Autorenseite

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil


I.

Quot in littore conchae
Tot in amore dolores

Die Schaluppe trieb, stark nach Steuerbord geneigt, auf den großen Wogen der Mündungsbucht dahin, dem Eingang des Brivetflüßchens zu.

Hier, wo die Loire sich zur Breite mehrerer Flüsse weitet, wurde die Brise steifer; und das große, schlammbespritzte Segel, das an ein uraltes Segel aus Tierhäuten gemahnte, war kraftvoll geschwellt.

Es war ein Torfboot, das seine Ladung verkauft hatte und jetzt von Nantes zurückkam, eines jener schwergebauten Schiffe, die aber trotz allem, durch das wohlberechnete Verhältnis ihrer fünfunddreißig Fuß Länge von der Spitze bis zum Ende gemessen, bei nur zwölf Fuß Breite, sehr wendig sind. Kohlschwarz und verräuchert vom Kiel bis zur Mastspitze, gleiten sie dahin wie flüchtige Schatten. So viele Torfschollen sind schon unter diesem Takelwerk hingerollt, die im bunten Durcheinander an allen Ecken und Enden des Decks aufgeschüttet waren, daß es aussah, als wäre das Schiff selber aus dem brennbaren Stoff gemacht.

Ganz schwarz war es da drinnen und ganz still.

Ein großer Bursche mit breit gebauten Schultern saß mitten auf Deck. Er ließ die Beine in den leeren Laderaum baumeln und besserte einen Henkelkorb aus oder tat wenigstens so; denn mit einem Blick von unten schielte er unaufhörlich nach dem alten Seemann hin, der vor ihm am Steuer stand:

Es war ein hochgewachsener, grauhaariger Alter von hagerer Statur. Unter dem kleinen, tief in die Stirne gezogenen Hut sah ein Raubvogelgesicht hervor, in dem zwei schwarze Augen blitzten. Seine kurze Bluse, die an den Handgelenken eng anschloß, sah aus, als ob sie aus Torf gewebt sei; auch die Hosen schienen aus dem gleichen Stoff gemacht zu sein. Wie angewachsen stand er am Heck, das er mit seiner unbeweglichen Gestalt überragte. Seine Pfeife war ausgegangen. Er preßte die Kiefer fest aufeinander, blähte die Nüstern, als genösse er die Fahrt stromabwärts: er, der Herr seines Schiffes und der Geschwindigkeit seiner Fahrt, Herr über Leib und Seele. Aber während der alte Wiking aus pechschwarzem Torf geformt schien, war die Kleidung des jungen Burschen einheitlich braun, so braun wie eine Kastanie oder wie eine alte Honigwabe, die von der Sonne vieler Sommer geröstet und gebräunt ist.

»Zum letztenmal, Augustin«, rief der Bursche in flehendem Ton, »zum letztenmal bitt' ich Euch jetzt …«

»Ich gebe nichts auf dein Gewinsel«, unterbrach ihn der Alte. Und mit einer Bewegung seiner groben, schwieligen Hand: »An die Arbeit, hol ein Reff ein! …«

Der andere gehorchte, freilich nicht, ohne zu murren, raffte einen Bootshaken auf und ging dann barfuß, wie er war, nach vorn auf seinen Posten.

Der Wogengang war noch stärker geworden; die Wellen peitschten heftig gegen die breiten Flanken; die Barke tanzte in dem schäumenden Gischt auf und ab.

Manch einer ist hier schon zugrunde gegangen, besonders bei den winterlichen Sturmfluten; und auch der Schaluppe drohte die Gefahr, unter der Wucht der Strömung im Schlamm der steilen Uferböschung des Nebenflusses aufzulaufen.

»Stopp!« kommandierte der Alte.

Und schon fuhr die Stange in den Schlamm und gebot den reißenden Wassern der Loire Einhalt. Die Schaluppe fuhr mit dem Achterdeck herum, schwankte in den gurgelnden Wirbeln hin und her. Schließlich richtete sie sich wieder auf, löste sich aus den saugenden Strudeln des Kielwassers und gewann die ruhig glatte Fläche der schmalen Fahrrinne.

