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Was sollte sie mit diesem schrecklichen Geheimnis thun?
Der Polizei davon Mitteilung machen! Aber dem stand zweierlei entgegen. Erstens konnte sich die Pflegerin sehr leicht geirrt haben, als sie annahm, ihr Patient sei tot, und zweitens kam ihr der fürchterliche Gedanke, daß sie bis zu dem vorhergegangenen Tage die Pflegerin des Kranken gewesen sei, seine einzige Pflegerin bei Tag und Nacht. Was konnte den Doktor verhindern, die Schuld, ihn vergiftet zu haben, auf sie zu wälzen? Nein! Der Mann war den ganzen Morgen allein gelassen worden; am Tag vorher war jedes Anzeichen vorhanden gewesen, daß er wieder gesund werden würde. Sie hätte also bekennen müssen, daß sie sich versteckt hatte. Wie lange war sie in dem Versteck gewesen, und warum hatte sie sich versteckt? War es nicht geschehen, nachdem sie den Mann vergiftet hatte und die nahenden Schritte des Doktors hörte? Da sie selbstverständlicherweise mit den Giften und ihren Wirkungen wenig vertraut war, so schien es ihr, als ob die Thatsachen in dieser Zusammenstellung gegen sie sprächen. Deshalb beschloß sie, den Tag über ruhig in Paris zu bleiben und am Abend mit dem Dampfschiff von Dieppe aus nach England überzufahren. Die ersten, denen sie alles, was sie gehört und gesehen hatte, entdecken wollte, sollten Mrs. Vimpany und Mr. Mountjoy sein, und was sie dann ihrer Herrin sagen sollte, das sollten ihr die anderen raten.
Sie kam sicher in London an und fuhr geradenwegs in das Hotel, in welchem Hugh Mountjoy wohnte, da sie vorhatte, zuerst ihm die ganze Geschichte mitzuteilen.
Sie fand aber in seinem Wohnzimmer nur Mrs. Vimpany.
»Wir dürfen ihn nicht aufwecken, was Sie auch für Nachrichten bringen mögen. Seine volle Wiederherstellung hängt einzig und allein von vollständiger Ruhe ab. Hier,« – sie zeigte auf den Kaminsims – »hier liegt ein Brief von Mylady. Ich fürchte, ich weiß nur zu gut, was er enthält.«
»Was soll er enthalten?«
»Heute morgen war ich in ihrer Wohnung,« fuhr Mrs. Vimpany fort, »aber sie war nicht mehr da.«
»Nicht mehr da? Mylady war fort? Ja, wohin kann sie denn gegangen sein?«
»Nun, wohin glauben Sie wohl, daß sie gegangen sein wird?«
»Doch nicht etwa zu ihrem Gatten? Nur nicht zu ihm, es wäre schrecklich! Es wäre noch viel schrecklicher, als Sie sich denken können.«
»Sie werden mir nachher erzählen, warum das jetzt um so viel schrecklicher ist als früher. Inzwischen habe ich herausbekommen, daß dem Kutscher befohlen war, nach dem Bahnhof zu fahren. Das ist alles, was ich weiß. Ich hege indessen nicht den geringsten Zweifel, daß sie zu ihrem Gatten zurückgegangen ist. Sie befand sich immer in einer tief niedergeschlagenen Stimmung, seitdem sie nach England gekommen war. Mr. Mountjoy ist auch diesmal so liebenswürdig wie immer gegen sie gewesen, aber er war doch nicht im stande, ihren Kummer zu verscheuchen. Ob sie sich nun wirklich nach ihrem Gatten gesehnt hat, oder ob sie – ich kann das zwar kaum glauben – den Mann, welchen sie verloren, mit dem Mann, den sie geheiratet hat, verglich, das weiß ich nicht. Ich weiß nur das eine, daß sie, seitdem sie aus Frankreich kam, unglücklich gewesen ist, und glaube, sie hat sich immer darüber Vorwürfe gemacht, daß sie ihren Gatten ohne hinreichende Gründe verlassen hat.«
»Hinreichende Gründe?« wiederholte Fanny. »O, gnädiger Gott, wenn sie nur wüßte! Es sind Gründe genug vorhanden, um hundert Gatten zu verlassen.«
»Nichts schien sie aufzuheitern,« fuhr Mrs. Vimpany fort, ohne die Unterbrechung zu beachten. »Ich fuhr mit ihr hinaus auf das Gut, um ihr früheres Kammermädchen, Rhoda Bennet, zu besuchen. Die Gesundheit des Mädchens ist wieder zurückgekehrt; sie steht im Begriff, sich mit dem Bruder des Pächters zu verheiraten. Lady Harry war sehr freundlich mit ihr und sagte ihr die liebenswürdigsten Dinge; sie zog sogar einen der hübschesten Ringe von ihrem Finger und gab ihn dem Mädchen. Aber ich konnte sehen, daß es sie große Anstrengung kostete, Teilnahme zu heucheln. Ihre Gedanken weilten während der ganzen Zeit bei ihrem Gatten. Ich war schon seit langem fest davon überzeugt, daß es in dieser Weise endigen würde, und ich bin daher auch nicht im mindesten überrascht; aber was wird Mr. Mountjoy sagen, wenn er den Brief öffnet?«
»Zurück zu ihrem Gatten?« wiederholte Fanny. »O mein Gott, was sollen wir dann thun?«
»Ich verstehe nicht recht den Zusammenhang Ihrer gesteigerten Befürchtungen. Was hat sich denn neuerdings ereignet?«
»Ich muß es Ihnen erzählen; ich dachte, ich würde es zuerst Mr. Mountjoy mitteilen können, aber ich muß es Ihnen jetzt sagen, obgleich – obgleich –« Sie hielt inne.
