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Es war am Samstag nachmittag gegen fünf Uhr. Die Beerdigung war vorüber. Der unglückliche junge irische Edelmann schlief nun in einem Grab auf dem Friedhof von Auteuil den ewigen Schlaf. Sein Name, sein Alter und sein Stand waren vorschriftsmäßig in die Totenliste eingetragen worden, und der englische Arzt, der auf Wunsch der Familie des Verstorbenen dessen Behandlung übernommen, hatte durch seine Unterschrift die Ursache des Todes beglaubigt. Er wurde bei der Erledigung dieser Formalitäten von jener ehrenwerten Frau begleitet, die während der letzten Zeit den Kranken gepflegt hatte. Alles war in der besten Ordnung. Der Arzt war der einzige Leidtragende bei der Beerdigung gewesen. Niemand hatte den kleinen, unscheinbaren Leichenzug beachtet. Eine Beerdigung erregt ja überhaupt stets nur wenig Aufmerksamkeit.
Nachdem die einfache Feierlichkeit vorüber war, gab der Doktor den Auftrag, daß zur Erinnerung an Lord Harry Norland ein einfaches Monument auf dem Grab errichtet werde. Dann kehrte er in die Villa zurück, bezahlte und entließ die Pflegerin, nachdem er vorher ihre Adresse aufgeschrieben hatte für den Fall, daß er eine Gelegenheit finden würde, wie er bestimmt hoffe, sie unter seiner zahlreichen und vornehmen Kundschaft zu empfehlen. Dann machte er sich daran, alles in der Villa in beste Ordnung zu bringen, bevor er die Schlüssel dem Hauseigentümer übergab. Zuerst entfernte er alle Medizinflaschen, die in dem Wandschrank standen, mit der größten Sorgfalt und ließ keine stehen. Die meisten derselben warf er in die Aschengrube; eine oder zwei stellte er in ein Feuer, welches er zu diesem Zweck in der Küche angezündet hatte; in kurzer Zeit waren nur noch zwei kleine Haufen geschmolzenen Glases von ihnen übrig. Diese Flaschen enthielten ohne Zweifel die verborgensten Geheimnisse der Wissenschaft. Dann ging er in jedes Zimmer und suchte an jedem nur möglichen Platz nach etwaigen Briefen oder Papieren, die vielleicht noch liegen geblieben sein konnten. Derartige Dinge sind immer indiskret, und die Folgen einer ihrer Indiskretionen können möglicherweise sehr weit reichen und unberechenbar sein. Nachdem er sich vollständig überzeugt hatte, daß nichts Derartiges liegen geblieben war, setzte er sich in das Empfangszimmer und vollendete seine geschäftliche Korrespondenz mit der Familie des Verstorbenen und den Rechtsanwälten.
Während er noch damit beschäftigt war, hörte er draußen Fußtritte, Fußtritte auf dem Gartenkies und dann Fußtritte im Hausflur. Ohne das leiseste Zeichen von nervöser Erregtheit stand er auf und öffnete die Thür. Lord Harry hatte recht gehabt. Da stand die Frau, welche die erste Pflegerin des Verstorbenen gewesen war – die Frau, welche ihn genau beobachtet und bewacht hatte – die Frau, die noch immer Argwohn gegen ihn hegte. Das sah er sofort, als er sie erblickte, denn der Argwohn und die Absicht, ihn zu beobachten, waren in ihren fest auf ihn gerichteten Augen zu lesen. Sie war zurückgekommen, um ihren Beobachtungsposten wieder anzutreten.
In ihrer Hand hielt sie ihre Reisetasche, welche sie von dem Platz, wo sie aus dem Omnibus ausgestiegen war, bis in die Villa selbst getragen hatte. Sie wollte in die Thür eintreten, aber die dicke Gestalt des Doktors versperrte ihr den Weg.
»Ah, Sie sind es!« rief er, ohne im geringsten überrascht zu sein. »Wer hat Sie denn zurückkommen heißen?«
»Nein, sie ist nicht zu Hause.«
Er machte nicht die geringste Bewegung, um sie hereinzulassen.
»Dann will ich hineingehen und auf sie warten.«
Er stand ihr immer noch im Wege.
»Wann wird sie zurückkehren?«
»Haben Sie von ihr gehört?«
»Nein.«
»Hat sie Ihnen aufgetragen, daß Sie ihr nachkommen sollen?«
»Nein. Ich habe überhaupt keine Nachricht von ihr erhalten. Ich dachte nur –«
»Dienstboten sollen niemals denken. Sie sollen nur gehorchen.«
»Ich kenne meine Pflicht ganz gut, Doktor Vimpany, ohne daß Sie mich erst daran zu erinnern brauchen. Wollen Sie mich vorüber lassen?«
Er trat zurück, und sie schritt in das Haus hinein.
