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Ein letztes verschwelendes Rauchwölkchen steigt über dem steilen, strohgedeckten Giebeldach zum klaren Himmel empor. In allen Zweigen rund um die alte Hütte, die soeben erst aufgewacht ist, singen die Vögel. Im Holunder, in den Feigenbäumen wimmelt es von Meisen, und alles ist erfüllt von dem freudigen Konzert, das zu Ehren des mächtigen Feuerballs ertönt, der, von einem Dunstkreis umgeben, jetzt rotviolett am Horizont aus den kühlen Wasserfluten aufsteigt. Es wird Tag.
Drinnen in der Klause beginnt sich die schlafende Hand zu lockern, die wie unter einem Alpdruck sich oben am Holz des Bettes verkrampft hatte. Ein unruhiger Lichtstrahl hat sich unter die Bettvorhänge verirrt als Bote der leuchtenden Morgenröte da draußen am Himmel.
Was ist das für ein Bett, in dem er liegt? Und wie heißt der Ort, wo er jetzt weilt?
Plötzlich zuckt er zusammen und lauscht. Richtig, er hört ein Schnattern … jetzt noch einmal … Es reißt nicht mehr ab … Es ist der Gruß der Enten an die Sonne … dieser niedlichen grauen und schwarzmelierten Enten und der schmucken Erpel mit ihrer dunkelblau geränderten Silberweste … Eine ganze Ewigkeit hat er das nicht mehr gehört … Er ist zu Hause! … Er ist wieder daheim!
Doch wie erbärmlich … nur noch so ein verstümmelter Balg zu sein, als halber Mensch auf einem Strohsack herumzuliegen, er, der einst so viel zu bestimmen hatte und so angesehen war in seinem Amt.
Endlich rafft er sich auf, setzt sich im Bett hoch und stiert finster auf den verstümmelten Arm, der ihn so hilflos macht. Und dazu noch das neue Unglück, das sich zu dem alten hinzugesellt. Theotist? … Nein … Was sie getan hat, sah ihr sehr ähnlich … sie wollte es ja nicht anders haben … Das Gefängnis war längst keine so große Schande, wie es eine gewisse Heirat gewesen wäre … Besser so, als ein gewisses Schimpfwort … Nein! Was ihm die Galle ins Blut treibt, ist etwas ganz anderes. Er kocht vor Wut über die Mitteilung von gestern abend, daß man ihm sein altes Dienstschild, das er so lange in Ehren trug, sein altes Amtsabzeichen genommen hat, das nun an einem anderen Arme glänzen muß … Dieser Larmentières, dieser vierzigjährige Grünschnabel … ein Mensch mit einer schmierigen Stimme, gerade recht, um einer Wildente Angst einzujagen … einer, der überhaupt keine Grütze hat, sondern nur nachplaudern kann.
Trug sich dieser Stellvertreter vielleicht gar mit der Absicht, weiterhin im Dienst zu bleiben? Wollte er ihn gar von seinem Amt und seiner Würde verdrängen? … Das wäre ja zum Heulen, wenn er durch den Verlust seiner Hand jetzt sozusagen auch sein Amt als Arm des Gesetzes einbüßen müßte.
Eine tödliche Angst überfällt ihn; sein Stern ist sozusagen im Sinken … Er hat jedes Selbstvertrauen eingebüßt … Mit Schaudern betrachtet er den Ärmel, der leer über das Ende des Handgelenkes herunterhängt …
Augustin, Augustin! … Da heißt es sich rühren … Auf der Stelle gehst du zum Bürgermeister; dort wirst du ja alles erfahren; du brauchst dich bloß vorzustellen. Mach schnell!
Er zieht sich an, so gut es geht.
Einen Augenblick zögert er an seiner Tür. Es graut ihm vor den Leuten; er schämt sich, als Krüppel gesehen zu werden.
Aber was er sich vorgenommen hat, muß er ausführen.
Er geht an seinem Strand entlang und hält sich etwas in den Weiden.
»Herein!«
Das Herz schlug ihm beklommen, als er die Stimme hörte.