 

Nun kam eine recht armselige Landschaft mit verwahrlosten Hütten und mageren Gärtchen zum Vorschein, ganz verrußt von den nahen Hochöfen von Trignac, diesen ewig qualmenden Ungeheuern, die sich zwischen den Erzgruben am Rand der Ebene breitmachten. Die Barke ließ die lärmenden Eisenwerke rasch hinter sich und fuhr zwischen den Wiesen hin, die sich dort von den Gestaden des Meeres an in unabsehbare Fernen verlieren.

Auf dem Spiegel des schmalen Wasserlaufes schaukelte sie gemächlich dahin, zuweilen vom Stoß der Ruderstange angetrieben, so daß sie sich wie ein aufgescheuchter Schwan ruckweise im Wasser fortbewegte.

Kein Wort mehr wurde auf dem Schiff gesprochen. Der Alte ließ seinen Blick über die Gegend schweifen und genoß mit vollen Zügen den heiteren Frieden, der über den Wiesen von Donges lag. Der Bursche hatte mit dem Herumhantieren aufgehört und lehnte mit trüber Miene an der Bordwand. Kahl wie die Wüste zogen die unabsehbar weiten Wiesenflächen vorüber. Das spärliche Gras war ausgedorrt, kein Baum weit und breit, nur hie und da ein paar Ginsterbüsche, dann wieder ein paar Schafe, die sich wie kleine Torfhaufen ausnahmen. – Aber schon tauchten in der dunstigen Ferne ein paar hellgelbe Flecken auf, das wohlvertraute Schilfdickicht der Brière.

Der Bursche ballte die Fäuste, und seiner Brust entrang sich eine dumpfe, düstere Klage; es klang wie das Brummen eines Bären.

Der Tag ging zu Ende. Bald sind sie am Ziel. Der alte Bogen der Rozébrücke wurde größer und größer und auch die Häuser darüber, die aussahen wie Zollhäuschen. Am Brückengeländer zog eine Herde von Kühen vorbei und spiegelte sich im klaren Wasser.

Unten standen die Barken in Reih und Glied längs der Böschung; denn infolge der Verschlammung des Flüßchens konnten nur Kähne mit Flachboden weiter aufwärts fahren.

Die Fahrt der Schaluppe wurde langsamer.

»Augustin, um Gottes willen!« rief der junge Mann, als das Schiff anlegte.

»Gott hat damit nichts zu tun«, gab ihm der Alte zurück, »ich hab' meine Arbeit getan und du die deine, weiter haben wir uns nichts mehr zu sagen …«

Und verächtlich spuckte er in die Strömung.

Da ließ der Junge alles liegen und stehen, nahm seine Siebensachen unter den Arm und sprang ans Land. Dann drehte er sich wütend um, lief ein Stück zurück und ballte die Faust.

»Nie werde ich verzichten! Nie! Hörst du, alter Henkersknecht? Du wirst damit nur Unheil stiften.«

Aber der alte Henkersknecht schien nicht einmal hinzuhören. Er nahm seine Stangen zusammen und holte die leeren Säcke aus dem Laderaum. Dabei lud er sich so riesige Mengen auf die Schultern, daß man daraus auf einen erklecklichen Rest von Jugendkraft schließen konnte, die einst mühelos Hebebäume geschwungen hatte. Dann machte er seine Segel fest, hob das Steuer aus und brachte alles in Ordnung, ohne sich zu beeilen.

Säcke, Rahe, Segel – alles, was nicht niet- und nagelfest war, trug er auf seiner Schulter fort, wobei er etliche Male zwischen dem Boot und dem Anbau des Wirtshauses an der Brückenauffahrt hin und her gehen mußte. Als er damit fertig war, ging er in die Wirtsstube, wie er es bei seinen alljährlichen Fahrten gewohnt war. Hier trank er den Landungstrunk, ehe er den Heimweg nach seiner Insel antrat.

Die Gaststube war leer. Er ließ sich an einem Tisch nieder.

Immer saß er am gleichen Platz – zum vierzigstenmal seit vierzig Jahren – nahe beim Fenster, von dem man einen Ausblick auf die Wiesen hatte wie von der Kommandobrücke eines Schiffes aus.