»Kommen Sie, bitte, nur ruhig herein,« sagte er, »wenn Sie mir für einige Zeit Gesellschaft leisten wollen. Ihre Herrin werden Sie aber nicht hier finden.«
»Nicht hier? Wo ist sie denn sonst?«
»Wenn Sie in London einen oder zwei Tage gewartet hätten, so würden Sie jedenfalls, wie ich wenigstens glaube, davon unterrichtet worden sein. Wie die Sache jetzt liegt, haben Sie Ihre Reise umsonst gemacht.«
»Ist sie denn nicht hier gewesen?«
»Sie ist nicht hier gewesen!«
»Doktor Vimpany,« sagte das Mädchen, zum äußersten getrieben, »ich glaube Ihnen nicht. Sie ist ganz bestimmt hier gewesen. Was haben Sie mit ihr gemacht?«
»Sie glauben mir nicht? Das ist traurig, aber ich kann es nicht ändern. – Sie glauben mir nicht? Das ist in der That sehr traurig!«
»Sie können sich meinetwegen, so viel Sie wollen, über mich lustig machen. Sagen Sie mir nur das eine: Wo ist Lady Harry?«
»Ja, wo ist sie?«
»Sie verließ London, um sich zu Lord Harry zu begeben. Wo ist er?«
»Das weiß ich nicht. Derjenige, der auf diese Frage eine bestimmte Antwort geben könnte, würde sicherlich ein weiser Mann sein.«
»Kann ich ihn sprechen?«
»Gewiß nicht; er ist fortgegangen auf eine lange, lange Reise.«
»Dann werde ich auf ihn warten – hier,« setzte sie mit Bestimmtheit hinzu, »hier in diesem Hause.«
»Ganz, wie Sie wünschen.«
Sie zögerte. In den Augen des Doktors lag ein zufriedener, beruhigter Ausdruck, den sie nicht gern sah.
»Ich glaube,« sagte sie, »daß meine Herrin im Hause ist. Sie muß im Hause sein. Was haben Sie mit ihr vor? Ich glaube, Sie haben sie irgendwo eingesperrt.«
»Jedenfalls.«
»Sie wären zu allem fähig. Ich werde auf die Polizei gehen.«
»Ganz, wie Sie wünschen.«
»O Doktor, sagen Sie mir, wo sie ist!«
»Sie sind eine treue Dienerin. Es ist schön, daß man in unseren Zeiten noch hie und da ein Mädchen findet, das im Dienst ihrer Herrin so eifrig und ihr so ganz ergeben ist. Treten Sie ein, Sie braves und treues Mädchen, durchsuchen Sie das Haus von oben bis unten, treten Sie ein! Wovor fürchten Sie sich? Setzen Sie Ihre Reisetasche nieder, und suchen Sie nach Ihrer Herrin.«
Fanny that, wie er sagte. Sie eilte in das Haus, öffnete die Thüren zu dem Speise- und Empfangszimmer eine nach der andern; niemand war darin. Sie sprang die Treppen hinauf und sah in das Zimmer ihrer Herrin; auch darin war nichts zu sehen, nicht einmal ein Band oder eine Haarnadel, welche verraten hätte, daß eine Frau kürzlich hier gewesen. Dann blickte sie in Lord Harrys Zimmer, aber auch das war leer. Wenn Frauen Haarnadeln in ihren Zimmern liegen lassen, so läßt ein Mann seine Zahnbürste liegen; aber nichts von alledem war in den Räumen zu entdecken. Dann schloß sie die Schränke in jedem Zimmer auf, nichts Außergewöhnliches war darin enthalten. Sie stieg die Treppen langsam wieder hinunter, gespannt, wie sich das Rätselhafte aufklären werde.
»Darf ich in das Krankenzimmer sehen?« fragte sie, in der Erwartung, eine grobe, abschlägige Antwort zu erhalten.
»Selbstverständlich, selbstverständlich!« erwiderte der Doktor freundlich. »Sie kennen ja den Weg. Wenn darinnen etwas liegen geblieben ist, was Ihnen oder Ihrer Herrin gehört, dann, bitte, nehmen Sie es an sich.«
Sie versuchte noch eine weitere Frage.