Herr Moyon saß in seiner Stube, offensichtlich wieder von einem schmerzhaften Anfall geplagt; denn er stützte sich auf seinen Stock wie der Hafen von Cardiff auf seine Rammpfähle im Uferschlamm, wie sich Augustin früher einmal scherzhaft ausgedrückt hatte. Der Bürgermeister erkannte seinen Besuch nicht gleich. Plötzlich aber erhellte sich sein Gesicht; sein Mund öffnete sich weit, er fuchtelte mit der Hand in der Luft herum, und vor lauter Überraschung blieben ihm die Begrüßungsrufe fast in der Kehle stecken. Etwas anderes brachte er überhaupt nicht heraus. Sein Stock, den er gutgelaunt und in freudiger Überraschung fortgesetzt auf den Boden stieß, führte dabei einen wahren Indianertanz auf; die Schultern, der Kopf, die Augenbrauen, die Augen, ja sogar die Kaninchenfellmütze nahmen lebhaft daran teil.
Dieser Empfang machte Augustin wieder etwas mehr Mut. Herr Moyon packte ihn am Arm und drehte ihn zum Licht hin, um in seiner traurigen Miene zu lesen. »Komm, laß dich ein wenig betrachten!«
»Armer Luzifer!«
Augustin deutete auf seinen leeren Ärmel.
»Ach ja, ich wollte es noch nicht glauben … Der Arzt hatte mir zwar Andeutungen gemacht … Aber Kopf hoch, laß dich nicht vom Schlingern gegen den Mastbaum werfen … So etwas vergißt man wieder … Das Vergessen ist der Schlüssel zur Geduld auf dieser mißratenen Welt … Einen Augenblick! Ich darf dir doch etwas vorsetzen. Wir trinken zusammen ein Gläschen … Himmeldonnerwetter!«
Augustin wurde zuversichtlicher.
Kann denn ein Mann gleichzeitig so ganz in einem Atemzug ja und nein sagen? … Kann er wohl den Aal und die Kröte in denselben Topf tun? Schon war Herr Moyon an der Tür und rief: »Veuvette! … Veuvette! … Bringen Sie sofort Kaffee … Kognak … Rum … die Flasche mit dem Kirsch!« Und er ruhte nicht eher, als bis die Haushälterin alle geist- und herzanregenden Getränke, über die das Haus verfügte, aufgetragen hatte.
Sie saßen nebeneinander. Der Bürgermeister redete unaufhörlich. Seine Schmerzen schienen wie weggeblasen. Augustin wartete. Er wartete, daß der andere auf das heikle Thema zu sprechen käme. Er wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Im Augenblick überhäufte ihn Herr Moyon mit allen Zeichen herzlicher Freundschaft. Er sagte unaufhörlich »mein armer Luzifer« zu ihm, tätschelte ihm dabei aufs Knie, erkundigte sich nach seiner Behandlung und Verpflegung im Krankenhaus, und Augustin antwortete ihm möglichst ausführlich auf alle seine Fragen, um ja nicht durchblicken zu lassen, was er auf dem Herzen hatte. Jetzt endlich gewann er den Eindruck, daß Herr Moyon auf die leidige Sache zu sprechen käme.
»Und nun? Und jetzt? …« fragte soeben der Bürgermeister, und es klang gerade so, als ob er sagen wollte: Nun können wir ja ein wenig von den Dingen reden, die uns angehen.
»Was denn, Herr Moyon?«
»Nun ja … sag mal, wie ist denn das eigentlich zugegangen? … Wie ist denn die Geschichte damals gewesen?«
»Welche Geschichte, Herr Moyon?«
»Nun, zum Teufel! Ich meine, der Vorgang damals, über den man noch nie etwas Richtiges erfahren hat.«
Unwillig zuckte Augustin die Achseln und schwieg.
