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XI.

Die Gedanken jagten sich in seinem Kopf, wie wenn ein ganzer Haufen Ratten sich im Wasser tummelt. Das kochte und brodelte so leidenschaftlich in seinem Innern, daß ihm fast übel davon wurde. »Das ist also noch nicht alles! Es ist also noch nicht zu Ende! … Jetzt ist auch noch dein Kind übergeschnappt … Wie tief mußt du noch heruntersteigen!«

Regungslos lehnte er etwa fünfzig Schritte vom Hause Julies entfernt an einer Mauer und blickte vor sich hin. Es schwindelte ihm vor den Augen. Bei Gott, jetzt handelte es sich nicht mehr um das Ungemach seiner Tochter, um all ihre Leiden, die ihm ehedem so nebensächlich schienen, gemessen an den Leiden anderer Leute. Es handelt sich also um so eine Sache wie ein Schmerz in ihr, den sie nicht fühlen würde … Hätte sie auch Tränen geweint, so viel wie Wasser durch die Brière läuft, er wäre davon nicht gerührt worden, er wäre seelenruhig darüber hinweggegangen, ohne sich darum zu kümmern. Wenn man ihm gesagt hätte: »Deiner Tochter geht's nicht gut«, dann hätte er wohl darauf erwidert: »Das ist mir einerlei … ob es ihr gut geht oder nicht.« Genau so wenig hatte er sich ja damals aus ihrer Gefängnishaft etwas gemacht. Das hatte ihn ganz kalt gelassen. Aber schlimmer als alle Liebesqualen und Sehnsüchte, als alle Gerichtsentscheide, bei denen ja doch der wahre Wert eines Menschen nicht in die Waagschale fällt, war dieser Sturz in das schauerliche, unbekannte Reich jenseits alles Schmerzes. Sein Kind, sein eigen Fleisch und Blut! Er konnte es nicht fassen, wie ein solches Unglück möglich war, da sie ja doch ihren Verstand von ihm geerbt hatte … Waren nicht alle Augustins besonders kluge Köpfe gewesen? Er selber hatte doch eine rasche Auffassungsgabe und eine nie versagende Schlagfertigkeit, ein ausgezeichnetes Gedächtnis und eine gesunde, natürliche Urteilskraft … Warum also noch dieser Schlag, der sich gegen das Wenige richtete, was bei ihm noch intakt geblieben war? … Diese hartnäckige Verfolgung durch das Schicksal, das ihn erst des Gebrauches seiner Glieder beraubte und ihn jetzt wieder in seinem Kinde traf!

»Theotist! … Theotist! …« murmelte er.

Er zitterte. War das Furcht vor den Tiefen der eigenen Seele, in die er sich gezogen fühlte? War es Mitleid? … War es Liebe? … Irgendein altes Körnlein Liebe, das seine Keimkraft in seiner torfdunklen Seele bewahrt hatte? … Wer konnte das wissen?

Das Blut brauste ihm in den Schläfen. Alles verschwamm vor seinen Augen.

Es wurde dunkel. Eine Laterne irrte durch die Dorfstraße. Er hörte einen Pfiff aus der Ferne. Eine Katze miaute unsichtbar in seiner Nähe. Dann auf einmal kam es über ihn wie ein fernes Erinnern: Ein kleines Mädchen, ein kleiner Wildfang sprang mit klappernden Holzschuhen im Hause herum. Auf dem Rücken tanzte ihm der lange, schwarze Zopf, und er drohte ihr, ihn abzuschneiden, wie man einem Aal den Hals abschneidet … Da war auch einmal ein Sprungseil, das in allen Ecken des Hauses herumlag. Das hatte er schließlich mit einem anderen Seilstück zusammengeknotet und seine Strohgarben damit verschnürt.

Er merkte erst jetzt, daß er in seiner Erregung, ohne sich dessen bewußt zu werden, weitergestapft war und sich nicht auf der Inselspitze, sondern im Chat-Fourré befand, zwei Schritte von seinem alten Haus entfernt.

Ganz dunkel lag es da mit seinem breiten Strohdach, das sich scharf von den letzten, rötlichen Wolkenstreifen am Himmel abhob. Er hätte es nicht mit anderen Blicken betrachten können, wenn der Dachstuhl vor ihm abgebrannt wäre. Alles schien teilzunehmen an dem grauenhaften Schicksal, das sich in seinem Schweigen abspielte.

Er betrachtete das Haus mit angstvoller Unentschlossenheit. Mit dämonischer Gewalt, gegen die er machtlos war, zog es ihn hin. Er ging drauf zu. Er war nicht mehr Herr über sich selbst. Dieses Unglück, von dem man ihm erzählt hatte, war gleichsam ein Teil von ihm; es war so, als ob es ihm selber zugestoßen wäre. Jetzt stand er vor der Tür, legte die Hand auf den Griff – die Klinke war nicht eingeschnappt – und drückte sie einen Spalt breit auf … Dann trat er ein.

In der Stube war es ganz finster. Niemand war da. Wahrscheinlich waren sie oben. Ein wenig Glut, die am Verlöschen war, schimmerte noch im Kamin. Er riß die Augen weit auf und bemühte sich, etwas in der Dunkelheit des Raumes zu erkennen … Noch nie hatte er ein solches Würgen im Halse verspürt. Ängstlich suchte er jedes Geräusch zu vermeiden; er traute sich keinen Schritt weiter; denn er hatte das Empfinden, als ob ihm jemand mit dem Finger auf die Stirne tippen würde. Er spürte die Berührung des bösen Geistes, der da in seinen schwarzen Gewändern umging. Ein Schauer überlief ihn; sein gewohnter alter Mut ließ ihn jetzt gänzlich im Stich. Er wußte nicht, was er tun sollte in seinem eigenen Hause … rufen oder sich wieder fortstehlen, oder dableiben und warten.

Nein, Augustin, nein … Es ist nicht deine Schuld … Sie hat es ja nicht anders gewollt … Sie hat sich ja selber weggeworfen.

Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel. Jetzt gewahrte er etwas wie zwei kleine Funken, die sich in der tiefen Finsternis heraushoben. Er ging ganz nahe hin, um sich zu vergewissern, ob das etwa der Hund wäre, der da oben auf einem Stuhl hocke. Aber es war nicht der Hund. Ein dunkler, menschlicher Körper zeichnete sich ab. Er konnte das lange, wirre Haar und die Schultern erkennen.

Er fuhr zusammen. Dann aber war er versucht, den Arm um diese Schattengestalt zu legen.

»Theotist! …« murmelte er, »Theotist!« Und ohne daß er es wollte, wurde seine Stimme ganz leise.

Er bekam keine Antwort.

»Theotist!«

Nun gewahrte er eine Hand, die gespensterhaft wie eine Geisterhand auf dem Tische hin und her fuhr.

Unwillkürlich riß es ihn zurück. Dabei trat er mit dem Schuh auf irgendeinen Gegenstand, wahrscheinlich einen irdenen Teller, der in Scherben ging. Es lief ihm kalt über den Rücken. Auf einmal war es ihm, als ob die Dunkelheit selbst wie ein riesiges Ungeheuer ihn anglotzen würde.

»Theotist!« rief er noch ein letztes Mal.

Da er aber auch jetzt wiederum keine Antwort bekam, ging er langsam zur Tür hinaus.