Als sein Gläschen Muskateller vor ihm stand, in dem Luftbläschen aufstiegen wie Perlen aus dem Maul des Karpfens, zog er – den Rücken der Küche zugewandt – die Lederbörse heraus und zählte sein Geld vor sich hin: Sous zu Sous, Francs zu Francs; denn auch das war eine alte Gewohnheit von ihm, hier sein Geld nochmals zu zählen und zu sortieren.

Die Geldscheine prüfte er gesondert. Dank seines guten Gedächtnisses fiel ihm bei jedem Schein ein, woher er stammte: Der hier war von einer Wäscherin des Magdalenen-Viertels, dieser von einem Wachszieher am St.-Annen-Hügel. Ebenso erinnerte er sich bei allen folgenden sogar an den Tag, die Zeit und den Ort des Verkaufes. Die Scheine schichtete er dann zu einem schmiegsamen Bündel aufeinander, das wie Seide in seiner großen, dunklen Hand knisterte.

»Hundertfünfzig Francs weniger als letztes Jahr, zweihundertzwanzig Francs weniger als im Jahr zuvor, vierhundert Francs weniger als vor drei Jahren.«

»Brière, Land des Elends … sollte man dich eigentlich heißen.«

Seit Jahrhunderten hatte man dort Torf gestochen. Er erinnerte sich, wie sein verstorbener Vater einmal erzählt hatte, daß er bei einer Überschwemmung im Winter seinen Kahn an der Türklinke festmachen konnte. Diese Tatsache ließ deutlich erkennen, um welche Mengen von schwarzer Erde die Brière ärmer geworden war. Statt dieser Berge von bestem Torf, der einst in vollbeladenen Schaluppen verfrachtet wurde und einen beträchtlichen Gewinn in Paimboeuf, in Nantes, ja sogar in dem weit entlegenen Angers abwarf, würde man jetzt bald nur noch Schilf und Riedgras ernten. Man hatte einen Schutthaufen aus der Insel gemacht.

Aber mit den Menschen stand es nicht besser; sie hatten jede Ehrfurcht eingebüßt vor den Quellen ihrer Kraft. Bald wird der Tag kommen, da sie in ihrer grenzenlosen Verblendung nicht einmal mehr die Zusammenhänge der unabänderlichen Gesetze über Leben und Tod kennen, die ihre Vorfahren zu Nutz und Frommen kommender Geschlechter aufgestellt hatten … Ach Gott! … Er hatte übergenug an dem Beispiel von heute abend.

Und dieses Erlebnis war auch Anlaß, weswegen er die ganze Zeit halblaut vor sich hinbrummte, während hinter dem Fenster die Sonne im aufsteigenden Wiesennebel versank. Das war für ihn eine Mahnung, daß es Zeit wäre zum Aufbruch. Er bezahlte seine Zeche, griff nach dem Stock, hängte seinen Rucksack um und wanderte mit großen Schritten über die lange einsame Straße hin.

 

Die Straße war neu gebaut an Stelle des alten erbärmlichen Weges, der immer einsank und im Winter meist unter Wasser stand, aber doch bis heute in dieser gottverlassenen Gegend seinen Dienst getan hatte. Zwischen den Wiesen von Montoir hin, die sich endlos weit ausdehnen, führt sie geradenwegs nach Norden ohne Abzweigung und Kreuzung; nur ein paar Kanäle muß sie überqueren.

Nur selten taucht ein kleines Dörfchen auf: ein paar weiße Häuser mit Strohdächern, dahinter eine Reihe von knorrigen Weiden, die sich über einen von Enten belebten Tümpel neigen.

Er ging vorüber. Ganz deutlich konnte er durch die offenen Türen das Klappern der Löffel in den Schüsseln vernehmen. Manchmal begegnete er einem schwarzen Torfstecher, der sich verspätet hatte.

Die Sonne ging unter. In den Wiesen, die soeben noch trocken dalagen, stieg das Grundwasser auf und überzog sie mit feinen Wasseradern. Mitunter bildeten sich große Lachen, aus denen nur noch ein paar Schilfspitzen und Distelköpfe herausragten, die sich im rotvioletten Rund der Heide verloren. Nebel und Himmel über der Heide; alle Übergänge zwischen Erde und Luft sind verwischt, und in der grenzenlosen Weite tönt jetzt zur Flutzeit der Sirenenruf der großen Dampfer, die nach Amerika fahren.