»Wo ist mein Kranker, wo ist Mr. Oxbye?«
»Er ist fort.«
»Auch fort? Wohin ist er denn gegangen?«
»Er ging gestern, am Freitag, fort. Er war ein außerordentlich dankbarer Mensch. Ich wünschte, wir hätten noch mehr solche dankbare Kranke, ebenso wie noch mehr solche treue Dienstboten. Er sprach davon, daß er nach London gehen wolle, um Ihnen noch besonders seinen Dank auszudrücken. Wirklich eine gute Seele.«
»Fort?« wiederholte sie. »Aber am Donnerstag morgen sah ich doch, daß er –«
Sie hielt noch zur rechten Zeit inne.
»Es war am Mittwoch morgen, als Sie ihn zum letztenmal sahen; damals befand er sich auf dem Weg einer raschen Besserung.«
»Aber er war damals doch noch viel zu schwach, um reisen zu können.«
»Sie dürfen ganz versichert sein, daß ich ihm diese Reise nicht gestattet haben würde, wenn er dazu nicht kräftig genug gewesen wäre.«
Fanny gab keine Antwort. Sie hatte mit eigenen Augen den Mann blaß und ganz bleich daliegen sehen, als wenn er tot wäre; sie hatte gesehen, wie die neue Pflegerin aufsprang, und hatte gehört, wie sie laut schrie: »Er ist tot!« Und jetzt wurde ihr gesagt, daß er ganz gesund und daß er fortgereist sei! In diesem Augenblick war jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken.
Sie stand im Begriff, zu fragen, wo sich die neue Wärterin befinde; aber sie dachte noch zur rechten Zeit daran, daß es für sie das Beste sei, nichts zu wissen und keinerlei Verdacht zu erregen. Sie öffnete die Thür des Krankenzimmers und sah hinein. Ja, der Mann war fort, tot oder lebendig, und keine Spuren seiner Anwesenheit waren zurückgeblieben. Das Zimmer war aufgeräumt; die Thüren des Wandschranks standen offen; es war nichts mehr darin; das Bett war gemacht; der Vorhang war zurückgeschlagen und das Sofa wieder an seinen alten Platz an die Wand gerückt; das Fenster stand offen. Nichts in dem Zimmer zeigte an, daß dasselbe noch vor zwei Tagen bewohnt worden war. Der tote Mann war also fort. Sie starrte ratlos vor sich hin. Hatten denn alle ihre Sinne sie getäuscht? War er nicht tot gewesen, sondern hatte er nur geschlafen? Hinter ihr in dem Korridor stand der Doktor vergnügt lächelnd.
Sie erinnerte sich jetzt plötzlich daran, daß ihre Hauptaufgabe war, ihre Herrin zu finden. Sie stand in keinerlei näherer Verbindung mit dem Dänen; sie schloß daher die Thür wieder und trat in die Vorhalle zurück.
»Nun,« fragte der Doktor, »haben Sie irgend welche Entdeckungen gemacht? Sie sehen, daß das Haus verlassen ist, und werden wohl auch gemerkt haben, daß es für lange Zeit verlassen ist. Was wollen Sie jetzt thun? Werden Sie nach London zurückkehren?«
»Ich muß Mylady finden.«
Der Doktor lächelte.
»Wenn Sie mit anderen Gesinnungen und anderen Absichten hieher gekommen wären,« sagte er, »so würde ich Ihnen alle diese Mühe erspart haben. Sie kamen indessen mit einem Gesicht, das deutlich Ihren Argwohn zeigte. Sie waren überhaupt immer argwöhnisch und haben immer auf der Lauer gestanden. Es mag sein, daß es aus treuer Ergebenheit und Anhänglichkeit an Ihre Herrin geschah, aber solch eine Absicht ist für andere Leute nicht angenehm. Deswegen habe ich Sie das leere Haus ganz durchsuchen und so Ihren Argwohn befriedigen lassen. Lady Harry ist nicht hier verborgen, und was Lord Harry betrifft, – aber darüber werden Sie ohne Zweifel zur rechten Zeit hören. Und jetzt nehme ich auch keinen Anstand mehr, zu sagen, daß ich Myladys gegenwärtige Adresse kenne.«
»Bitte, sagen Sie mir, wo sich meine Herrin befindet.«
»Es hat den Anschein, als ob Lady Harry vor zwei Tagen über Paris nach der Schweiz gereist ist; sie hat ihre Adresse für die nächsten vierzehn Tage hieher geschickt. Sie wird jetzt, wie ich vermute, dort angekommen sein. Der Ort ist Bern, das Hotel – aber woher weiß ich denn, daß sie Sie haben will?«