 

Nein, Augustin! … Es ist nicht wahr! … Nicht du bist der Schuldige!

Das Bild, das er soeben gesehen hatte, verfolgte ihn unablässig und löste eine ungeheure Erbitterung in ihm aus. Er fuchtelte fortgesetzt mit seiner fürchterlichen Holzhand herum. Wäre dieser leidenschaftliche Wutausbruch nicht gewesen, so hätte er vielleicht den Weg zu Julie zurückgefunden, um ihr von seinem Erlebnis zu erzählen. Aber der Zorn hatte sich ganz in ihm verkrallt; er geriet förmlich in Weißglut.

Daheim warteten seine alten Gedanken auf ihn. Er nahm sich gar nicht die Zeit, ruhig zu werden und vernünftig zu überlegen. Er holte aus dem Schrank einen Bogen Papier – es war das Stempelpapier von damals, als ihm Nathalie ihre Unterschrift geben sollte –, legte es auf den Tisch zusammen mit Tintenfaß und Feder, das gleiche Schreibzeug, das er in jener Nacht zur Abschrift der Briefe benutzt hatte, und schürte das Feuer, als sollte es für acht Tage ausreichen. Neben diesem großen Scheiterhaufen, der gut dreimal so hoch war, als sonst die Flammen für gewöhnlich emporleckten, stellte er einen Topf mit Kaffee und eine Tasse warm. Dann nahm er sein Zwillingsgewehr, klemmte es zwischen den Knien fest, füllte mit peinlicher Sorgfalt Pulver ein, schob die talgbeschmierten Rehposten hinein – drei in jeden Lauf – und packte die Vorladung darauf. In seine Funsel führte er einen neuen Docht ein, der zwar nur ein ölgetränkter Schwertlilienstengel war, aber lang genug, um die ganze Nacht vorzuhalten, stellte sie brennend neben Papier und Tinte auf den Tisch, auf dem sich nur diese drei Dinge befanden. Dann trug er alles, was er an Schneide- oder Schlagwerkzeugen besaß, wie Fischgabeln, Äxte, Spaten aus der Stube hinaus ins Freie und lehnte diese Geräte an die Hauswand. Nun hing er sein Gewehr um, nahm eine Laterne und ging fort. Er schloß nicht einmal die Tür ab, sondern klinkte sie nur zu.

Wenige Minuten später fuhr er eilig in die Brière hinein.

 

Er stieß den Kahn vorwärts, so rasch er konnte, aber es ging ihm trotzdem noch zu langsam, denn seine Gedanken flogen dem Schiff voraus. Pfeilgerade steuerte er auf kürzestem Weg auf sein Ziel los.

Die Kälte war schneidend; aber das war nicht der Grund, weshalb er so mit den Zähnen knirschte.

Ein wenig konnte man noch sehen. Am Himmel verlosch ein letzter roter Schein. Zur Hälfte war das Firmament von einer großen, dunklen Wolkendecke überzogen, die nach Norden zu in einem scharfen Bogen auslief. Von dort an bis zum Rande der Erde war der Himmel klar. Unter dieser mächtigen Wolkenwand ruhten die Weiher in metallischem Glanz, überall flammten in der Ferne die Lichter in den einzelnen Dörfern auf. Allmählich wurde es ganz dunkel. Binsen und Röhricht waren jetzt nicht mehr zu erkennen, über der violetten Dunstschicht tief unten am Himmel funkelte ein einsamer Stern; und über den Wassern, die jetzt ihren rötlichen Schimmer verloren hatten, tauchten fahle, gespensterhafte Fratzen auf.

Er fuhr durch diese aufsteigenden Nebelschwaden hindurch, und zwar so rasch, daß sie kaum Zeit hatten, einen kleinen Wirbel bei seiner Durchfahrt zu bilden. Ein paar Enten flogen aus dem Schilf am Tropenhügel auf. Aber schon war der Rote Hügel in Sicht. Rasch bahnte sich der Kahn seinen Weg durch die Sumpfgebiete im Norden.

Er legte an, machte sein Boot fest und stieg hinauf auf den Damm.

Das Dorf schlief; kein Mensch war mehr zu sehen. Alle Haustüren waren schon zu. Nur vereinzelt leuchtete da und dort an einem Fenster in den alten Lehmhütten ein rötlicher Lichtschein auf. Sein Schritt hallte laut in den Gassen. Jetzt war er auf dem Platze bei der Viehtränke angelangt. Auch dort war niemand mehr zu sehen. Er stellte seine Laterne auf den steinernen Brunnentrog und zündete sie an. Das flackernde Licht warf lange Schatten auf den kotigen Lehmboden. Dann band er sich die Laterne auf der Brust an einem Knopfloch fest, so daß sie den Weg vor ihm beleuchtete.

Die dritte Türe von links … Er brauchte nicht zu klopfen – in Mayun riegelt man die Türen nicht zu –, er trat ein.

Wie oft und wie lebhaft hatte er sich so, wenn er daheim in schlaflosen Nächten seine Rachepläne schmiedete, bei dem Korbmacher eindringen sehen, mit einer Laterne ausgerüstet, den Finger am Gewehrabzug. Ja, er hätte auch jetzt noch geglaubt, zu träumen, wie die ganze Zeit her, hätte er nicht den Biß seiner Zähne auf den Lippen gespürt.

Das Bett stand in der Stube rechts, der Tür gegenüber. Von dem Schlafenden sah man nur den Kopf unter dem gekrümmten Arm, der auf dem Kissen lag. In der gleichen Stellung hatte er ihn damals in seinem Boot überrascht, als er die blauen Vögel mitgebracht hatte. Augustin hätte sich auch gar nicht vorstellen können, daß er ihn anders als so in seinem Bett vorfinden würde. Alles nahm genau den Verlauf, wie er es sich zurechtgelegt hatte.

Er beugte sich über das Kopfkissen, hielt den Atem an und lauschte auf die Atemzüge des Burschen. Dabei verzog sich sein Gesicht zu einem schadenfrohen, teuflischen Grinsen … Der junge Mann regte sich und wurde wach durch den Lichtschein, der ihm ins Gesicht fiel. Er schlug die Augen auf, blieb aber wie gelähmt vor Schrecken regungslos auf seiner Matratze liegen, als er das Gespenst ganz nahe vor sich stehen sah mit dem Licht auf der Brust, den gebleckten Zähnen und den funkelnden Augen, die ihn fast verschlangen.

»Untersteh dich, einen Muckser zu tun!« zischte ihn Augustin an, »sonst schlag' ich dir den Schädel ein! … Ha, Bukett in der Hand Luzifers!« Dabei streckte er drohend seine Mortashand gegen ihn aus. Der andere wand sich vor Schrecken. Er verlor fast die Besinnung, als er diese Hand über seinem Kopfe sah, diese schwarze, schreckliche Hand, die nicht aus Fleisch und Blut war.

»Zieh dich an! … Du gehst mit … dorthin, wohin ich dich bringe … Untersteh dich, einen Laut von dir zu geben!«

Ganz verstört schaute der Bursche drein. Sein letztes Stündlein war gekommen.