Mitten zwischen diesen Lagunen weiden überall Kühe; sie trotten mit ihrem langsamen Schritt dahin oder stehen unbeweglich am Rande des Wassers, in dem sich der purpurrote Abendhimmel spiegelt.

Rüstig schritt er aus und ließ dabei auch seinen Gedanken freien Lauf. Das war immer so, wenn er von Nantes zurückkam. Es war ihm nicht unlieb, einmal im Jahre in dieser großen Hafenstadt die frohe Erinnerung an seine Jugendfahrten wieder aufzufrischen: diese Fahrten nach Amsterdam, Genua, Archangelsk. Aber sobald der kräftige Abendwind der Insel ihn wieder umfing wie eben jetzt, und er den Rauch der Hütten am Wege aufsteigen sah und den anheimelnden Geruch der Torfscholle wieder einsog, fühlte er sich beschwingt wie eine Wildente, wenn sie von fern das Wasser ihres Weihers aufglänzen sieht. Die Erdkarte zerfiel für ihn unweigerlich in zwei Teile: einmal die Kontinente, sodann die Brière. Ebenso gab es nach seiner Ansicht auch nur zwei Sorten von Menschen: solche von anderswoher und die Einheimischen vom Torfgebiet, die wilden Söhne dieser schwarzen Erde, geboren wie er im schwankenden Boot auf einem Bündel Stroh.

»Wenn du nicht von Kindesbeinen an auf der Brière groß geworden bist, dann wage dich nicht hierher … Denn was sind das für Leute, deren Wiege nicht im Schilf des Moores stand? Allenfalls ein paar Jahrmarktströdler, Gerichtsvollzieher und ähnliche Angestellte der Justiz. Die anderen hatten ja keine Ahnung, was dahinten vor sich ging. Der Reisende auf der Eisenbahn sieht nur Wiesen, die im Nebel liegen; und das ist auch gut so. An die tausend Meilen trennen den Bewohner der Brière von der übrigen Welt; und du siehst es auch nicht gern, wenn irgendein Fremder in deinem Gesichtskreis auftaucht. Deinem Gesichtskreis? Was von draußen kommt, ist gleichbedeutend mit Unrecht und Übervorteilung. Jeder bleibe für sich! Und sie waren für sich … Sie würden sich auch zu verteidigen wissen. Überrumpeln lassen sie sich nicht. Mißtrauisch waren sie durch und durch, und immer hing an der Wand im sicheren Gewahrsam die alte Flinte des Urahns. Jahrhundertelang bist du wie ein Aal durch die gepanzerte Faust der Barone von Ranrouet geglitten. Den Gaugrafen von Donges hast du heimgeleuchtet, als die verdammten Blutsauger dir deinen Herd besteuern wollten. Und erst neulich, als die Straßenbauverwaltung es unternahm, den Brivetfluß zu kanalisieren und schon einen Haufen von Arbeitern auf die Brière losgelassen hatte, hast du nichts gesagt; du hast sie ruhig werken lassen. Dann aber bist du wild geworden, hast die Mauern eingerissen, die Brücken angesteckt und die ganzen Anlagen kurz und klein geschlagen.«

Er erinnerte sich noch gut daran, denn er war ja auch mit dabei gewesen …

Er ging rascher. Bei jedem Schritt schlug der Stock auf dem Boden auf. Er ging an der Stelle vorüber, die im Volksmund »Clairvaux« hieß. Hier war während der Revolution unter den Schüssen der im Schilf verborgenen Frauen ein Trupp Dragoner gefallen. Ihr ganzes Verbrechen bestand darin, daß sie das Land durchquerten, um nach der oberen Bretagne zu ziehen; und ganz gewiß lagen sie immer noch in den Tiefen wie die gewappneten Ritter, die man nach Jahrhunderten in den Torfmooren von Lancashire aufgefunden hat.

Seit fast vierzig Jahren, die er nun schon Wächter der Brière war, hatte er ihre ältesten Geheimnisse, die sie barg, ergründet.