»Obgleich es meinen Gatten betrifft. Kehren Sie sich nicht daran und erzählen Sie mir ruhig alles, was Sie wissen.«
Fanny berichtete nun die ganze Geschichte von Anfang an.
Als sie geendet hatte, sah Mrs. Vimpany ängstlich nach der Thür des Schlafzimmers.
»Gott sei Dank,« sagte sie, »daß Sie diese Geschichte mir anstatt Mr. Mountjoy erzählt haben. Jedenfalls bitte ich Sie inständigst, ihn ja nichts von alledem wissen zu lassen. Wir können jetzt gar nichts thun. Nur Sie müssen sogleich wieder fort. Mr. Mountjoy darf Sie nicht hier finden, er darf Ihre Geschichte nicht hören. Wenn er erfährt, was sich ereignet hat, und wenn er dann noch den Brief von Lady Harry liest, dann wird ihn niemand und nichts davon abhalten können, ihr nach Passy zu folgen. Er wird sofort begreifen, daß sie jedenfalls in diese verbrecherische Gemeinschaft verstrickt wird, und er wird sich der größten Gefahr aussetzen bei dem erfolglosen Versuch, sie zu retten. Er ist zu schwach, um die Reise ertragen zu können, er ist viel zu schwach für die heftigen Erregungen, welche dann noch folgen werden, und vor allem viel zu schwach, um es mit meinem Gatten aufnehmen zu können.«
»Was sollen wir aber dann um Gottes willen anfangen?«
»Alles, alles lieber, als dulden, daß Mr. Mountjoy sich zwischen Lord Harry und seine Frau stellt.«
»Ja, ja, aber solch ein Mann! Mrs. Vimpany, Lord Harry war zugegen, als der Däne vergiftet wurde; er wußte, daß der Mann vergiftet wurde; er saß in seinem Stuhl, sein Gesicht war leichenblaß, aber er sagte nichts. Ich habe es kaum über mich gewinnen können, nicht hervorzuspringen und dem Doktor das Glas aus der Hand zu schlagen. Lord Harry aber sagte nichts.«
»Liebe Fanny, begreifen Sie nicht, was Sie thun sollen?«
Fanny gab keine Antwort.
»Bedenken Sie – mein Gatte – Lord Harry – keiner von ihnen weiß, daß Sie zugegen waren. Sie können daher ohne jedes Bedenken nach Passy zurückkehren, und dann werden Sie, was sich immer auch ereignen mag, zur Hand sein, um Mylady zu schützen. Bedenken Sie nur, Sie können als ihr Kammermädchen immer bei ihr sein, in ihrem Zimmer, bei Nacht, überall und zu jeder Zeit, während Mr. Mountjoy nur hie und da das könnte, und außerdem noch der Gefahr ausgesetzt wäre, mit ihrem Gatten Streit zu bekommen.«
»Das wäre er!« sagte Fanny.
»Und Sie sind kräftig und gesund, während Mr. Mountjoy schwach und krank ist.«
»Sie meinen also, daß ich nach Passy zurückkehren soll?«
»Sofort, ohne jeden Aufschub. Lady Harry reiste vergangene Nacht ab; fahren Sie heute abend, sie wird Sie dann vierundzwanzig Stunden nach Ihrer Ankunft bei sich haben.«
»Ich werde gehen,« sagte sie. »Wenn mich auch schon der bloße Gedanke an eine Rückkehr in dieses schreckliche Haus zu dem furchtbaren Mann schreckt, so werde ich dennoch gehen. Mrs. Vimpany, ich weiß, daß es von keinem Nutzen sein wird. Was sich in Zukunft ereignet, das wird sich ereignen, ohne daß es in meiner Gewalt steht, es zu befördern oder es zu verhindern. Ich bin fest überzeugt, daß meine Reise ganz nutzlos sein wird. Aber ich werde abreisen, ja, ich werde heute abend noch nach Passy abreisen.«
Dann gab sie das Versprechen, so bald wie möglich zu schreiben, wenn sie etwas Wichtiges mitzuteilen hätte, und ging fort.
Mrs. Vimpany horchte, allein gelassen, nach dem Schlafzimmer, aber es ließ sich darin kein Laut vernehmen. Mr. Mountjoy schlief noch. Wenn er kräftig genug wäre, dann würde es hinreichend Zeit sein, um ihm mitzuteilen, was geschehen war. Sie saß nachdenklich da. Selbst wenn man den schlechtesten Gatten von der Welt hat und seinen Charakter ganz und gar kennt, so ist es doch höchst peinlich, eine solche Geschichte von ihm zu hören, wie sie Fanny ihr soeben erzählt hatte.