Aber er gehorchte und stand auf … Er hatte ja gar keine Waffe, um sich zur Wehr setzen zu können. Die beiden gespannten Hähne an dem in Anschlag gehaltenen Gewehr warteten ja nur darauf, loszugehen … Mit schlotternden Knien und jagenden Pulsen glitt er aus dem Bett.

»Was wollt Ihr denn von mir? … Was wollt Ihr denn von mir?« wiederholte er immer wieder zähneklappernd wie im Traum, während er in die Hosen schlüpfte.

»Marsch!«

Sie verließen das Haus, der eine hinter dem andern. Sie gingen durch das Gäßchen, Jeanin immer voran. Er wußte genau: falls er nur einen Schritt zur Seite machen würde, hatte er die Ladung im Rücken.

Mit einem kurzen Befehl gab Augustin den Weg an. So kamen sie an die Uferstraße. Mit einem Sprung war Augustin an seinem Platz im Boot beim Fischkasten, das Gewehr immer im Anschlag.

»Steig ein … und nimm die Stange!«

Jeanin taumelte. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirne. Er stieg ins Boot. Mit einem verstörten Seitenblick nach dem Mann und seinem Gewehr griff er zur Stange.

»Vorwärts!«

Das Schiff schwankte und glitt durch das Schilf.

Augustin hatte nur die eine Befürchtung, es könnte plötzlich Nebel einsetzen, wie es nicht selten vorkommt; denn die große, schwarze Wolke hatte sich nicht verzogen, sondern sich über den ganzen Himmel ausgebreitet. Kaum daß der Mond, ein winterlich blasser Mond, die dicke Wolkendecke durchdringen konnte, die sich auch fortgesetzt verschob.

Sie fuhren nicht schnell; denn mit den zitternden Händen konnte der Bursche, der jetzt alle Gebete hersagte, die er als Kind gelernt hatte, die Stange kaum richtig führen.

Geheimnisvoll still lag die Brière da. Man hörte nichts, nicht einmal das düstere »üprumb« der Rohrdommeln. Man sah auch nichts. Nur da und dort zuckte eine Welle flüchtig wie eine Silberschuppe auf und verging wieder.

 

»Links … hinten in die Ecke … an die Wand! Mach vorwärts!«

Immer noch das Gewehr schußbereit, verfolgte Augustin jede Miene und Bewegung des Burschen, der beim Anblick der brennenden Lampe auf dem Tisch erschrocken stehengeblieben war.

»Aber, was wollt Ihr denn von mir? … Was wollt Ihr denn von mir?«

»Links … hinten in die Ecke … Wenn du dort bist, wie ich dir sage, können wir weiterreden.«

Bei jedem Schritt, den der Bursche machte, schien er mit seinen Füßen in einem Dornengestrüpp hängenzubleiben. Er zitterte am ganzen Leibe, als er jetzt das Kreischen des Schlüssels hörte und Augustin die Türe von innen verschloß. Jeanin hielt sich mit den Händen an der Mauer fest, da er auf der ausgeschaufelten Torferde ausglitt und mit dem Fuß versank. Und mit Entsetzen gewahrte er das große Loch daneben.

»Gnade, Augustin … Gnade!«

Augustin lachte höhnisch. Er war schrecklich anzusehen. Er setzte sich ans Feuer seinem Gast gegenüber; und der Blick, mit dem er ihn unter seinen buschigen Augenbrauen anblitzte, ließ das Schlimmste ahnen. Gleich wird er ihn erschießen. Das Krachen des Schusses brauchte ihn ja nicht weiter zu beunruhigen hier zwischen seinen vier Wänden, dreihundert Meter von jeder Behausung entfernt, ohne eine andere Öffnung außer dem drei Hände breiten, vergitterten Fenster nach dem Wasser zu.

»Hier ist Papier … Du wirst mir dein Testament verkaufen für einen Flintenschuß … Das ist nicht zuviel.«

Diese zweideutigen Worte hatte ihm der Teufel eingegeben, die ja nur den Zweck hatten, den Burschen noch mehr auf die Folter zu spannen dadurch, daß sie ihn in der Hoffnung auf eine letzte Verständigungsmöglichkeit einwiegten.

»Wenn nicht … dein Grab ist bereits fertig … Schweig! … Kein Wort! … Morgen früh, wenn der Tag graut …«

Er biß die Zähne zusammen und blieb regungslos im flackernden Herdschein sitzen, das Gewehr auf den Knien, den Lauf in Zielrichtung, bereit, bei der ersten verdächtigen Bewegung seines Gefangenen loszudrücken.

Etwas vorgebeugt, weidete er sich an der wahnsinnigen Angst seines hilflosen Opfers. Ja, das war die Nacht, von der er geträumt hatte, die letzte große Abrechnung, da er Sekunde für Sekunde für alles, was er gelitten hatte, ihm zurückzahlen sollte. Nun konnte er diese Freude zum letztenmal in seinem Leben auskosten, da er den Verderber seines Blutes hier vor seinem Gewehrlauf hatte, klein und häßlich. Jetzt mußte er ihm alles zurückerstatten, worum er ihn gebracht hatte: seine Hand und den Verstand seiner Tochter. Aber auch damit ist das Werk der Vergeltung noch nicht zu Ende, da er ja alsdann mit den Füßen auf seinen Knochen herumtrampeln kann, wenn er ihn erst hier in der Grube verscharrt und mit Erde zugedeckt hat, überzeugt, daß niemand, solange sein Haus steht, dieses Grab findet.

Von Zeit zu Zeit griff er nach dem Kaffeetopf, den er sich warmgestellt hatte. Das tat er nicht, um den Schlaf zu vertreiben; gegen den war er gefeit, dazu brauchte es nicht viel bei ihm, sondern um jede heimtückische Zerstreuung abzuwehren, die sich bei dem regungslosen, nächtlichen Stillsitzen nur zu leicht einstellen konnte.

Wenn er trank, äugte er immer wachsam über die Tasse hinweg.

Dann hing er wieder seinen Rachegedanken nach.

Vom Kirchturm von St. Joachim schlug es zwei Uhr, zwei dumpfe Schläge, die aus der Kaminhaube herabkamen, in der der Wind heulte.

Es schlug drei Uhr. Von Müdigkeit übermannt, hatte der Bursche sich auf den Boden fallen lassen. Wie ein Landstreicher am Fuße einer Mauer lag er auf dem Torfhaufen. Er regte sich nicht. Den Arm hatte er über das Gesicht gelegt … Augustin spähte zum Fenster, ob der Morgen schon graute. Er hatte sich gerade diese Stunde ausgesucht, weil da der Schlaf der Menschen am tiefsten ist.

Diesmal stürzte er in einem Zug den ganzen Rest seines Kaffees hinunter. Dann wischte er sich den Mund ab und betrachtete lange den großgewachsenen Körper, der da ausgestreckt vor ihm am Boden lag. Seine Hand zitterte nicht; auf die konnte er sich verlassen … Und ebenso sicher wußte er, daß sein Pulver trocken war nach dieser heißen Nacht … Er malte sich den Tod lebhaft aus, den er jetzt rufen wollte … er war gerecht und schön. Die Augen hielt er geschlossen. Er hatte dasselbe blasse Antlitz wie seine Tochter und die gleichen langen Haare.