Jawohl, hier waren sie unter sich … ein Stück Erde, das gleichsam sein ganz eigenes Gepräge hatte … eine merkwürdige Mischung aus allen Elementen der Schöpfung. Aber es war ihr ureigenster Lebensraum, und etwas von dem tiefsten Wesen dieser Insel kreiste in ihrem Blut. Kein Grashalm, keine Pfütze, die nicht ihre gemeinsame Habe gewesen wären. Alles gehörte ihnen, all der Schlamm, all das Schilf … Und dies seit dem glückhaften Jahr, da die gütige Herzogin sich ihrer Armseligkeit erbarmt hatte und ihnen diese große Urkunde unterschrieb, die noch immer Gültigkeit besaß. Ein bedeutender Markstein in ihrer Geschichte! … So selbstverständlich wie der Salzgehalt im Meer waren die Gefühle der Dankbarkeit, die ihn erfüllten, wenn er daran dachte … Ein gewaltiges Vermächtnis! … Und jedesmal, wenn er von seinen Reisen zurückkam, wurde ihm die Erinnerung daran aus allem, was ihn umgab, wieder lebendig; sie schwebte gleichsam über seinem Kopf wie der weite Himmel der Brière, an dem nun schon nach und nach die Sterne zu leuchten begannen.

Er ging immerzu – denn es ist weit bis nach Fédrun –, während seine Augen in der zunehmenden Dämmerung jede Einzelheit der Umgebung zu erkennen suchten.

Für einen Augenblick wurde er durch das Rattern von Fuhrwerken aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Es waren die vielen Wagen, die Abend für Abend in langer Reihe unter Peitschenknall und beim Knirschen der Räder die Brièrebewohner heimbringen, die in Trignac arbeiten und nach getanem Tagewerk noch diesen meilenweiten Weg zurücklegen müssen, um wieder heim auf ihre Insel zu kommen.

Sie rollten im Dunkeln dahin, vollbeladen mit Männern, deren Kleider im Winde flatterten; und der Wanderer mußte in den Graben flüchten, um die wilde Jagd vorbeizulassen. Er schimpfte vor sich hin, denn er war wie alle Leute seines Alters nicht gut auf diese neuzeitlich denkenden Menschen zu sprechen, die sich durch den Lohn auf den Hütten hatten bestechen lassen.

Die Wiesen hörten jetzt auf; es gab nur noch Niederungen mit Riedgras, das nicht zu mähen war, und unzähligen Sumpflöchern. Bis an den Straßenrand hin wucherten die Wassernelken, und zuweilen zeigte sich auf den verschlafenen Tümpeln der länglichschwarze Umriß eines Bootes, das dort wie vergessen lag.

Je weiter er in die Sumpfniederung hineinkam, um so dichter wurde der Nebel. Er beeilte sich, und sein Schritt klang so eisenhart durch die Stille, daß zwei Reiher davon aufgescheucht wurden. Langsam flogen sie, einer hinter dem andern, über das Wasser hin; ihre großen Flügel schimmerten blau im Dunkel der Nacht.

 

Der Mond stand schon hoch am Himmel, als er die Inseln erreichte.

Sie schliefen alle, eingehüllt in das schimmernde Laub ihrer großen Ulmen; und die strohgedeckten Hütten am Rande der Bootseinfahrten traten so deutlich hervor wie am hellen Tage. Nirgendwo regte sich ein Hauch; kein Laut störte den Frieden der schönen Sommernacht.

Er schlug einen Seitenpfad im Gestrüpp ein, um den Weg abzukürzen. Dumpf klang der Torfboden unter seinen Schritten. Fast überall stand Wasser. Aber sein Fuß fand die großen Steine, die in Abständen in die sumpfigen Stellen geworfen waren. Unter den Bäumen, die sich am Ufer der Insel Pendille hinziehen, ging er fürbaß. Die Enten, die dort im Mondschein schliefen, hoben sich als helle Flecken vom Grase der Uferböschung ab. Er mußte noch durch manches Weidendickicht hindurch, über große Wurzeln und Torflöcher steigen, durch Schlammpfützen waten, bis endlich die Bäume seiner Heimatinsel Fédrun in Sicht kamen.