»Du willst also auch heute nicht reden? Wir stehen noch immer auf demselben Fleck. Die Behörden sind zu dir ins Krankenhaus gekommen, und du hast dich geweigert, ihnen eine Aufklärung zu geben … Und der Gipfel von allem: Du hast es sogar abgelehnt, auf Schadenersatz zu klagen. Unter diesen Umständen natürlich haben sich alle Kameraden des Mannes, auf den der Verdacht fiel, zusammengetan, um ihm ein Alibi zu verschaffen … so daß er nicht im geringsten behelligt werden konnte. Du weißt doch, wen ich meine?«
Aber wenn auch alle Staatsanwälte in Talar und Mütze mit gezücktem Federhalter an Augustin vorbeidefiliert wären, sie hätten keine Silbe aus ihm herausgebracht.
»Sieh doch, die Sache liegt ja schon so weit zurück … Du kannst ruhig reden ich werde keinen Gebrauch davon machen, wenn du es nicht willst. Stockschwerenot!«
Infolge der durch seine Spannung ausgelösten Überreizung verspürte Augustin plötzlich einen Lachreiz, eine Lebensäußerung, die er schon lange nicht mehr kannte. Aber es klang so grimmig, daß Herr Moyon wenig Lust verspürte, mit einzustimmen.
»Warum die Sache noch einmal aufwärmen? … Schließlich geht es auch nur mich allein etwas an.«
Noch immer wartete er vergebens, daß der andere auf das eigentliche Thema zu sprechen käme. Am liebsten hätte er aufgeschrien: »Ach, Herr Moyon, Herr Moyon!«
Doch der Bürgermeister redete jetzt von der Brière.
»Das Gewitter von damals scheint sich verzogen zu haben. Allerdings ist die Sache nicht so abgelaufen, wie man sich erzählt … Die Briefe haben damit nichts zu tun.«
Als Augustin das hörte und besonders die Art, wie es gesagt wurde, hatte er auf einmal das wehe Gefühl, als läge die schöne Zeit, da er zur Suche nach den Dörfern ausgezogen war, mehr als hundert Jahre zurück.
»Es waren zwei Multimillionäre, die sich zusammengetan hatten … Der eine wurde krank … seine ganze Tatkraft erlahmte plötzlich … Der andere hat, wie man fest versichert, sein Geld irgendwo anders angelegt … Er hat eine andere Verwendung dafür gefunden.«
»Ja, ja …!« Herr Moyon sprach das anscheinend zu sich selbst, aber er vollendete seinen Gedanken nicht, der auch nicht gerade heiter zu sein schien.
»Nun, wenn es so steht«, sagte Augustin stockend, »wenn es so steht … jetzt … dann ist es wohl gar nicht mehr nötig … daß die Brière wie früher einen Wächter hat.«
Er wußte wohl, als er so redete, daß er damit den Anschein erweckte, nicht mehr zu wissen, was er sage; ebensowenig kümmerte er sich um das verdutzte Gesicht des andern, das seine Worte auslösten.
»Auf jeden Fall … offensichtlich … war es sehr notwendig gewesen, daß sie bewacht wurde … während ich …«
Herr Moyon machte eine Bewegung, die besagte, daß es in der Tat sehr notwendig gewesen sei.
»Und von wem, Herr Moyon, von wem ist sie beaufsichtigt worden?«
»Von Larmentières aus Pendille, Augustin.«
»Ach so, Larmentières! … Den kenne ich gut …«
Eine Pause trat ein.
»Und nun?« forschte er weiter, und er spürte dabei, wie sich sein Gesicht zusammenzog, trotzdem er zu lächeln versuchte.
»Nun ja …«, meinte Herr Moyon. »Aber zum Kuckuck, du trinkst ja nicht! Der Rum hier ist übrigens ausgezeichnet. Komm, den mußt du versuchen!« Er schob die Flasche vor, um ihm einzuschenken.
Die Wahrnehmung, daß Herr Moyon gerade in diesem Augenblick sein Glas vollschenkte, machte auf ihn einen niederschmetternden Eindruck.