Doch gerade in dem Augenblick, als er rufen wollte: »Aufstehen!«, mußte er selber aufhorchen. Man klopfte an seiner Tür. Unschlüssigkeit und Wut spiegelten sich in seinem Gesicht. Er antwortete nicht. Nun schlug man sogar noch mit den Holzschuhen gegen die Tür und rief: »Augustin!« Man wollte ihn offenbar wecken.

Er wußte nicht, was er tun sollte. Erbost darüber, bei seinem Racheakt gestört zu werden, schaute er bald auf die Tür, an der gerüttelt wurde, bald auf den Gefangenen, der sich jetzt auf die Hände aufgestützt hatte. Es mußte irgendwo brennen … Was konnte man sonst zu dieser Stunde von ihm wollen … Sicher rief ihn die Pflicht.

»Augustin! Augustin!« schrie es in einem fort.

Ohne sein Gewehr aus der Hand zu lassen, ging er rückwärts zur Tür wie ein Tierbändiger, der seine Bestien nicht aus dem Auge läßt, sperrte auf, ging schnell hinaus, um sofort wieder von außen den Schlüssel zweimal umzudrehen.

»Was gibt's!«

Im nächtlichen Nebel sah er zunächst nur undeutlich eine verhüllte Gestalt; dann erkannte er die alte Nachbarin aus dem Chat-Fourré.

»Augustin«, sagte die Frau zu ihm, »ich komme, um dich zu holen … Es ist wegen deiner Tochter … Jetzt ist sie vollständig übergeschnappt. Ihre Mutter ist soeben weinend zu mir gekommen … Ich habe ihr versprochen, daß ich herlaufen und dich holen werde.«

»Ganz übergeschnappt? … Ganz übergeschnappt?«

Er brummte etwas und sah zögernd nach der Türe. Es verdroß ihn, seine Beute fahren zu lassen.

»Du mußt auf der Stelle mitkommen«, sagte die Frau, als sie seine Unentschlossenheit merkte. »Es ist das mindeste, was man von dir verlangen kann, mein Lieber.«

Sie hatte recht, wenn sie das sagte … Dieser Botschaft durfte er sich nicht verschließen … Im übrigen war auch der Kerl wohlverwahrt da drinnen … in seiner Gefangenschaft.

»Gut«, sagte er. »Ich gehe mit.«

Er zog den Schlüssel ab, und beide stapften in den Nebel hinein.

Im Chat-Fourré stieß die Nachbarin die Tür auf. Ein qualmender, weißlicher Rauch schlug ihnen entgegen, der mit seinem starken Talggeruch einem fast den Atem verschlug. Die Nachbarin wandte sich hustend ab und drückte die Augen zu.

»Was ist denn das nun wieder?«

In dem Qualm tauchte jetzt die Gestalt seiner Frau auf. Sie war ganz grau im Gesicht, als ob sie selber aus Rauch wäre. In ihren tränenden Augen lag eine tödliche Unruhe. Sie hielt den Hund am Halsband fest und drückte ihn an sich hin. Vom Kamin her hörte man das Klirren einer Feuerzange.

»Wo ist das Kind?«

Mit einer matten Handbewegung deutete Nathalie auf die Gestalt, die mit aufgelösten, wirren Haaren am Herd kauerte. Sie hielt mit der Feuerzange eine Brautkrone in die Flammen, die sie hin und her schwang und aus der dieser beizende Rauch aufstieg. Das Wachs schmolz; eine gelbe Flamme zuckte kurz auf, dann wirbelte wieder dieser erstickende Qualm in dichten Wolken empor. Der Hund stieß leise Klagetöne aus, als wittere er das furchtbare Menschenschicksal, das sich hier abspielte.

»Theotist!«

Theotist richtete ihre großen, goldbraunen Augen auf den Vater. Sie erkannte ihn nicht. Als sie aber das Gewehr an seiner Schulter hängen sah, ließ sie mit dem Ausdruck unsäglichen Schreckens alles fallen, was sie in der Hand hielt, drückte sich in die hinterste Kaminecke, raufte sich die Haare und preßte die Hände vor die Augen.

Augustin war erschüttert. Nathalie, die jetzt neben ihrem Manne stand, zitterte an allen Gliedern.

»Während der Nacht hat es sie so gepackt … Sie hat erst ein großes Feuer angemacht … dann hat sie das Geschirr zerschlagen … und das Fenster … Auch das Fenster hat sie zerbrochen … und nun tut sie das …«

Einen Augenblick war es still. Augustin und Nathalie sahen sich an, aber sie hatten keinen seelischen Kontakt miteinander. Stolz auf der einen und Furcht auf der anderen Seite hatten an diesen beiden Menschen ihr Zerstörungswerk vollbracht.

»Man muß den Doktor holen«, sagte Augustin, »und zwar sofort … auf der Stelle!«

Und ohne noch ein Wort hinzuzufügen, entlud er sein Gewehr, steckte die Rehposten in die Tasche und verließ das Haus. Er war ganz verstört.

Kurz darauf fuhr er in Ribeyrons Wagen in Richtung Herbignac nach dem kleinen Städtchen P., das ungefähr sechs Meilen entfernt lag.

Die Fahrt dauerte lange; denn es war Glatteis. Unterwegs dachte er über das Unglück seiner Tochter nach, das jetzt zugleich sein eigenes war. Er dachte auch an den eingesperrten Liebhaber und bedauerte nur, daß er Mundvorrat im Zimmer zurückgelassen hatte, denn der Hunger wäre ja unter diesen Umständen eine verdiente Strafe für ihn.

Als er in P. anlangte, war der Arzt nicht zu Hause. Vor Mittag erwartete man ihn nicht zurück. So wartete er in Gesellschaft des Fuhrmanns. Um halb ein Uhr war der Arzt immer noch nicht da. Erst gegen ein Uhr kam er. Augustin setzte ihm alles auseinander, aber der Arzt mußte erst noch seine Mahlzeit einnehmen und einen dringenden Krankenbesuch in einem anderen Stadtviertel machen.

Es war fast vier Uhr, als sie in Fédrun ankamen.

Der Arzt fuhr in seinem eigenen Wagen; aber er bat Ribeyron, dazubleiben, weil man ihn, wie er sagte, möglicherweise brauchen würde.

Als die Männer eintraten, waren zwei Nachbarinnen bei Nathalie, die mit der Kranken nicht allein sein wollte. Theotist kauerte noch immer am Kamin. Sie sang halblaut vor sich hin. Es war eine Art Wiegenlied.

Der Arzt ließ sich die Kranke zeigen, ging zu ihr hin und setzte sich ihr gegenüber, um sie zu beobachten.

»Sapperlot! … Warm ist's zwar heute draußen nicht, aber ihr braucht wenigstens hier nicht zu frieren!«

Das Mädchen wickelte sich Strähnen ihres Haares um die Finger.

»Schlaf wohl, Liebling … schlaf wohl … Eia, eia!«

»Was singst du da?«

»Du bist ein lieber Kerl! Wunderbar, wie du schaffen kannst! Morgen bekommst du den ganzen Wald zum Rutenschneiden … Sollst lieber schlafen, statt dich zu plagen … Ich bringe dir ja dein Essen … Dann werde ich die Arbeit für dich tun.«

Mit ruhig, sanfter Stimme sprach sie das eintönig vor sich hin.