»Natürlich will sie mich haben.«
»Oder vielmehr: natürlich wollen Sie sie haben. Das bleibt sich aber ganz gleich, ich trage dafür keine Verantwortlichkeit, sondern nur Sie. Ihre Adresse ist Hotel d'Angleterre in Bern. Soll ich es Ihnen aufschreiben? Hier haben Sie die genaue Adresse: Hotel d'Angleterre in Bern. Jetzt werden Sie es nicht vergessen. Aber sie will nur vierzehn Tage dort bleiben. Wohin sie sich dann begeben wird, kann ich Ihnen nicht sagen, und da alle ihre Sachen fortgeschickt sind und ich auch im Begriff stehe, Passy zu verlassen, so werde ich es wahrscheinlich auch nicht erfahren.«
»Ich muß zu ihr gehen, ich muß sie finden,« rief das Mädchen eifrig aus, »und wenn es nur ist, um mich zu überzeugen, daß mit ihr nichts Schlimmes beabsichtigt ist.«
»Das ist Ihre Sache. Ich für meinen Teil kenne niemand, der Mylady etwas Schlimmes wünscht.«
»Ist Mylord bei ihr?«
»Ich weiß nicht, ob Sie das etwas angeht. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß er fortgegangen ist, weit, sehr weit fort. Wenn Sie mit Ihrer Herrin in Bern zusammentreffen, werden Sie ja bald herausbekommen, ob er sich auch dort befindet.«
Etwas in dem Ton seiner Stimme ließ Fanny rasch aufblicken. Aber sein Gesicht verriet nichts.
»Was wollen Sie also thun?« fragte der Doktor. »Sie müssen sich jetzt schnell entschließen, ob Sie nach England zurückkehren oder nach der Schweiz reisen wollen. Hier können Sie nicht bleiben, weil ich die letzten Sachen zusammenpacke und noch heute abend dem Besitzer der Villa die Schlüssel des Hauses übergeben will. Alle Rechnungen sind bezahlt, und ich beabsichtige, sobald als möglich Passy zu verlassen.«
»Ich verstehe nichts von alledem!« flüsterte sie ratlos vor sich hin.
»Mein liebes Kind,« entgegnete der Doktor rauh, »was zum Teufel geht es mich an, ob Sie es verstehen oder ob Sie es nicht verstehen! Lady Harry befindet sich, wie ich Ihnen schon gesagt habe, in Bern; wenn Sie ihr nachreisen wollen, so thun Sie es; das ist Ihre Sache, nicht die meinige. Wenn Sie aber vorziehen, nach London zurückzukehren, dann gehen Sie eben wieder dahin, woher Sie gekommen sind, das ist ebenfalls Ihre Sache. Wünschen Sie sonst noch etwas zu wissen?«
Fanny wollte nichts weiter wissen. Sie nahm ihre Reisetasche wieder in die Hand – diesmal erbot sich der Doktor nicht, diese Tasche für sie zu tragen.
»Wohin gedenken Sie zu reisen?« fragte er. »Wozu haben Sie sich entschlossen?«
»Ich kann mit der Ringbahn bis auf den Lyoner Bahnhof fahren. Von dort aus will ich dann den ersten gewöhnlichen Zug benützen und nach Bern reisen.«
»Dann wünsche ich Ihnen eine glückliche Reise!« rief der Doktor vergnügt und schlug die Thüre zu.
*
Es ist eine lange Reise von Paris nach Bern, selbst für diejenigen, welche erster Klasse und mit einem Schnellzug fahren können – soweit sechzehn Stunden eine lange Reise genannt werden dürfen. Für diejenigen aber, welche in der dritten Klasse eines Personenzugs sich zusammenschütteln lassen müssen, der an jeder kleinen Station anhält, ist es eine überaus lange und ermüdende Reise. Doch selbst die längste Reise nimmt einmal ein Ende. Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof von Bern ein, und Fanny stieg mit ihrer Reisetasche in der Hand aus. Ihre Wanderungen waren damit für jetzt vorüber. Sie würde ihre Herrin in dieser Stadt finden und damit am Ziel angelangt sein.
Sie fragte nach dem Weg zu dem Hotel d'Angleterre. Der Sicherheitswachmann mit dem aufgekrämpten Hut sah sie erstaunt an. Sie wiederholte daher ihre Frage.
