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Der Winter ist gekommen mit seiner undurchdringlichen Wolkendecke und seinen Regengüssen. Seit acht Tagen rast der Sturm über die Brière hin.
Zugleich hat sich Hochwasser eingestellt. Alles ist gesättigt von Feuchtigkeit. Schwarz und unheildrohend fegen die Wolken über den Himmel.
Auf den Inseln biegen sich die Bäume im Sturm. Die Äste schlagen gegeneinander. Es knackt in den Zweigen. Der Regen klatscht gegen die Fenster und fällt prasselnd auf den durchweichten Boden nieder. Ganze Sturzbäche schießen aus den Dachtraufen. Die Wege glitzern, wie wenn sie mit Fischschuppen übersät wären. Niemand läßt sich blicken; nur ab und zu taucht ein junges Menschenkind auf, das sich die Kleider über den Kopf gehängt hat und eilig dahinrennt.
Ein Streik der Kohlenarbeiter hat die Hütten von Trignac gezwungen, die Arbeit einzustellen. Aber davon ist nichts zu merken. Die arbeitslosen Männer verkriechen sich in den Häusern wie alle anderen Einwohner, die ihre Arbeit ruhen lassen müssen. Nur ein paar alte Weiber von Marlan, Ville-du-Roue und Barbotte sieht man schon morgens in die Kirche gehen. Der Westwind fährt ihnen grob in die Röcke.
Es schüttet, was es kann. Unaufhörlich rauscht der Regen nieder. Das Wasser steigt an den Uferrändern empor und vertreibt die Ratten aus ihren Löchern, in denen sich jetzt dicke Aale einnisten.
Die Brière ertrinkt förmlich in Wasser. Ihre Umrisse sind kaum mehr zu erkennen. Nur wenn ein Wirbelwind den Nebel- und Wolkenschleier zerreißt, ragt da und dort in der Ferne ein Torfhaufen auf einem der Hügel auf. Das sieht dann aus wie ein Gespensterschiff, das auf dem Meere treibt.
Augustin war der einzige Mensch, der sich durch dieses Wetter nicht abschrecken ließ. Jeden Tag stieg er wieder in seinen Kahn und verschwand hinter diesem trostlosen Wolkenvorhang in nördlicher Richtung. Er kam erst abends nach Einbruch der Dunkelheit wieder zurück und aß gegen ein geringes Entgelt bei Julie zu Nacht.
Triefend kam er heim trotz des Rupfenumhanges, den er mit ein paar Kordelstücken über der Brust zusammengebunden hatte. Er roch nach Schlamm, und von seinem Hut tropfte es wie aus einer Dachrinne. Sumpfpflanzen und Stroh hingen an seinen Kleidern.
Von Tag zu Tag gruben sich die Sorgenfalten tiefer in seinem Gesicht ein.
Auf alles, was Julie sagte, antwortete er nur mit Knurren.
Als er eines Abends noch finsterer als gewöhnlich heimkam, sprach sie ihn trotzdem an: »Heute ist jemand da gewesen … Aber anscheinend hast du heute keinen guten Tag … Kann man wenigstens ein Wort mit dir reden?«
Ungut schaute er sie mit seinem geröteten Auge an, in dem ein Äderchen geplatzt war.
»Lieber nicht«, knurrte er, »ich bin nicht dazu aufgelegt.«
Er war wirklich nicht gut aufgelegt. Aber es ist ja Männerart, etwas schon fertig haben zu wollen, bevor es noch angefangen ist; den Turm zu bauen, noch ehe die Kirche steht. Wie oft hatte er getobt: »Ich werde sie schon noch beischaffen, verlaß dich drauf!« Aber sie, die doch nur eine einfältige Frau war, war nie so zuversichtlich gewesen.
»Du mußt eben Geduld haben … Gott kann noch alles fügen«, suchte sie ihn zu beschwichtigen.