»Mit wem redest du denn? Mit mir? Kennst du mich?«

Augustin, der hinter dem Arzt stand, betrachtete die Kranke mit einem Ausdruck völliger Ratlosigkeit. Nichts entging ihm von dem Mienenspiel seiner Tochter.

»Sei nicht traurig, mein Lieber, mein herzensguter Liebling … Steck das Reisig an, nimm die große Pfanne! Ich springe hinein … Ich gehöre dir ganz … Immer, wenn du emporsteigen willst, mußt du auf einen treten … dann kommst du in den Himmel.«

Augustin hörte schaudernd zu. Diese Worte konnten beinahe gegen ihn gerichtet sein. Kinder und Narren sagen die Wahrheit.

Der Arzt machte ihm ein Zeichen, ebenso der Mutter, sie sollten mit ihm ins Hinterzimmer kommen. Dort gab er ihnen mit gedämpfter Stimme seine Anweisungen, während das Reden am Kamin weiterging, und der Hund, den Nathalie draußen im Hof an die Kette gelegt hatte, unaufhörlich heulte.

»Man muß sie wegbringen. Sie muß noch heute abend ins Krankenhaus geschafft werden.«

»Aber, mein Gott! Wie hat dieses Leiden nur über sie kommen können? … Alle in unserer Familie waren geistig hochbegabt.«

»Der Kummer hat sie dorthin gebracht. Das war Anlaß genug.«

Augustin runzelte die Stirn und schaute zu Boden. Er grübelte über dieses furchtbare, verwirrende Dunkel der Geschehnisse, die sich der Reihe nach, eines aus dem andern, in unausweichlicher Folgerichtigkeit ergaben und so diese Kette von Ursache und Wirkung schufen. Welche Rolle hatte er dabei gespielt? Er wußte es selbst nicht recht. Zu viel unentwirrbare Rätsel birgt die Natur. Er kannte sich jetzt überhaupt nicht mehr aus. Er hatte ja nur das Beste gewollt … und jetzt lag alles in Scherben vor seinen Füßen. Ja, es war das Fürchterlichste, was einem Menschen zustoßen konnte; denn alle die übrigen Dinge waren schließlich noch zu ertragen; sie gingen nicht so tief. Aber der Wahnsinn ist ein Übel, das die edelsten menschlichen Kräfte vernichtet. Und dieser Wahnsinn weckte in ihm die Vorstellung, als ob ganze Schwärme von Ansteckungskeimen davon ausgingen, die auch ihn bedrohten.

»Ich will sie fortbringen!« rief er in einem jähen Entschluß und hob die Faust. »Ich bringe sie fort … ich … ihr Vater!« Damit verließ er die Kammer.

Frau Nathalie packte im Beisein des Arztes einige Wäschestücke und sonstige Gebrauchsgegenstände in einem Bündel zusammen. Dann ging sie zu der Kranken, um ihr die Haare etwas in Ordnung zu bringen.

Bei jeder Berührung mit dem Kamm verzog das Mädchen das Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse und ließ den Kopf zurücksinken.

»Meine kleine Theotist!« schluchzte Frau Nathalie und steckte ihr, so gut es ging, das dichte, reiche Haar auf.

»Ich bin bös gewesen … sehr bös!«

»Aber nein, du warst gar nicht böse«, sagte der Arzt. »Du darfst auch jetzt ein wenig spazieren fahren … Kommst du mit mir?«

Aber Theotist ging nicht weit mit; denn sobald sie den Wagen sah – es war ein leichtes Kutschenwägelchen mit aufgespanntem Verdeck, in dem Augustin und Ribeyron soeben die letzten Vorbereitungen trafen –, da stieß sie einen Schrei aus und fuhr so heftig zurück, daß sie an die Tür anprallte und ihr flüchtig aufgestecktes Haar sich wieder erneut löste und auf die Schultern herabfiel. Sie schüttelte den Kopf und wehrte sich: »Nein, nein, nein!«

Die eine Nachbarin erklärte dem Arzt, daß sie das an das Unglück erinnerte; denn in einer solchen Kutsche sei sie damals fortgebracht worden … ja, es sei gerade dieser Wagen Ribeyrons gewesen.

»Also gut, dann fahren wir eben nicht im Wagen!«

»Weil es sich ja doch nur um eine Spazierfahrt handelt«, schlug Augustin vor, der jetzt ebenfalls wieder ins Haus getreten war, »brauchen wir ja gar keinen Wagen. Man könnte genau so gut mit dem Boot fahren.«

Das war ein guter Einfall. Der Arzt war einverstanden. Sobald er wieder zu Hause ist, wird er gleich an den städtischen Krankendienst telegraphieren, daß man die Kranke in Bert abholen soll.

»Na, Kleine! … Du hast doch sicher Lust, eine Kahnpartie mit deinem Vater zu machen?«

Bei dieser Frage fing Theotist krampfhaft zu zittern n.

»Wenn man von ihrem Vater spricht, beginnt sie zu zittern. Sie sehen es ja«, raunte ihm Nathalie zu. »Nein, nein, nicht mit deinem Vater!«

Und auf Augustin zeigend: »Mit diesem Mann da.«

Theotist nickte. Jetzt war sie einverstanden.

Augustin bemühte sich sofort, in der Nachbarschaft einen etwas größeren Kahn aufzutreiben, der auch stabiler war als sein gewöhnliches Jagdboot. Nachbar Richard besaß einen solchen von passender Größe und lieh ihn gerne her. Der Boden wurde mit einem Strohbelag trocken ausgepolstert. Darauf breitete man ein Lager aus Seegras. Dann fuhr Augustin den Kahn an den Gartensteg. Die Frauen brächten das in Segeltuch eingehüllte Wäschebündel und auch Decken zum Schutze gegen die Kälte. All das wurde in dem Kasten vorn im Kahn verstaut. Dann holte man Theotist, die langsam durch die kahle Obstbaumreihe im Gärtchen von ihrer Mutter und einer Nachbarin am Arm geführt wurde. Sie erzählte lebhaft, daß sie Schnepfeneier suchen wolle. Als sie gut eingehüllt in ihrem Schal auf dem Angelkasten saß, schenkte sie allem andern, was um sie vorging, überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr, sondern starrte unverwandt in die dunstige Ferne der Brière.

Alles war zum Aufbruch bereit. Augustin stand an seinem Platze; die Bootsstange hatte er schon in den Ring gesteckt. Auch er sah niemand an. Dann stieß er stumm mit einem todernsten Gesicht langsam vom Ufer ab, als hätte er eine kostbare Ladung an Bord. Alle, die hinter den benachbarten Strohhaufen dieser Abfahrt beiwohnten, waren tief ergriffen und schauten schweigend zu.

Nun brach Nathalie in Tränen aus. Sie machte ein großes Kreuzzeichen, das gleichsam sichtbar über der Bootsstraße stehen blieb. Das Schiff entfernte sich immer mehr. Das stete Auf und Nieder der langen Ruderstange war das einzige, was sich darauf bewegte.

 

Jetzt waren sie schon weit draußen. Augustin fuhr schnell. Aber seine Gedanken lasteten ungewöhnlich schwer auf dem Boot.

Du hast die Ereignisse aufhalten wollen, aber es war anders bestimmt; sie mußten ihren Lauf nehmen.