»Hotel d'Angleterre?« fragte er endlich. »Es gibt kein Hotel d'Angleterre in Bern.«
»O doch, es muß ein Hotel dieses Namens hier geben. Ich bin das Kammermädchen einer englischen Dame, welche in diesem Hotel wohnt.«
»Nein, hier gibt es gewiß kein Hotel d'Angleterre,« wiederholte er. »In Bern gibt es das Hotel Bernerhof.«
»Nein!« Sie zog das Papier heraus, auf welches ihr der Doktor die Adresse geschrieben hatte, und zeigte es dem Schutzmann: »Lady Harry Norland, Hotel d'Angleterre, Bern.«
»Hier gibt es ein Hotel Bellevue, ein Hotel Viktoria, ein Hotel Schweizerhof, ein Hotel zum Falken, ferner das Hotel Schroedel, das Hotel Schneider, die Pension Simkin.«
Fanny hatte jetzt noch keinen andern Argwohn, als daß der Doktor zufällig einen falschen Namen aufgeschrieben hätte. Ihre Herrin befand sich in Bern; sie würde also sicher in einem der Hotels sein. Bern ist keine große Stadt. Das war gut; sie konnte daher in kurzer Zeit alle Hotels aufsuchen und sich nach Lady Harry Norland erkundigen. Das that sie auch. Es gibt in der That in Bern nicht mehr als ungefähr ein halbes Dutzend Hotels, in denen eine vornehme Dame wohnen kann. Fanny ging in jedes hinein und fragte nach Lady Harry. Niemand aber hatte von einer Dame dieses Namens gehört; man zeigte ihr überall die Listen der in dem betreffenden Hotel wohnenden Fremden. Dann ging sie auf das Postbureau, aber auch dort hatte keine Dame dieses Namens nach Briefen gefragt. Dann erkundigte sie sich, ob es noch irgend welche Pensionen gäbe, und suchte auch diese auf, aber ebenso vergeblich.
Jetzt blieb kein anderer Schluß übrig: der Doktor mußte sie absichtlich getäuscht haben. Um sie aus dem Wege zu schaffen, schickte er sie nach Bern; er würde sie selbst nach Jericho geschickt haben, wenn ihr Geld für diese Reise gereicht hätte. Sie war also einfach betrogen worden.
Sie zählte ihr Geld. Es waren genau achtundzwanzig Schillinge und zehn Pence in ihrem Geldbeutel.
Darauf ging sie wieder in die billigste und unansehnlichste der Pensionen, die sie besucht hatte, zurück. Sie setzte der Besitzerin ihre Lage auseinander. Sie hätte ihre Herrin verfehlt und müßte daher warten, bis sie Nachricht, wohin sie nachkommen sollte, und das Geld zur Reise erhielte. Würde man sie, bis das eine oder andere einträfe, hier aufnehmen? Natürlich wollte die Wirtin sie aufnehmen für fünf Franken täglich, an jedem folgenden Morgen zu zahlen.
Sie machte sich einen kleinen Ueberschlag über ihre Mittel – sie hatte achtundzwanzig Schillinge und zehn Pence, das sind genau fünfunddreißig Franken – hinreichend für sieben Tage. Wenn sie sofort an Mrs. Vimpany schrieb, so konnte sie in fünf Tagen eine Antwort erhalten.
Sie nahm daher das Anerbieten der Wirtin an, bezahlte ihre fünf Franken und wurde in ein Zimmer geführt. Zugleich sagte man ihr, daß das Diner um sechs Uhr aufgetragen werde.
So weit war alles gut. Hier hatte sie wenigstens Ruhe und konnte darüber nachdenken, was zu thun sei. Zuerst schrieb sie zwei Briefe, einen an Mrs. Vimpany und einen an Mr. Mountjoy.
In diesen beiden Briefen erzählte sie genau, was ihr seit ihrer Ankunft in Passy begegnet war.
In dem Brief an Mr. Mountjoy fügte sie die Bitte hinzu, er möge ihr gütigst das Geld zur Rückreise schicken: ihre Herrin würde es ihm sicherlich wieder zurückerstatten.
Sie trug beide Briefe selbst auf die Post – es war am Dienstag – und wartete gespannt auf die Antworten.