Einsam und in Schweigen versunken lag sie im nächtlichen Dunstschein wie ein Nebeleiland. Diamanten spiegelten sich die Sterne in den Fluten rings umher. Schimmernde Wolkenschleier stiegen in die Höhe; und über die großen Schilfrohrflächen, die die stillen Wasser der Teiche überzogen, verlor sich der Ruf der Uferdrossel in der Ferne.

Alle Hütten waren wohlverschlossen. Er folgte dem Uferpfad unter den Ulmen, der rings um die Insel führt, ohne sich um das wütende Gebell der Hunde zu kümmern, die durch seine Schritte aufgestört wurden und sich gegenseitig aneiferten. Als dann1 an der letzten Wegbiegung die Seitenwand seines Häuschens auftauchte, die heller als alle anderen im Mondschein schimmerte, weil er sie erst neulich frisch gekalkt hatte, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte auf die weiße Mauer. Der dunkle Umriß einer männlichen Gestalt schlich sich dort entlang. Er glaubte bestimmt die Gestalt zu kennen. Verdammter Kerl! Ein Fluch entfuhr ihm so laut, daß die Nachbarn davon hätten wach werden können, und kochend vor Wut rannte er geduckt und immerzu schimpfend mit erhobenem Stock darauf los.

Aber das Gäßchen war leer. Alles still ringsum.

Niemand mehr …

Vor der Tür blieb er stehen und untersuchte sie genau von oben bis unten; dabei entdeckte er, daß der Riegel tatsächlich nicht vorgeschoben war.

»Wenn er es wirklich war!« … sagte er leise zu sich, »wenn der Kerl da herausgekommen ist solch ein Weiberpack!«

Mit der Schulter stieß er die Tür auf, blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen und ließ seinen funkelnden Blick durch die stille Stube schweifen. –

 

Die zwei Frauen, die bei der Lampe saßen, schraken zusammen. Verängstigt erhob sich die ältere und spähte kurzsichtig nach der Tür. Doch er blieb im Schatten stehen, nachdem er den Riegel vorgeschoben hatte, rührte sich nicht mehr und schwieg.

»Bist du es, Augustin?«

Er gab keine Antwort. Regungslos beobachtete und forschte er nach irgendwelchen Anhaltspunkten, die ihm verraten konnten, was im Scheine der Lampe soeben vorgegangen war.

»Ich sah gerade einen Mann am Haus entlang schleichen … geduckt wie einer, der sich verstecken will.«

In seiner Stimme lag ein Zittern, das den Frauen nur zu bekannt war.

»Ein Mann, der sich geduckt vorbeischleicht?« wiederholte die Frau ganz leise. »Aber … kann schon sein, daß das der Nachbar Richard war, der in seinen Hof einbog … Sonst wüßte ich niemand, der so gebückt daherkommt, wie du da sagst.«

Auf diese Erklärung war er nicht gefaßt, und wieder versank er in Schweigen. Diese geheuchelte Unschuld in ihrer Stimme hatte ihn von jeher rasend gemacht; so oft er sie hörte, spürte er die Lüge heraus. Er beherrschte sich, aber die Eisenspitze seines Stockes schlug auf den Boden wie der Knochen eines Hundes, der sich kratzt. Keine einzige Bewegung des Mädchens entging ihm, das sich jetzt am Herde zu schaffen machte und die für ihn warm gehaltene Suppe auf den Tisch stellte, wobei sie einen großen Bogen um ihn herum machte.

Es war ein hochgewachsenes, dunkelhaariges Mädchen, schlank und beweglich in ihrer schwarzen Kleidung.

Sie rückte die Lampe in die Nähe des Tellers, ebenso den großen, mehligen Brotlaib; und als sie das getan hatte, warf sie mit einer trotzigen Bewegung den Kopf zurück und sah zum erstenmal nach dem Vater hin.

Die großen Augen in dem blassen Gesicht waren so braungolden wie die eines Nachtvogels; aber die starre Regungslosigkeit, die darin zum Ausdruck kam, ließ Angst und Abneigung erkennen.

»Was hast du denn da?« fragte der Vater, indem er mürrisch mit der Stockspitze auf ihre Hand zeigte, die eben flüchtig in den Lichtkegel der Lampe geraten war.