»Natürlich kann er alles«, erwiderte er, während er seine Suppe löffelte, die er so zornig hinunterschlang, als wollte er den Dämon füttern, der in seinen Eingeweiden saß. »Ich glaube aber, daß er genau so im Teufel wirkt wie in allem andern.«
Mehr sagte er nicht. Gute Worte haben wenig Sinn, wenn dadurch eine üble Sache nur noch mehr aufgewühlt wird.
»Sei lieber still, wenn du nichts als lästern kannst, und hör zu, was ich dir sagen will: Du hast jetzt lange genug den Einsiedler gespielt. Es ist zum Heulen, wenn man das mit ansehen muß, wie du in einem Hause wohnst, das nicht instand gehalten ist, und wo du noch ganz verkommen wirst wie alte Leute, die niemand mehr haben, der sich um sie kümmert … Was hast du denn für ein Essen? … Und wenn du krank bist, wer schaut nach dir? Ganz abgesehen davon, daß du Pflichten gegen deine Familie hast … Geh, Augustin, du mußt wieder zu deiner Frau zurück!«
Er sah sie lange an und suchte hinter ihre geheimen Absichten zu kommen, aber es war umsonst. Er sah so wenig wie ein blindes Huhn.
Ihre Augen verrieten nichts von dem, was in ihrer Seele vorging. Keine Spur jener Scham war darin zu erkennen, die sie heute empfunden hatte, als Nathalie ihr eine schreckliche Eifersuchtsszene gemacht und ihr mit äußerster Schärfe zugesetzt hatte, weil sie jeden Abend ihrem Mann Unterschlupf gewähre. »Es ist gut«, hatte sie erwidert, »dann wird er eben nicht mehr kommen; ich werde es ihm sagen.« Auf das hin hatte Nathalie aus Angst vor den möglichen Folgen einer solchen Mitteilung sie wehleidig gebeten, alles auf sich beruhen zu lassen und nur zu versuchen, ihren Mann in Güte umzustimmen.
Und aus wirklicher Nächstenliebe wiederholte Julie:
»Begreifst du, daß ich das alles nur zu deinem Besten sage? … Auch deine Frau hat keinen sehnlicheren Wunsch.«
»Meine Frau!« sagte er, und ein höhnisches Lachen huschte über sein Gesicht, das den Sturm in seinem Innern verriet. »Komm, bring mir eine Schüssel! … Eine Schüssel, sag' ich dir noch einmal!«
Bei diesem Ton, den er anschlug, verging Julie alle Lust, noch weiter in ihn zu dringen. Er wartete. In die Schüssel, die sie ihm brachte, ließ er aus seinem Angelkasten den schönsten Aal gleiten, der jemals in den Gewässern am grünen Damm gespießt worden war. Dann nahm er sein Gewehr, ebenso einen großen Falken, der nur verwundet war und dem er die Klauen zusammengebunden hatte, öffnete die Tür und ging in die Nacht hinaus.
Der Regen hatte aufgehört. Nur noch ein letztes Scharmützel gab es droben am Himmel zwischen dem dunklen Gewölk und dem fahlen Mond, der immer wieder wie ein Held im Kampfgetümmel aus den schwarzen Wolken auftauchte, die ihn verdeckten.
Augustin ging zufrieden heim trotz allem, weil sich der Himmel wieder mit der Erde ausgesöhnt hatte. Ausnahmsweise hatte er an diesem Abend den Fußpfad eingeschlagen, der nahe hinter seinem früheren Garten vorbeiführte. Nur der Zaun und das Grundstück des alten Merlin lagen dazwischen.
Es war nicht allzu dunkel, so daß er die Krautköpfe ganz deutlich im dunstigen Zwielicht auf den Beeten unterscheiden konnte.
Seit langem war es das erste Mal, daß er hier wieder vorbeiging. Ohne recht zu wissen warum, blieb er einen Augenblick stehen und warf einen raschen Blick auf die dunklen Umrisse des alten Strohdaches, unter dem er fünfunddreißig Jahre seines Lebens zugebracht hatte.
