig ergebener Freund sei.

Für jetzt konnte er nichts weiter thun; er hegte nicht einmal die Hoffnung, daß der Brief irgendwelchen Erfolg haben, ja, er glaubte nicht einmal, daß er Iris erreichen werde. Sie hatte das Geld empfangen, und es war auf ihr eigenes Conto übertragen worden; es lag daher in der That gar kein Grund vor, warum sie wieder in Verbindung mit dem Rechtsanwalt treten sollte; und was würde sie dann thun? Nur eines blieb ihr übrig. Diese schuldbeladene Frau mußte mit ihrem schuldbeladenen Gatten in Verborgenheit den Rest ihrer Tage verleben oder wenigstens so lange, bis der Tod sie von dem Mann befreite, der jetzt schon vorgab, begraben zu sein. Im besten Fall würden sie irgend einen Ort ausfindig machen, wo sich keine Gelegenheit darbieten würde, mit irgend jemand zusammenzutreffen, der einen von ihnen gekannt hätte, bevor sie das Verbrechen begangen hatten.

Aber konnte sie überhaupt etwas von dem Mord wissen?

Er dachte an den Auftrag, den sie Fanny gegeben hatte, nach Brüssel zu schreiben, und nahm sich vor, das Kammermädchen zu veranlassen, dies sofort zu thun. Er selbst wollte Fanny diktiren, was sie schreiben sollte. So schrieb denn Fanny nach seinem Diktat folgendes:

»Mylady! Ich habe Ihren Brief erhalten und Ihr liebenswürdiges Geschenk von zehn Pfund, für das ich Ihnen bestens danke.

»Mr. Mountjoy, der wieder nach London zurückgekehrt ist, ersucht mich, Ihnen mitzuteilen, daß er mit Ihrem Rechtsanwalt eine Unterredung gehabt und von ihm erfahren hat, daß Sie in London gewesen sind in Geschäftsangelegenheiten, deren Natur er ebenfalls kennen gelernt hat. Er hat für Sie auf dem Bureau des Rechtsanwaltes einen wichtigen Brief niedergelegt; der Rechtsanwalt hat versprochen, sobald er Ihre Adresse erfährt, Ihnen diesen Brief zu übersenden.

»Seitdem ich von Passy zurückgekehrt bin, habe ich es für vernünftig gehalten, einen genauen Bericht über alles, was sich dort unter meinen Augen ereignet hat, niederzuschreiben. Mr. Mountjoy hat diese meine Aufzeichnungen gelesen und wünscht, daß ich Ihnen ohne Aufschub eine Abschrift davon übersenden soll. Ich schicke Ihnen daher eine solche, in der ich jedoch alle Namen ausgelassen und dafür nur die einfachen Anfangsbuchstaben eingesetzt habe. Sie werden ja nicht die mindeste Schwierigkeit haben, die Namen auszufüllen.

»Ich verbleibe Myladys aufrichtigst ergebenste Dienerin

Fanny Mere.«

Noch an demselben Abend wurde dieser Brief mit der Abschrift nach Brüssel geschickt, und damit bereits war das düstere Verhängnis, das über Iris hereinbrechen sollte, ins Rollen gebracht.


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