Mrs. Vimpany schrieb sofort zurück:
»Meine liebe Fanny, ich habe Ihren Brief mit dem größten Interesse gelesen. Ich fürchte nicht nur, daß irgend eine neue Schurkerei im Gang ist, sondern ich bin vollkommen davon überzeugt; wir wollen nur hoffen und Gott bitten, daß Mylady nicht darunter zu leiden hat. Sie werden erfreut sein, zu hören, daß Mr. Mountjoy sich wieder wohler befindet. Als er so weit wieder hergestellt war, daß er den Anprall einer heftigen Erregung aushalten konnte, übergab ich ihm Lady Harrys Brief. Es war gut, daß ich es nicht eher gethan hatte, denn er war so außer sich über den Inhalt des Schreibens, daß ich fürchtete, er würde einen Rückfall bekommen. ›Kann eine Frau,‹ rief er aus, ›entschuldigt werden, daß sie wieder zurückkehrt zu ihrem unwürdigen Gatten, bevor er eine ernste Besserung bewiesen hat?! Was nützt es, wenn sie auch tausend Briefe mit reuevollen Versicherungen empfangen hat? Die Aufrichtigkeit seiner Reue soll sich in Handlungen, nicht in Worten zeigen; sie hätte noch warten sollen.‹ Er schrieb einen Brief an sie, den er mir zeigte. ›Steht in dem Brief irgend etwas,‹ fragte er mich, ›wodurch sie sich beleidigt fühlen könnte?‹ Ich konnte nichts finden. Er schrieb ihr, aber ich fürchte, es ist leider zu spät, daß sie sich der Gefahr der Erniedrigung aussetze, ja, vielleicht noch etwas Schlimmerem, wenn es noch etwas Schlimmeres gäbe, wenn sie darauf bestünde, zu ihrem unwürdigen Gatten zurückzukehren. Im Fall, daß sie seinen Rat nicht mehr wünsche, so bitte er, sie möge ihm bei dieser letzten Gelegenheit, wo er sich erlaube, ihr seinen Rat anzubieten, dann nicht antworten; ihr Schweigen würde ihm Antwort genug sein. Das war in kurzem der Inhalt des Briefes. Bis heute hat er noch keine Antwort von Lady Harry erhalten und ebensowenig irgend eine Mitteilung, ob der Brief sie überhaupt erreicht hat. Wie soll man das Schweigen deuten? Doch offenbar nur so, daß sie in Zukunft auf seine Ratschläge verzichtet.
»Sie müssen über Paris zurückkehren, obgleich die Reise weiter ist als über Basel und Laon. Mr. Mountjoy wird Ihnen, wie ich weiß, das Geld schicken. So viel hat er mir gesagt. ›Ich bin jetzt mit Lady Harry fertig,‹ fügte er dann noch hinzu. ›Was sie thut, und wohin sie geht, das kümmert mich jetzt nicht weiter, aber ihrem Kammermädchen werde ich das Geld schicken, nicht als ein Darlehen, welches zurückbezahlt wird, sondern als ein Geschenk von mir.‹
»Deshalb, meine liebe Fanny, bleiben Sie wenigstens für eine Nacht in Paris und suchen Sie, wenn möglich, zu erfahren, was in Passy eigentlich geschehen ist. Vielleicht können Sie die Pflegerin ausfindig machen und sie darnach fragen. Mit dem, was Sie schon wissen, ist es fast unmöglich, daß wir nicht die Wahrheit herausbekommen sollten. Die Leute müssen doch aufzufinden sein, die die Nahrungsmittel und all die sonstigen zum Leben notwendigen Gegenstände in die Villa geliefert haben – der Restaurateur, der Apotheker, die Wäscherin – Sie kennen sie ja gewiß alle schon; suchen Sie sie auf, und sprechen Sie mit ihnen; Wir werden dann die Ergebnisse zusammenstellen. Was die Suche nach Ihrer Herrin betrifft, so hängt der Erfolg ganz und gar von Ihnen allein ab. Ich erwarte Sie in ungefähr einer Woche hier in London. Sollte sich inzwischen hier etwas von Wichtigkeit ereignen, so werde ich es Ihnen erzählen, wenn Sie mich aufsuchen.
Ihre ganz ergebene
A. Vimpany.«
Der Inhalt dieses Briefes stimmte ganz mit dem überein, was sich Fanny schon selbst vorgenommen hatte. Der Doktor hatte jetzt Passy verlassen. Sie war fest überzeugt, daß er nicht allein in der Villa zu bleiben beabsichtigte, denn die Vorstadt Passy, so reizend sie auch in verschiedenen Beziehungen ist, ist nicht gerade der Ort, der einen Mann von Mr. Vimpanys Charakter fesseln könnte. Sie wollte einen oder zwei, oder wenn es notwendig wäre, auch drei Tage in Passy bleiben und dort alle die Erkundigungen einziehen, von denen Mrs. Vimpany in ihrem Brief gesprochen hatte.