Die Dachrinne an der Westseite begann sich zu senken. Eine Hand zum Ausbessern wäre bald nötig … Plötzlich gab es ihm einen Ruck, bevor er sich noch über den Grund seiner Erregung ganz im klaren war. Das Gefühl begreift oft rascher als der Verstand. Aber das währte nicht lange. Selbst bei Nacht war ihm das Bild seines Hauses mit all seinen Einzelheiten viel zu vertraut, als daß er die dunkle, unbewegliche Gestalt, die sich dort vorsichtig an die Mauer hindrückte, für eine Sinnestäuschung hätte halten können, und er war doch klar bei Verstand. Das Regenfaß konnte es bestimmt nicht sein.
Offenbar hatte man ihn gehört, denn eine Hand zog den Laden zu.
Verfluchte Bande! Er hätte aufbrüllen mögen … Die Vorstellung allein, daß sich das schon öfters abgespielt haben mochte, was er hier mit ansehen mußte, und daß dieser verliebte Nachtvogel vielleicht schon monatelang so hergeflattert war, ohne daß er Wind davon in die Nase bekam, machte ihn rasend.
Aber in drei Teufels Namen, er beherrschte sich … Nur gut, daß ihm der Zaun da den Weg versperrte, der einen halben Meter über seinen Kopf hinausreichte. Den Umweg machen? So einfältig war er nun doch nicht, zu glauben, daß der Gänserich so lange beim Nest sitzenbleiben würde.
Er starrte durch die Latten. Er schäumte vor Wut. Das Gewehr zuckte ihm in den Händen. Er legte an, zielte genau, den Lauf ins Dunkel gerichtet gegen diesen noch dunkleren Punkt mit dem warmen, pulsierenden Leben.
Er wußte wohl: Sein Gewehr war nicht geladen. Aber, bei Gott, es war schon für ihn wie eine Erlösung, den Lauf auf dieses verkommene Gelichter zu richten.
»Nur zu! Schlafen wir einmal über diese Entdeckung. Eine günstige Gelegenheit wird sich dann schon noch finden, und zwar eine sehr gute, denk' ich.«
Knurrend und haßerfüllt setzte er seinen Weg fort.
Zu Hause angekommen, fluchte er wie ein Türk. Was er da erlebt hatte, dafür gab es nur ein Wort: Unzucht!
Wie konnte das nur sein! Hätte denn der Lauf der Dinge hinter ihm nicht stillstehen, hätte denn nicht alles in Trübsal versinken müssen wie das Leben in einem Körper, dem man die Nahrung entzieht?
Daß er diese Enttäuschung hinnehmen mußte, war für ihn eine unerhörte Demütigung.
Freilich, vieles hatte seine Wachsamkeit eingeschläfert: das beglückende Gefühl seiner Freiheit, der immer größer werdende Ärger mit den Briefen … Heute abend war ihm aber die Lust vergangen, sich weiterhin als Luft behandeln zu lassen, nachdem er es mit eigenen Augen gesehen hatte, wie er hintergangen wurde. Fieberhaft arbeitete sein Gehirn, und er ließ seinen Rachegedanken freien Lauf, ohne sich dabei um Gott und die Welt zu kümmern.
In einem alten Papageienkäfig zu seinen Füßen schlug der verwundete Raubvogel heftig mit den Flügeln um sich. Es war ein großer, rotköpfiger Bussard, den er sich zum Zeitvertreib für die langen Winterabende von seiner Fahrt mitgebracht hatte. Der Vogel äugte nach oben – aus seinem Auge sprach noch deutlich die Erinnerung an seinen Raubvogelhimmel – dann schnellte er hoch, stieß heftig mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe oben am Käfig und fiel kraftlos wieder herunter. Aber sofort wiederholte er mit gesträubten Federn den Versuch, wobei er jedesmal an derselben Stelle, nämlich am Schnabelansatz, anprallte, so daß zwischen seinen beiden goldgelben Augen eine blutende Fleischwunde entstand.
In seine Gedanken versponnen schaute Augustin ungerührt dabei zu, wie er sich diese Wunde stieß, die ja doch gar nichts war im Vergleich zu seinem verwundeten Selbstgefühl.