Erst hatte er seine Hand eingebüßt und damit sein Leben verloren; und jetzt war ihm noch das Letzte vorbehalten: Er mußte selbst in seinem Boote zu seinen Füßen die eigene, irrsinnig gewordene Tochter fortbringen … Das Unheil, das ihn verfolgte, hatte damit seine Krönung und seinen Abschluß erreicht; und gebeugt unter der niederschmetternden Wucht dieses harten Schicksalsschlages betrachtete er beim Rudern die Wahnsinnige, die den fest um den Körper geschlungenen Schal mit ihren bleichen, verkrampften Händen festhielt.

Solange sich ihr Wille dem seinigen widersetzte, hatte er sie zum Teufel gewünscht. Jetzt fühlte er, wie sich sein Herz ihr auftat. Er sah nur noch sein Kind in ihr. Sein Kind, sein einziges Kind fuhr er da im Boot, seine Tochter, auf die er einmal so stolz gewesen war, als sie so schön heranwuchs und so leichtfüßig über die Schwelle seines Hauses sprang.

Und heute, da er vielleicht, wie er sich im stillen sagte, etwas gutmachen konnte, wenn er sie jetzt fortruderte, hatte sie nicht einmal das Bewußtsein von seiner Nähe … Zwei- oder dreimal, als ihre Blicke sich begegneten, war es ihm so vorgekommen, als duckte sie sich, als zwinge sie etwas, weit von ihm wegzufliehen, aufs Meer hinaus, wie eine erschreckte Schwalbe … Das also war alles, was ihm geblieben war … So mußte es enden.

 

Das Boot trug sie fort. Sie waren allein auf dem Wasser, ganz allein. Nur eine große Seemöve schien ihnen das Geleite zu geben, die mit den regelmäßigen, langsamen Schlägen ihrer schöngebogenen Flügel, die sich blendend weiß von den dunklen Wolken abhoben, zu ihren Häupten flog.

Der Wind blies. Es war ein ziemlich kalter Wind, der rauh die Schultern anpackte. Theotist fror. Ihre Lippen bewegten sich. Sie schienen mit den Tiefen ihrer Seele Zwiesprache zu halten. Unverwandt blickte sie nach Norden, obgleich der graue, dunkle Himmel mit seinem fahlen Nebelschleier keine Sicht zuließ und die Brière in das gleiche, trostlose Licht tauchte … Lange Zeit fuhren sie so dahin.

Einmal, als das Mädchen merkte, daß sich jemand näherte, drehte sie sich um. Sie sah einen Burschen von der Brière, der ihren Weg kreuzte. Da zog sie mit einer erschrockenen Bewegung ihren Schal über das Gesicht und schrie:

»Achtung, da kommt mein Vater!«

Das erfüllte Augustin mit noch größerer Traurigkeit, weil es so enden mußte.

Das Schiff folgte dem Kanal, der am Rande des Moores von Brais hinläuft. Von hier aus mußte man die nördliche Fahrtrichtung verlassen. Theotist, die sich bis dahin still verhalten hatte, begann jetzt unruhig zu werden. Sie wimmerte laut vor sich hin, und mitunter ging ihre Klage in zornige Töne über. Auf einmal schüttelte sie den Kopf in heftigem Widerspruch wie vorher zu Hause, als sie sich weigerte, in den Wagen zu gehen: »Nein, nein, nein!«

Augustin war ratlos, setzte aber seinen Weg fort.

Da fing sie an zu schreien und mit den Händen um sich zu greifen, als wollte sie etwas festhalten oder die Aufmerksamkeit eines unsichtbaren Schiffes auf sich lenken. Ihre Augen hatten einen verstörten, suchenden Ausdruck. Sie drehte sich und richtete sich auf. Durch all diese ungeschickten Bewegungen geriet der Kahn bedenklich ins Schwanken.

»Dort! … Dort!« schrie sie jetzt, indem sie nach Norden zeigte so wild und ungestüm, daß Augustin tief bestürzt und beunruhigt war.

»Aber laß doch! … Sei doch nicht so aufgeregt«, redete er ihr in sanftem Tone zu.

Langsam begann er zu begreifen, was für eine schwere und harte Last er sich da aufgebürdet hatte; denn das Mädchen hatte sich eine andere Reise in den Kopf gesetzt als die, die man mit ihm vorhatte. Sie wollte ja in die entgegengesetzte Richtung fahren, dorthin, wohin die Sehnsucht ihres Herzens sie immer noch zog … Er mußte zu einer List greifen. Deshalb ließ er das Boot im Kreise drehen.

»Verdammt! … Verdammt!«

Jetzt war er wirklich böse auf Theotist.

»Sei doch ruhig! … Bleib sitzen!«

Die Fahrt ging wieder weiter, schweigend wie zuvor, allerdings in der Richtung, wie Theotist es wollte. Er wird dann eben ganz einfach einen Umweg machen: erst durch den Reiherbach, dann am Steinhügel vorbei, und sobald die einbrechende Dunkelheit ihm ein wenig zu Hilfe käme, so daß die Kranke die Richtung nicht mehr erkennen konnte, wollte er am Westufer entlang zurückfahren.

Nun zeigte sich auch Theotist wieder ruhig und zufrieden. Augustin wollte ihr das Tuch wieder umlegen, das bei ihrer Aufregung heruntergeglitten war und ins Wasser hing. Sie hatte aber eine solche Furcht vor ihm, daß er sie gehen lassen mußte.

Der Abend kam, ein richtiger Dezemberabend, der mit seiner aus dem Wasser aufsteigenden feuchten Kälte durch die Kleider bis auf die Haut drang. Zugleich mit der Nacht fiel ein dichter, schmutzigweißer Nebel ein. Alle Umrisse verschwanden; selbst das Schilfrohr an den Ufern war jetzt nur undeutlich und verschwommen zu sehen. Der Nebel nahm noch zu, und bald konnte Augustin vorn im Kahn nur noch ein schwarzes Kleiderbündel erkennen ohne Gesicht und Hände. Er kam zu der Überzeugung, daß die Fahrt an den Hügeln entlang ein zu großer Umweg wäre, und daß es besser sei, jetzt, wo der Nebel die klare Sicht verhinderte, auf der Stelle zu wenden, auf den Lehmhügel zuzuhalten und dann schräg an der bebauten Anhöhe von Langeau vorbeizustoßen.

Er fuhr kreuz und quer durch die Weiher und Verbindungskanäle; aber der Nebel wurde mit einemmal noch dichter. Von Theotist sah er überhaupt nichts mehr. An einer Bewegung des Bootes erriet er, daß sie sich wahrscheinlich hinausgebeugt hatte, um ihre Hände ins Wasser zu tauchen. Jetzt beherrschte ihn nur noch der eine Gedanke: Heim nach Fédrun, so schnell er konnte.