Am gleichen Tag brachte ihr die Post den bereits von Mrs. Vimpany angekündigten Brief Mountjoys nebst einem Postmandat, welches auf hundertundfünfundzwanzig Franken lautete; er hoffe, schrieb Mountjoy, daß diese Summe für ihre augenblicklichen Auslagen genügen würde.
Fanny trat ihre Rückreise noch an demselben Tag, einem Sonnabend, an. Am Sonntag abend traf sie in Passy ein mit der Absicht, dort Erkundigungen einzuziehen.
Die erste Person, die sie aufsuchte, war der Besitzer der Villa, ein kleiner Rentner, der, nachdem er sich ein hübsches Vermögen durch einen Fleischhandel erworben, dasselbe in diesem Besitztum angelegt hatte. Fanny sagte ihm, daß sie das Kammermädchen von Lady Harry Norland sei, welche noch vor kurzem diese Villa bewohnt habe. Sie möchte gern die gegenwärtige Adresse der Dame wissen.
»Mon dieu, woher soll ich die denn kennen?« antwortete er. »Die Frau des englischen Lords hatte so viel Liebe zu ihrem Gatten, daß sie ihn während seiner langen Krankheit allein ließ.«
»Während seiner langen Krankheit?«
»Gewiß, während seiner langen Krankheit. Mademoiselle ist vielleicht nicht bekannt mit dem, was sich hier ereignet hat. Mylady ist nicht einmal gekommen, um ihren verstorbenen Gatten noch einmal zu sehen, bevor er begraben wurde; sie ist eben eine Frau nach englischer Art.«
Fanny atmete schwer.
»Ihren verstorbenen Gatten? Ist Lord Harry gestorben? Wann starb er denn?«
»Aber haben Sie denn das nicht gehört, Mademoiselle? Der englische Lord starb am Donnerstag morgen – es ist jetzt zehn Tage her – an der Lungenschwindsucht, und er wurde auf dem Friedhof von Auteuil gestern vor acht Tagen begraben. Mademoiselle scheinen erstaunt!«
»In der That, Monsieur, ich bin sehr erstaunt.«
»Es ist auch schon ein Grabstein zur Erinnerung an den unglücklichen jungen Mann errichtet, welcher, wie man sagt, einer sehr vornehmen irischen Familie angehören soll. Mademoiselle können sich davon mit eigenen Augen auf dem Friedhof überzeugen.«
»Bitte, noch einen Augenblick, Monsieur. Würden Sie wohl die Güte haben, mir zu sagen, wer die Pflegerin von Mylord während der letzten Zeit war?«
»Aber gewiß. Jedermann kennt die Witwe La Chaise. Es war die Witwe La Chaise, welche der Doktor holen ließ. Ja, das war ein Mann, dieser Doktor! Was für eine Leuchte der Wissenschaft! Welche Aufopferung für seinen Freund! Welche bewunderungswürdige Gefühlstiefe er besaß! Es ist wahr, die Engländer können tief und wahr fühlen, so weit es ihre zur Schau getragene Kälte gestattet. Die Witwe La Chaise ist sehr leicht zu finden.«
Er gab Fanny in der That die Adresse der Pflegerin. Damit versehen, machte sie sich, nachdem ihr der Wirt noch die Hauptsachen über Lord Harrys vorgeblichen Tod erzählt hatte, auf die Suche nach der ehrbaren Witwe.
Sie fand sie in ihrer Wohnung, wirklich eine ehrbare Frau, welche sogleich bereit war, alles zu erzählen, was sie wußte. Sie hatte augenscheinlich nicht den geringsten Verdacht, daß irgend etwas Unrechtes geschehen war. Sie war am Donnerstag morgen aufgefordert worden, die Pflege eines kranken Mannes zu übernehmen; man hatte ihr gesagt, der Kranke sei ein junger irischer Lord, der gefährlich an einem Lungenleiden darniederliege. Der Doktor teilte ihr in der That mit, daß das Leben des Kranken nur an einem Faden hinge und daß es jeden Augenblick mit ihm zu Ende gehen könne, obgleich er andererseits auch Fälle gekannt hätte, bei denen der Tod erst nach Monaten eingetreten sei.
»Als ich kam,« erzählte die Pflegerin, »lag der Kranke in tiefem Schlaf.«
»Sind Sie sicher, daß er schlief und nicht etwa schon tot war?« fragte Fanny scharf.