Am nächsten Morgen griff er wie gewöhnlich wieder zu seiner Ruderstange, unermüdlich und hartnäckig trotz seiner üblen Laune. Sicher brauchte es nicht viel, um seinen Ärger am ersten besten auszulassen; denn es brannte in seinem Innern wie eine Handvoll Pfeffer in einer Wunde.
Diese nächtliche Begegnung ließ ihn an jenen Abend vor etlichen Monaten zurückdenken; denn nichts konnte ihm schmerzlicher die tolle Liebschaft seiner Tochter wieder zu Bewußtsein bringen als dieses Stelldichein, dessen Zeuge er zufällig geworden war. Aber was half es schon, daß er selbst von der Unmöglichkeit dieser Heirat überzeugt war, solange er seinen beiden Weibsleuten das nicht ausgetrieben hatte. Dieser Kerl da aus Mayun, dieser blöde Gänserich, brachte nur Unruhe in sein Leben, er, der die ganze Zeit her seinen Frieden hatte und auch sonst keinem Menschen ein Leid antat. Der Kerl ekelte ihn an. Wenn er an die Küsse dachte, die er seiner Tochter gab, empfand er einen solchen Widerwillen, als spüre er seinen Rüssel auf der eigenen Haut. Seine Gedanken kreisten stets um den einen Punkt, wie er ihm das Handwerk legen könnte.
Wenige Tage später – es war am Abend, als der Mond gerade aufging – glaubten ihn dann auch ein paar Fischer, die in der Umgebung von Camerun ihre Reußen einholten, gesehen zu haben, wie er auf seinem Boot durch den Wasserarm am Roten Hügel hin fuhr.
Er war es auch wirklich, nur ruderte er heute nicht so lässig, wie er es sonst bei seinen Nachtstreifen nach fremden Galgenvögeln machte, die, am Tage von der Heide vertrieben, leicht die Frechheit haben konnten, in der Finsternis zu ihrem dunklen Gewerbe zurückzukehren; auch steuerte er direkt in nördlicher Richtung auf ein bestimmtes Ziel los und hielt scharf Ausschau.
Der Abend war kühl, aber schön. Zum Greifen nahe funkelten die Sterne, vom Großen Bären angefangen bis zum Dreieck.
Sein Schifflein, schwerer als gewöhnlich, glitt wie auf silbernen Fluten dahin, die vom Nachtwind leicht gekräuselt waren, entlang am Schilfdickicht, das je nach seiner Lage zum Mond sich als große, schwarze Masse oder in einem milchigen Weiß darbot.
Mit äußerster Vorsicht – es war die Gegend von Langate – machte er einen Bogen um ein paar bestimmte kleine Inseln, die dort nahe am Festland im leichten Nebel lagen, der in diesen Sumpfgebieten im Gegensatz zu den Torfgründen fast die Regel ist. Er suchte und spähte. Auf einmal duckte er sich und rüttelte an der im Boote ausgebreiteten Plane. Dann fuhr er lautlos näher, ganz zusammengekauert, jede Muskel aufs äußerste gespannt mit der tiefen Sammlung, wie sie jähem Handeln vorausgeht.
Mochte auch der Mann, den er dort erspäht hatte, gegen den Mond gesehen, ganz schwarz erscheinen, er erkannte ihn doch genau, seine Gestalt, seinen Kopf, seine runden Schultern, wie er regungslos am Rande des Binsendickichts stand und den Hals nach rechts und nach links drehte, als hätte er eben ein Geräusch vernommen. Auf der Brière hat man gute Ohren.
Er gab dem Kahn einen Stoß. Aber die Gestalt da vor ihm breitete die Arme aus, riesige Arme, von denen schwarze Stoffetzen herabzuhängen schienen, schlug ein paarmal hin und her, erhob sich über das Röhricht, daß es rauschte wie die Flügel einer Windmühle.
Es war nur ein Seeadler.