Rasch suchte er sich zu orientieren. Um die eingeschlagene Fahrtrichtung nicht wieder zu verlieren, mußte er einen mit hohem Schilf bedeckten Weiher durchqueren. Er fuhr hinein. Aber die Schilfstauden waren von einem Büschel zum andern mit dichten Vizellen umgeben, diesen Schlingpflanzen, die alles, was in ihre Nähe kommt, umklammern und festhalten. Seine Füße verfingen sich so gründlich in den quergespannten Ranken, daß er fast in seinem Boot zu Fall gekommen wäre und dabei seine Holzschuhe verlor. Er machte sich daran, sie zu suchen – das nahm geraume Zeit in Anspruch –, sie waren wer weiß wohin geflogen. Einen mußte er sogar aus dem Schlamm herausfischen. Inzwischen hatte sich der Kahn unbemerkt gedreht. Jetzt hatte er auch die Richtung verloren. Es war ihm unmöglich, sich wieder zurechtzufinden. Der Nebel war so dicht und undurchdringlich geworden, daß er kaum seine Füße sah. Rund herum ragten hohe Schatten auf, die wie ein Wald aussahen. Er merkte aber bald, daß es eine Täuschung war, wie das in solch gefährlichen Nebelnächten mitunter im Schilfdickicht der Fall ist … Was mußte er aber auch wegfahren, wenn das Wetter so bedrohlich aussah!

Aber er war keiner von denen, die angesichts der Gefahr leicht den Kopf verlieren; und so fuhr er gleich wieder los, um zu versuchen, den richtigen Weg zu finden. Er wußte nur so viel, daß er sich irgendwo zwischen dem Kanal von Bréca und dem Steinhügel befinden mußte. Da plötzlich sank seine Ruderstange bis über die Hälfte ein. Er war völlig überrascht, ja bestürzt. Er machte noch ein paar Stöße, aber seine Stange zeigte immer wieder die gleiche außergewöhnliche Tiefe an …

Jetzt machte er halt. Eine fürchterliche Unruhe hatte ihn gepackt. Er fand sich nicht mehr zurecht. Das waren neue, unbekannte Tiefen für ihn, die ihm noch nie begegnet waren … Sonst wußte er doch überall Bescheid. Vermutlich war das eine Senkung aus allerjüngster Zeit.

Sein alter Anhaltspunkt ließ ihn im Stich. Er war ganz fassungslos und haderte mit Gott und der Welt. Zum erstenmal, daß er sich verirrt hatte! Die Brière selber stellte sich jetzt gegen ihn, erklärte ihm den Krieg, hinterging ihn, lohnte ihn mit Verrat. Dieser neue Schlag warf ihn zu Boden … Was ging denn da eigentlich vor zwischen Himmel und Erde? … Was für eine Verschwörung war da am Werk? … Unglück und Not!

Zu seiner größten Angst hörte er jetzt auch noch Theotist mit den Zähnen klappern und dabei diesen zitternden Brummton von sich geben wie jemand, dem die bittere Kälte weh tut … Er rief ihr zu; doch keine Antwort kam zurück.

Er suchte die Windrichtung auszumachen; aber der Wind kam nicht aus einer bestimmten Richtung, sondern wechselte beständig. Da fuhr er in das dunkle Nebeltreiben hinein, wenn sich doch schon alle Mächte des Himmels und der Erde gegen ihn verschworen hatten, immer geradeaus. Dabei zählte er die Stangenstöße. Als er so bis dreihundert gekommen war, landete er in einem Kanal. Aber es war ihm ganz unmöglich, festzustellen, welcher es war. Die Stelle, von der er nach seiner Vermutung vorhin losgefahren war, und diese Zahl der Stöße ließ sich mit keiner der ihm bekannten Streckenlängen in Einklang bringen. Sein Feuerzeug und seine Uhr hätten ihm jetzt sehr nützlich sein können; denn wenn man genau die Zeit weiß, die man von einer Stelle bis zur andern braucht, so hat man wenigstens einen gewissen Anhaltspunkt. Aber er hatte sie nicht dabei. Jetzt wußte er sich keinen Rat mehr … War es vielleicht doch der Acheronne-Kanal? So sehr er sich auch bemühte, die Tiefen und das Ufer mit der Stange abzutasten, er wußte nicht, wo er dieses Wasser und diesen Schlamm hintun sollte. Tod und Teufel! Da er aber durchaus nicht gewillt war, klein beizugeben, rechnete er sich aus, daß er mit zweihundert Stangenstößen geradewegs in den Olivenweiher kommen müßte, wenn das hier der Acheronne-Kanal wäre. Also fuhr er los. Zwanzig Minuten später nach seiner ungefähren Vermutung – denn nichts ist so schwer, als die Zeit in der Nacht richtig zu bemessen – kam er in einen Weiher. Freilich hatte er fünfhundert Stöße gezählt, um dorthin zu gelangen. So war er auch jetzt wieder so klug wie zuvor. Er wußte nicht mehr ein noch aus. Er hielt überall Ausschau nach einem nächtlichen Wahrzeichen: einem Licht, dem Feuerschein der Hochöfen von Trignac, einem Stern … Aber er hätte nicht einmal eine Fledermaus wahrnehmen können, wenn sie um Daumenbreite an ihm vorbeigeflattert wäre. Seine Augen ließen ihn vollständig im Stich. Der Nebel hatte alles verschlungen. Nun gaukelte auch das Schilf keinen Wald mehr vor. Das Schiff, die Ruderstange – nichts war mehr zu sehen.

Nein, es riß nicht ab, das Unglück verfolgte ihn immer noch weiter, und dieses Mal – nie hätte er so etwas für möglich gehalten – half die Brière selber mit, ihn zu verderben. Jetzt trachtete sie ihm sogar nach dem Leben, dieses hinterhältige, falsche Wesen. Wie ein Polyp suchte sie ihn zu umgarnen und in ihren Fangarmen zu erdrosseln. Verflucht! Er biß die Zähne zusammen. Jetzt hieß es, den Kampf mit ihr aufnehmen. Er überlegte, daß er vorhin bei starkem Gegenwind manövrieren mußte, und daß er wohl deshalb mehr Stangenstöße gebraucht hatte als bei ruhigem Wetter; und so wendete er das Boot, um auf dem gleichen Weg zurückzufahren. Aber auch dieser neue Versuch scheiterte. Da fiel ihm ein, daß ein Verirrter die Dinge stets an der entgegengesetzten Stelle sucht, statt dort, wo sie sich wirklich befinden; darum entschloß er sich, den Weiher wieder aufzusuchen und alsdann so zu steuern, als sei es bestimmt der Olivenweiher.

Er fuhr los. Noch hielt ihn die Hoffnung aufrecht, daß er so oder so in den großen Randkanal kommen müßte. Aber seine Erwartung wurde wieder getäuscht. Die Brière hatte ihn mit Blindheit geschlagen.

Unentwegt stieß er sein Boot vorwärts die Kanäle entlang, über die Teiche hin, durch Schilfgehege. Jetzt prallte der Kahn mit Wucht gegen einen Heidestrand, dann saß er wieder im Morast fest oder bohrte sich in ein weiches Moorufer ein.

Theotist ließ nicht einmal ein Seufzen hören. Er lauschte unverwandt zu ihr hin.

»Theotist!«

Er rief ihr in seiner Angst und vergaß vollständig, daß sie gar nicht fähig war, ihm zu antworten.

»Theotist! … Ich habe mich verirrt! … Hörst du, Theotist!«

Es war eine jener kalten, frostigen Nächte, wie sie in der Brière in dieser Jahreszeit nicht selten sind, die den Menschen das Blut in den Adern erstarren lassen. Man hörte das Splittern der dünnen Eisdecke, die sich im Wasser bildete. Dazu wehte ein scharfer Wind, der in heftigen Stößen böte. Die Dunkelheit war so unheimlich wie das Todesröcheln eines großen Tieres.