»Natürlich hat er nicht das große Ansehen wie du. Er läuft ja auch noch nicht fünfundzwanzig Jahre für die Gemeindenverwaltungen herum, und dann … Aber trink doch, zum Donnerwetter! … Du trinkst ja nicht!«
»Allein, ich muß die Angelegenheit in der Gemeindenratssitzung noch einmal zur Sprache bringen … Man hat ja schon einmal über die Schwierigkeit verhandelt.«
»Welche Schwierigkeit, Herr Moyon?«
Die Stimme versagte ihm.
»Nun ja, die Schwierigkeit … Es handelt sich eben um diese verteufelte Hand, die dir fehlt … Man fragt sich … ob du dir nach wie vor den gleichen Respekt verschaffen kannst.«
Augustin mußte die Augen schließen und sich mit der Hand an seinem Stuhl festhalten.
»Ich dachte mir schon … daß Sie mir so etwas Ähnliches sagen würden … Ich war darauf gefaßt.«
Das legte sich wie eine Zentnerlast auf seine Brust. Er atmete schwer. Er hörte nichts mehr, und Herr Moyon redete vergeblich auf ihn ein:
»Aber geh! … Du darfst dir die Sache nicht so zu Herzen nehmen … Ruhig Blut! … Du mußt das nur richtig verstehen.«
Er hatte leider alles nur zu gut verstanden. Er stützte die Stirn in die Hand und schaute bekümmert zu Boden.
Plötzlich richtete er sich auf. Ein inneres Feuer hatte ihn ergriffen und gab ihm seine Haltung wieder. Es war der Zorn, sein alter Lebensgefährte.
»Und die Briefe? …« grollte er und ballte die Faust. »Ich war es doch, der sie herbeigeschafft hat, die Briefe!«
»Aber natürlich … aber ja …«, beschwichtigte Herr Moyon und rückte verzweifelt seine Mütze zurecht. »Kein Mensch wird dir das vergessen! … Ich werde deine Verdienste schon geltend machen bei meinen Kollegen, verlaß dich drauf. Freilich … wieviel Verdruß hat mir die ganze Sache schon gemacht! Ich habe ja nur eine Stimme im Gemeindenrat … die anderen kennen dich nicht so gut wie ich … Sie haben aber Bedenken, weil du nicht mehr im Vollbesitz deiner Kräfte bist … insbesondere jetzt, wo es aufzupassen gilt und der Kahn nicht schlafen darf.«
Augustin spuckte aus. Er hielt das alles für eine schlechte Ausrede.
»Wo der Kahn nicht schlafen darf! … Das paßt allerdings nicht ganz zu dem, was Sie mir vorhin gesagt haben … Wenn die Kapitalisten hier keine Absichten mehr haben …«
»Der Kahn darf weniger schlafen als je«, wiederholte Herr Moyon, »und wenn du genau wissen willst, was ich damit meine, dann kann ich dir nur das eine sagen: Die Zeiten haben sich geändert, Augustin.«
»Ja freilich haben sie sich geändert! … Augustin, Augustin, es ist keine Zeit zu verlieren … Nimm dein Boot und deine Stange … Fahr in alle Richtungen … Erinnern Sie sich noch? … Heute sagt man ihm, dem guten Mann: Nimm deinen Hut und geh … Großartig! … Nun gut!«
Seine Kehle war wie ausgedörrt.
»Ich bin vereidigt, Herr Moyon. Und wenn ich es bin, Sie sind es auch.«
Er stand auf. Diese Aufregung hatte ihm doch sehr zugesetzt. Er schwankte, als er zur Tür ging.
»Mein Gott!«
»Herr Moyon, ich gehe!«
»Setz dich noch einen Augenblick her!«
»Herr Moyon, wenn Sie mich brauchen, dann wissen Sie, wo ich zu finden bin.«
»Augustin, ich muß noch mit dir reden … Ich hatte mich so darauf gefreut, dich wiederzusehen.«
»Auch mit einer Hand kann man noch ein Mann sein, Herr Moyon.«
Er klinkte die Tür auf und ging aus der Stube.
Drinnen keuchte Herr Moyon, humpelte aufgeregt hin und her, streckte sein steifes Bein vor und hielt sich dabei an Tisch und Stühlen fest.