Zum Teufel auch! Er ließ den Vogel, der den Sternen zuflog, ruhig ziehen und fuhr brummend ins Dickicht zurück, dorthin, wo die Weidenbüsche über dem seichten Wasser niederhingen, wie man es an den Flußufern findet.
Und dort, am Fuße eines dieser Sträucher, konnte er im schlammigen Ufersand, der wie Glimmer gleißte, kleine, mit Wasser gefüllte Rinnen wahrnehmen, die man zwar kaum sah, ihm aber vollauf genügten. Er brauchte sich gar nicht erst zu vergewissern, ob sich dort auch ein Rohrstab mit der daran befestigten Roßhaarschlinge befand, denn in einer dieser Rinnen zappelte bereits eine Wildente, und weiter unten im Dunkel der Uferspiegelung waren die Umrisse eines stilliegenden Kahnes zu erkennen.
Einem alten, schwarzen Schwane gleich, der aufgeschreckt wird und sich ins Wasser stürzt, so flog sein Boot zum anderen hin.
»He da, du!«
Der andere, der in seinem Kahn auf dem Rücken lag, schnellte mit einer heftigen Armbewegung empor, blieb aber dennoch in liegender Haltung wie gelähmt von dieser Stimme, die er nur zu gut kannte.
Natürlich hätte er sich alles andere gewünscht als eine Begegnung mit dem Flurwächter jetzt auf frischer Tat. Zwar hatte der Anruf gar nicht grimmig geklungen:
»Ein Grünhals ist in deiner Schlinge.«
Das klang fast gutmütig und wurde mit einem leichten Stoß der Ruderstange gegen den Nachen unterstrichen.
Jeanin fragte sich, ob er träume.
Es war ganz ausgeschlossen, daß ihn der Alte nicht erkannt hatte. Dieser sanftmütige Augustin konnte nur ein Doppelgänger des wirklichen sein, vielleicht ein Phantasiegebilde oder ein Traumgesicht. Daher zögerte er, sich zu rühren, so stark waren seine Zweifel, ob diese Gestalt, die sich schwarz gegen den Sternenhimmel abhob, echt oder eingebildet sei.
»Ich habe da auch zwei Biester gefangen … weiß aber gar nicht, was es ist … So was ist mir noch nie vorgekommen … Sie sind ganz blau«, sagte Augustin mit einer Stimme, die keineswegs unwirklich klang, sondern metallen und klar durch die nächtliche Stille drang.
»Ach! So … so«, stotterte Jeanin und richtete sich auf, ganz betäubt von dem unsäglichen Glück, das ihm zuteil wurde; denn in den zwei Stunden, die er dort im Boot lag, hatte ihn fortwährend der teuflische Blick gequält, der sich in alle seine Liebesträume einschlich. Nun erfüllte ihn die völlige Verwandlung des Mannes, der da plötzlich mitten in der Brièrenacht leibhaftig vor ihm stand, mit einer berauschenden Süßigkeit. Das reinste Rosenwunder!
»Sie sind ganz blau«, wiederholte der Alte.
Jeanin war aufgestanden und stammelte voller Höflichkeit: »Darf ich einmal sehen?« Er war neugierig auf die zwei ungewöhnlichen Vögel, die angeblich einem so alten Brièronen unbekannt waren. Unterdessen hatte Augustin die Plane zurückgeschlagen und eine Blendlaterne ergriffen, die schon brennend darunter bereitstand. Er hielt sie hoch und beleuchtete die beiden Vögel, die sich seltsamerweise plötzlich aufrichteten. Es waren zwei Gendarme von Herbignac …
Für einen Missetäter ist es nicht gerade angenehm, von einem Flurwächter ertappt zu werden, aber der Zugriff der Polizei wirkt noch viel nachhaltiger und ist nicht so leicht zu verschmerzen.
Der Bursche war wie vom Blitz gerührt. In seinem Beisein wurde das Gelände ringsum abgesucht. Mehr als zweihundert Fallen kamen dabei zum Vorschein, was ihm eine tüchtige Geldstrafe eintrug. Dann ließen sie ihn laufen. Nun fuhr Augustin mit seinen zwei Spießgesellen wieder heim, die schön warm unter ihrem Persenning schliefen, wie sie auch auf der Hinfahrt geschlafen hatten.