Augustin hatte jede Willenskraft verloren. Sein Mut zerbrach an dieser undurchdringlichen Finsternis … Plötzlich mußte er an Julius Pelot denken und an einige andere, die auch auf diese Weise in der bitteren Kälte einer Moornacht umgekommen waren. Aber sein Schicksal hatte nichts gemein mit einem natürlichen und erklärlichen Unfall, und so ruderte er wieder weiter in Gottes Namen mit seiner traurigen Last im Boot.

Auf einmal hörte er wilde Schreie und das Schlagen der Hände gegen die Bootswand. Der Kahn legte sich gefährlich auf die Seite. Er warf seine Stange hin und sprang nach vorn. Das Mädchen kniete am Schiffsrand und wehrte sich, weit über das Wasser hinausgebeugt, gegen die Wahnbilder, die es verfolgten. Tappend in der Dunkelheit suchte er sie zurückzureißen und an ihren Platz zu bringen; denn ein Kentern unter diesen Umständen bedeutete für sie beide den hoffnungslosen Untergang. Aber sie wehrte sich mit erstaunlicher Kraft und Wildheit. Sie stieß ihn zurück und nahm wieder den Kampf mit den in ihren Wahnideen eingebildeten Spukgestalten auf. Den Nebel gewahrte sie überhaupt nicht. Sie sah diese Wesen; sie beschrieb sie, wie sie aussahen: Es waren gräuliche Hexen, die auf das Boot eindrangen, unheimliche Furien, die mit aufgesperrtem Maul im Wasser schwammen und ihre Haare im Schilf flattern ließen, wie sie sagte … Das ganze Boot war rings von diesen entsetzlichen Spukgestalten umgeben. Sie reckten sich auf, glotzten mit ihren feurigen Augen, fuhren mit fletschenden Zähnen auf das Schiff los und versuchten, es in die Tiefe zu ziehen.

»Sie wollen sich rächen! Florenze! Florenze!« schrie sie.

Mit seiner gesunden Hand packte er sie am Arm und zog sie an sich.

»Laß los! … Laß los!«

Sie kratzte ihn und machte sich frei. Dann fing sie wieder an, ins Wasser zu greifen, als ob sie dort jemand an den Haaren packen würde.

Es gelang ihm nicht, sie zu beruhigen. Nun sagte er nichts mehr, sondern kauerte sich auf der anderen Seite des Bootes nieder, um es im Gleichgewicht zu halten, und wartete ohnmächtig zu, bis sie sich von selbst beruhigen würde. Er verharrte in tiefstem Schrecken vor dieser entfesselten Stimme des Wahnsinns hier in der eisigen Wasserwüste.

Das ging geraume Zeit so fort. Alle Augenblicke drohte das Boot umzuschlagen. Endlich machte sich eine Ermüdung bemerkbar. Die Stimme wurde heiser; die Kräfte des Mädchens ließen offenbar nach. Auf einmal verstummte sie ganz. Kurze Zeit darauf begann sie wieder zu reden, aber dieses Mal wie in Verzückung: »Oh! Oh … der schöne, große Eisvogel! … Jetzt fliegt er davon!«

Wenig später ging ein Zittern durch das ganze Boot vom Bug zum Heck. Augustin erschauerte bis auf den Grund seiner Seele.

»Theotist!« stöhnte er.

Mehrere Male rief er so.

Nichts antwortete ihm. Schweigen. Es war, als sei sie jetzt selber fortgeflogen …

* * *

Im Morgengrauen irrte das Schifflein noch immer umher. Aber seit vielen Stunden hatte er es aufgegeben, nach dem richtigen Weg zu suchen.

Die ganze übrige Nacht hindurch mußte der alte Mann einzig darauf bedacht sein, sich vor der mörderischen Kälte zu schützen. Jetzt war er vollkommen erschöpft. Er taumelte bei jedem Ruderstoß und hielt sich an der Stange mühsam aufrecht. All seine geistige Regsamkeit war in stumpfsinniges Brüten übergegangen. Der Nebel begann sich zu lichten; er stieg in die Höhe. Allmählich tauchten die Umrisse des Schilfes auf; die Formen des Kahnes wurden wieder sichtbar. Aber er wagte kaum, einen Blick ins Boot zu werfen; denn angesichts des dort ruhenden, leblosen Körpers drohte ihm schier das Herz auszusetzen.

Als dann das Tageslicht den geheimnisvollen Bann nach und nach löste, machte er einen schwankenden Schritt auf die Gestalt zu. Er betrachtete sie lange. Dann ließ er seine Ruderstange fallen und barg das Gesicht in den Händen.

Als er die Hand wieder wegzog, rollten Tränen über seine runzligen Wangen, und er hob seinen Blick von der Erde empor, schaute hoch über die Brière hinaus … Ein himmlisches Licht brach sieghaft durch die Wolken, als schaue der Allewige nieder auf sein Elend … Er konnte seine Augen nicht davon abwenden. Dieses Licht aus der Höhe sah er zum erstenmal … Es drang ihm durch die Seele und hielt Gericht über ihn.

Einige Stunden später fanden ihn Fischer so, wie man einen Schiffbrüchigen auf dem Meere findet. Er stand barhäuptig und sah starr nach einem bestimmten Punkt am Himmel. Da er in diesem Augenblick keines Wortes mächtig war, schafften sie ihn sogleich ans Land. Die anderen nahmen sich der Toten an und bargen sie auf einem ihrer Kähne. In Augustins Boot, das sie dort am Ufer festmachten, fanden sie einen Stoß Decken, die unbenutzt waren.

Kurz danach heulten die Signalhörner über die weite Landschaft hin. Die Anteilnahme war groß, als Augustin bei der Inselspitze das Fischerboot verließ. Eine Menschenmenge umringte ihn, fragte ihn aus und wollte ihn stützen.

Doch er achtete nicht darauf, schob sie beiseite und schaute über sie weg. Sein Gesicht war eingefallen. Mit wankenden Knien schlug er den Heimweg ein. Er mußte sich mit der Hand an den Häusermauern halten.

Unter der Menge, die am Ufer die anderen Fischerkähne erwartete, war auch Frau Nathalie. Herzzerreißend schrie sie auf, als das letzte Boot anlegte. Augustin war indessen bereits in sein Gäßchen eingebogen, das ganz verlassen dalag. Jetzt erst kam ihm das Erinnern an das, was sich in der Nacht zuvor dort zugetragen hatte.

Er wartete ein paar Minuten, dann schleppte er sich zur Tür und schloß sie auf.

Hinten in der Ecke fuhr jäh ein Schatten hoch, der auf seinen Wink hin sich nicht mehr regte. Zunächst aber brachte Augustin kein Wort über die Lippen. Er mußte nach Atem ringen. Schwer stützte er sich auf den Tisch. Dann sagte er mit heiserer Stimme und wehem Herzen, ohne auch nur hinzublicken:

»Geh! Ich verzeihe dir!«

Er lauschte einen Augenblick auf die Schritte, die sich rasch entfernten. Dann brach er an seinem Kamin zusammen.

* * *


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