»Einen kleinen Ring, … wie Ihr seht«, antwortete sie mit klingender Stimme, der man aber doch die Furcht anmerken konnte.

»Einen kleinen Ring? … Den hattest du noch nicht, als ich wegging.«

»Ich zog ihn nicht an … Schon vor einem Jahr hab' ich ihn in einer Bude bei der Mission gekauft.«

»So? In einer Bude bei der Mission?« wiederholte der Alte höhnisch. Dann deutete er mit dem Stock auf ihre Brust: »Na, und warum klopft es denn da so arg? Sonderbar, daß dich meine Frage so außer Atem bringt.«

»Na also! … Jedenfalls danke ich dir, mein Kind.« Und während er endlich Stock und Rucksack ablegte, fügte er hinzu: »Die Hilfe dieses Burschen war mir ja sehr von Nutzen … und von Liebe kann er flöten wie eine Nachtigall.«

Wie ein Schlag ins Gesicht trafen diese Worte das Mädchen. Sie wurde über und über rot; Unwille und Erbitterung glühten in ihrem Blick.

»Ich weiß nicht, welchen Verdacht Ihr wieder auf mich habt«, sagte sie.

»Als ich am Ruder stand«, gab er zur Antwort, dabei trat er dicht vor sie hin, »und als der Korbflechter mir sein Sprüchlein hersagte, da hörte ich nur zweierlei: einmal den Wind auf der Loire und dann die Stimme meiner Tochter.«

Er hielt inne, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten.

»Ah, du weißt nicht! Du verstehst nicht, was ich damit sagen will! … Nun, dann muß ich dir's deutlicher sagen: Alles, was mir der Korbflechter da erzählt hat, hast du ihm eingetrichtert. Damals, als er im Hafen von Bréca zu mir kam – paß gut auf! – und mich trotz seiner Angst, die er vor mir hatte, anbettelte, ich soll ihn auf meiner Schaluppe nach Nantes mitnehmen, um seine Körbe dort verkaufen zu können, da hast du ihn geschickt. Tu nur nicht so verwundert! Mein Dienst als Wächter zwang mich, früher als die anderen loszufahren, um meinen Torf zu verkaufen. Alles war noch beim Reisigsammeln, und deshalb konnte ich niemand auftreiben, der mir Matrosendienste leistete. Nun gut, du hast es fertig gebracht, mir diesen Dummkopf ins Gehege zu schicken, trotzdem ich gut auf dich aufpaßte. ›Die Gelegenheit ist günstig, biete dich an, er wird drauf eingehen; und wenn ihr dann allein auf dem Wasser seid, dann muß er dich wohl oder übel anhören …‹ Nun ja, meine Liebe«, sagte er, indem er sie von oben her betrachtete, »ich war einverstanden, ich habe mich auf das Geschäft eingelassen; denn man muß nehmen, was man findet. Die beste Fuhrmannspeitsche macht man bekanntlich aus Pferdeleder. Allein, du magst es noch so schlau anstellen, der dünnste Faden in deinem Garn ist immer noch dicker als mein kleiner Finger. Wenn du dir aber einbildest, du könntest es mit deiner Schlauheit fertig bringen, daß du mit deinem Kohlweißling hinfliegen kannst, wohin du willst … dann müßte ein Esel mir Pate gestanden haben.«

Mit diesen Worten drehte er ihr den Rücken, setzte sich vor seinen Teller und begann mit unerbittlicher Miene seine Kohlsuppe umzurühren, in die er Brot brockte.

Jetzt fiel das Licht voll auf sein Gesicht, so daß die eigensinnige Schädelbildung der Stirn und der scharfe Raubtierblick sichtbar wurden. Deutlich hoben sich die Runzeln auf seiner haarigen Wange ab, ebenso die tiefen Hautfalten unter dem Kinn. Dieser grobknochige und sehnige Kopf schien aus einem Stück Torferde von unvergleichlicher Härte geschnitten zu sein; es sah fast so aus, als ob er das wüßte und als kaue er da vor seiner Schüssel an einer uralten Verheißung des Ewigen.