Das gab ein Riesengelächter auf der ganzen Brière und in allen Dörfern, als diese Geschichte ruchbar wurde. Aber gerade das hatte Augustin als Fortsetzung seines Streiches bezwecken wollen.
Zwar machten ein paar Nörgler aus ihrem Mißvergnügen kein Hehl, daß der Alte sich nicht gescheut hatte, aus Privatrache diese blauen Vögel, die sie in Wirklichkeit ja doch nur verachteten, auf die Brière zu lotsen; doch hielt man es allgemein für ausgeschlossen, daß er so schuftig gegen irgendeinen andern hätte verfahren können. So endete das Ganze mit einer allgemeinen Schadenfreude, und die Geschichte trug lediglich dazu bei, sich über die Dummheit der Esel von Mayun noch mehr lustig zu machen.
Natürlich erfuhr auch Theotist von dem Vorfall – das war ja auch der Hauptzweck, den Augustin damit verfolgte –; die Capable selbst sah sich bemüßigt, ihr das alles brühwarm zu erzählen.
»Aber sicher! Du kannst Gift darauf nehmen! … Wenn du's nicht glauben willst, dann brauchst du dich ja nur bei den anderen zu erkundigen.«
In Wirklichkeit war Theotist viel eher geneigt, das Ganze für eine boshafte Erfindung der Capable anzusehen, als daß sie an einen solch hinterlistigen Streich hätte glauben können, der ihr auch deshalb um so unwahrscheinlicher vorkam, weil ihr Vater seit Monaten nichts mehr von sich hören ließ. Von Tag zu Tag hatte sie sich, von ihren Wünschen bestärkt, immer leidenschaftlicher in den Gedanken verrannt, daß sich bestimmt in der einsamen Hütte eine Sinneswandlung vollziehen würde. Diese Gleichgültigkeit, die sie schon immer mit so viel Eifer prophezeit hatte, sah sie bereits als fertige Tatsache an. Sie brauchte diesen Glauben unbedingt, um sich gegen sich selbst und ihre innersten Ängste zur Wehr zu setzen.
Sich erkundigen? Ja, das wollte sie … Aber wen sollte sie fragen? Sie, die durch ihre Liebschaft, die ihr wie ein Schandfleck anhaftete, um all ihr Ansehen gekommen war und sich dadurch gleichsam zu einer Art Mayuner Dirne herabgewürdigt hatte, redete mit niemand mehr und ließ sich kaum am hellen Tage blicken.
Sie sann auf einen Ausweg und führte ihn schon am nächsten Morgen aus.
In ihren Schal gehüllt – es war ein großer, schwarzer Schal, den sie schon seit Wochen trug –, ging sie auf die Straßen hinaus, durch alle Gäßchen kreuz und quer, wo Häuser standen. Sie wußte, daß sie dann niemand zu fragen, sondern nur unterwegs auf die Bosheit der Menschen zu hören brauchte.
Also machte sie ihren Rundgang. Aber sie schlug dabei nicht die Augen nieder, wie sie es sich ursprünglich vorgenommen hatte, sie mußte den Leuten ins Gesicht, auf die Stirne sehen. Sie erstickte fast, so sehr schnürte ihr verwundeter Stolz ihr die Kehle zusammen. Denn schon standen ein paar Neugierige vor ihren Haustüren und stellten fest, daß ihr zögernder Gang wohl kaum auf ehrsame Absichten schließen lasse.
»He da, Theotist! … Du suchst wohl deinen Schatz? Er ist bei seinem Schwiegervater.«
»Ei, das Liebchen braucht wohl Geld, um die Gerichtskosten zu bezahlen!«
Nach einer Stunde hatte sie genug gehört. Sie rannte heim, warf sich verzweifelt auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen: »Es stimmt also! Es ist wahr!«
Ihrer Mutter erzählte sie nichts. Die lebte jetzt in einer andern Welt. Sie hatte ihre ganze Zärtlichkeit einem großen Hund zugewandt, der ihr zugelaufen war.