»Mademoiselle, ich bin viele Jahre lang Krankenpflegerin gewesen; ich kenne mein Geschäft, ich kenne meine Pflichten. In dem Augenblick, als mich der Doktor mit dem Patienten allein gelassen hatte, überzeugte ich mich von der Richtigkeit der Angaben, die er mir gemacht. Ich untersuchte, indem ich den Puls des Kranken fühlte und seinen Atem beobachtete, daß er wirklich schlief.«
Fanny gab keine Antwort; sie konnte unmöglich dieser ehrbaren Frau ins Gedächtnis rufen, daß sie, sobald der Doktor sie verlassen hatte, sich zuerst damit beschäftigte, den Wandschrank, die Schubladen und andere Dinge zu untersuchen; daß sie dann ein Buch mit Bildern fand, in dem sie ungefähr eine Viertelstunde las, und daß sie darauf das Buch sinken ließ und einschlafen wollte.
»Dann traf ich Vorbereitungen,« fuhr die Witwe fort, »welche sein Aufwachen verhindern sollten; auch zog ich die Vorhänge auf und kehrte die Bettstücke um, um das Bett zu lüften – o Madame, Madame, das war alles unnötig! – schüttelte die Federn auf und that alles das, was die Pflicht einer gewissenhaften Pflegerin ist, bis die Zeit herankam, wo ich meinem Patienten zum erstenmal Medizin geben sollte. Stellen Sie sich nun vor, der, den ich ruhig atmend gefunden hatte – mit der Regelmäßigkeit eines Wiedergenesenden atmend, nicht etwa so schwer, wie ein Sterbender zu atmen pflegt – den fand ich tot! Er war tot.«
»Sind Sie auch sicher, daß er tot war?«
»Als ob ich niemals zuvor einen Toten gesehen hätte! Ich rief den Doktor; es geschah nur der Pflicht wegen, denn ich wußte ja ganz genau, daß er tot war.«
»Und dann?«
»Dann fühlte der Doktor, der doch auch gewußt haben mußte, daß er tot war, seinen Puls und sein Herz und sah ihm in die Augen und erklärte hierauf, daß er wirklich tot sei.«
»Und dann?«
»Was dann? Wenn ein Mann tot ist, dann ist er tot. Sie können ihn nicht mehr zum Leben zurückrufen. Der Doktor that aber noch etwas. Er brachte einen photographischen Apparat herbei und photographirte den Toten für seine Freunde.«
»So, so, er photographirte also Lord Harry Norland. Zu welchem Zweck that er das?«
»Ich sagte es Ihnen ja schon: für seine Freunde.«
Fanny war verwirrter denn je. Was in aller Welt wollte der Doktor mit einer Photographie des Dänen Oxbye? Beabsichtigte er wirklich, sie den Freunden Lord Harrys zu zeigen? Konnte er wirklich einen so groben Fehler gemacht haben, ohne daß ihn jemand dazu gezwungen hätte? Es war einfach unmöglich, daß jemand das Gesicht des armen Dänen für das Gesicht Lord Harrys halten konnte.
Sie hatte alles erfahren, was sie wollte, in der That alles, was für sie von Nutzen sein konnte. Eins blieb noch übrig: sie wollte das Grab sehen.
Der Friedhof von Auteuil ist nicht so groß wie der Pèrelachaise; auf ihm ruhen auch nicht so viele berühmte Personen wie auf dem letztern, der vielleicht, wenn man die berühmten Toten in Betracht zieht, der berühmteste Friedhof in der ganzen Welt ist. Der Friedhof von Auteuil ist die letzte Ruhestätte der besseren Klassen. Seine Gräber sind nicht die Gräber von Unsterblichen, aber doch die Gräber von angesehenen Leuten.
Unter ihnen fand Fanny leicht, indem sie den ihr gegebenen Weisungen folgte, das Grab, welches sie suchte.
Der Grabstein trug in englischer Sprache die Aufschrift: »Gewidmet dem Andenken Lord Harry Norlands, des zweiten Sohnes des Marquis of Malven«, dann folgte das Datum und das Alter; sonst nichts.
Fanny ließ sich auf eine Bank nieder und betrachtete den lügnerischen Stein.
»Der Däne Oxbye befand sich,« sagte sie zu sich, »auf dem Weg rascher Besserung. Das war der Grund, weswegen man mich fortschickte. Am nächsten Tag vergiftete ihn der Doktor, der mich schon weit entfernt glaubte. Ich sah, wie er es that. Der Pflegerin wurde gesagt, daß er eingeschlafen sei, und erst später entdeckte sie, daß er tot war. Ihr gegenüber wurde der Kranke für einen jungen irischen Lord ausgegeben, und er wurde dann auch unter dem Namen Lord Harrys begraben. Deshalb fand ich auch den Doktor allein. Und Mylady? Wo ist sie?«