Das Mädchen hatte sich ganz in den Schatten verkrochen. Die Mutter saß in ihren dunklen Kleidern abwartend in bescheidener Haltung am Kamin. Sie hatte die Augen über den gefalteten Händen gesenkt, und mit ihrem kleinen, unter dem Kinn gebundenen Kopftuch, das ihr helles Gesicht umrahmte, glich sie einer frommen Klosterpförtnerin, die ins Gebet versunken ist.

Tiefes Schweigen lag über der Stube. Man hörte nur, wie Augustin geräuschvoll seine Suppe schlürfte.

Es war ein großer, niederer Raum mit nur einem Fenster. Der Boden aus gestampftem Lehm war voller Unebenheiten und besonders am Abend mit all dem Unrat übersät, den die Enten tagsüber dort hinterlassen hatten. An der Wand, die von dem zu jeder Jahreszeit brennenden Feuer ganz verräuchert und geschwärzt war, stand das alte ererbte Hausgerät: der große Backtrog, der aus einem mächtigen Stamm herausgeschnitten war, der alte Kirschbaumschrank mit dem bäuerlichen Schmuck seiner kupfernen Beschläge und endlich im Hintergrund neben den Vorhängen aus dicker grüner Wolle, die das Bett aus Kastanienholz umgaben, das altersschwache, bemalte Uhrgehäuse, in dem die runde Pendelscheibe den Pulsschlag der Zeit anzeigte.

Häufiges Wachsen und sorgfältiges, allwöchentliches Polieren erhielten den Glanz dieser alten rotbraunen Möbel trotz des Torfrauches, der sie immer wieder blind machte.

Das Mädchen hatte sich fortgeschlichen. Es schlief oben in der Mansarde.

Als Augustin mit dem Essen fertig war, setzte er sich hinter den Ofen, wo er, der wenig schlief, meist einen Teil seiner Nächte zubrachte. Er schnürte die schweren Wanderstiefel auf und zog sie aus. Seine Frau, die inzwischen das Geschirr weggeräumt hatte, schüttelte die Kopfkissen zurecht, löste den Knoten ihres Kopftuches, machte ein Kreuzzeichen und blies das Licht aus. Dann war es dunkel.

Sie hatten sich weder gute Nacht gesagt noch sonst etwas. Das Bett raschelte einen Augenblick, dann war alles still.

Alles, nur ihre Gedanken nicht.

Ab und zu kam aus dem Alkoven ein leises Seufzen; dann wieder ließ sich ein Brummen vom Kamin her vernehmen.

»Was für ein herzloser Mann! Den Sohn hat er schon fortgejagt, und nun versteift er sich darauf, Theotist ins Unglück zu stürzen, der Rohling! … Aber Gott soll sie bewahren! Er hat ja schon einmal ein Wunder für sie geschehen lassen.«

Der aber in der Ofenecke: »Stöhn du nur über deine Tochter, heul dir meinetwegen die Augen aus! Deine dicken Tränen kümmern mich so wenig wie das Wasser, das von der Dachrinne tropft.« Die Schliche, hinter die er heute abend gekommen war, reizten mehr als je seinen hartnäckigen Widerstand. Seinem Sohne hatte er ja schon gezeigt, wie heftig er einheizen konnte: »Mein Lieber, du bist nicht Abrahams Sohn, daß du hingehen müßtest, um fremde Gegenden zu bevölkern. Du bist der Sohn Augustins aus Fédrun, wo alle ihren Hausstand gegründet haben. Habe ich einen Sohn gezeugt, der sein Blut verachtet, dann brauchst du es nur zu sagen.« Aber der Junge hatte sein Blut verachtet, hatte eine Bretonin geheiratet, so irgendeine Hergelaufene, und überdies noch seinen Vater beschimpft. Deshalb hatte er ihn verflucht, und zwar nicht nur mit den Lippen, sondern aus tiefster Seele.

Es war schon spät in der Nacht. Noch immer ging er nicht zu Bett. Er hing diesen trüben Gedanken nach, während er vor dem fast erloschenen Gluthäufchen saß, das schon ganz in sich zusammengesunken war und bald nur noch seine großen, nackten Füße beleuchtete, die in der Asche staken.


   weiter >>