Sie wartete auf Jeanin; aber Jeanin kam nicht. Sicher wagte er es nicht, wie schon damals nach ihrer ersten Begegnung, sich in dieser Gegend noch einmal blicken zu lassen. Vergebens preßte sie Abend für Abend ihr Gesicht gegen die Scheiben und hielt sehnsüchtig nach ihm Ausschau.
Sie fühlte sich entsetzlich einsam. Ein arges Herzeleid war über sie gekommen, das die Capable mit Wonne erfüllt hätte, wenn dieses böse Weib in ihrer Seele hätte lesen können; diesen tiefen, langsam sich einbohrenden Schmerz, der an der Lebenskraft zehrt und das Gemüt verwüstet wie ein armes, dem Untergang geweihtes Land, bis dann eines Tages unversehens aus den letzten geheimnisvollen Seelenkräften eine furchtbar gleißende Distel aufschießt. So sonderbar ist diese Giftblüte der Hoffnungslosigkeit wie die phosphorglimmenden Farne, die aus einem unterirdischen Schattenreich aufwachsen.
Etwas, was ihr noch nie eingefallen war, und worüber sie noch nie nachgedacht hatte, stand mit einem Male hell leuchtend wie eine Fackel an ihrem Lebensweg: das Bewußtsein, daß sie in ihrer Auflehnung gegen den Vater noch nie eine Verständigung gesucht hatte und ihm einen Einblick in ihr Herz gewährte. Seit ihrem ersten Zusammenprall mit diesem so starken Willen hatte sie sich immer mehr in ihren Eigensinn verbohrt. Nun kam ihr plötzlich die Erkenntnis, daß sie nie ein freundliches Wort, eine liebenswürdige Bitte über die Lippen gebracht hatte, die vielleicht das harte Herz hätten erweichen können, so wie das Wasser die harte Erdkrume bei ihren Geranienstöcken weich werden läßt.
War es zu spät? – Sie wollte es versuchen. Sie wollte zu ihm hingehen, ja ihn auf den Knien bitten, wenn es sein müßte.
Allmählich schlug dieser Gedanke in ihrem von der Leidenschaft zermürbten Herzen immer mehr Wurzeln. Alle Bedenken wurden überwunden, alle Angstgefühle zurückgedrängt. Und der Mann, der ihr so viel Leid aufgebürdet hatte, wurde für sie unter all den vielen anderen, die doch nur erbärmliche Wichte waren, schließlich das einzige Wesen, das die Kraft und auch die Stärke besaß, um sie zu verstehen und ihr womöglich aus ihrer verzweifelten Lage zu helfen.
An dem Abend, als sie sich dazu aufraffte, ihren Vater aufzusuchen, war sie nicht wiederzuerkennen. Es war sehr dunkel auf dem Wege. Sie ging mit ruhiger Entschlossenheit. Alles, was sie ihm sagen wollte, hatte sie sich schon Wort für Wort zurechtgelegt.
In der Finsternis war die Hütte kaum zu unterscheiden. Nur das Fenster war erhellt. Ein dünnes Rauchwölkchen stieg von dem Strohdach auf. An den alten Feigenbäumen raschelten die letzten dürren Blätter im Wind.
Sie brauchte jetzt nur zu klopfen. Ihr Herz schlug heftig. Sie gönnte sich ein paar Minuten, um zu verschnaufen. Sie sah weiter nichts als das erleuchtete Fenster, durch das der Lichtschein auf ihr Kleid fiel.
Vom Wind zerzaust, der vom Gäßchen herwehte, drückte sie sich mit dem Gesicht gegen die Mauer und wartete.
Die Minuten vergingen; sie wartete noch immer. Sie gab eine Viertelstunde zu, dann noch eine, aber auch diese verging.
Sie bebte bis ins Innerste …
Und jetzt wußte sie, daß sie die Türe zu seinem Herzen nie finden würde.