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Draußen holte er erst einmal tief Atem, und allmählich legte sich auch wieder das Schwindelgefühl. Die Erde wankte jetzt nicht mehr unter seinen Füßen. Er machte die Augen wieder auf, und alles ringsum, die weiten Wiesen, der Kanal – alles war in diesem Augenblick in ein dunstiges, goldenes Licht getaucht … Die Vögel jubilierten, die Binsen wogten im Wasser, die Winden und Glockenblumen öffneten ihre buntschillernden Kelche. Die ganze Natur mit all ihren Wundern fing wieder an, in seinen Adern zu kreisen … Jetzt dachte er nicht mehr daran, den Blicken auszuweichen, sondern ging mit erhobenem Haupt einher und schlenkerte dabei mit den Händen, der schwarzen vielleicht noch mehr als mit der andern … Welch eine merkwürdige, unerklärliche Fügung des Schicksals! Eines Abends hatte er sich an das Ausgraben seines Mortasstammes gemacht. Der Gedanke war ihm gekommen, ohne daß er recht wußte, wie. Dann hatte er sich daraus eine Hand schnitzen lassen und war hierher gegangen … Und nun kehrte er heim, gleichsam mit seinem gesetzlich neu sanktionierten Arm, ohne daß er auch jetzt um die tieferen Zusammenhänge wußte.
»Sag, hast du schon einmal einen richtigen Hanswursten Purzelbäume schlagen sehen?«
Vergnügt wie ein Kind war er nämlich im Vorbeigehen bei Julie eingetreten.
»Doch, doch«, wehrte sie lachend ab, »ich kenne seine Bocksprünge sehr gut.«
Er hielt ihr die Hand ganz nahe vors Gesicht, kaum zwei Daumen breit entfernt, so daß sie schielen mußte.
»Sancta Justitia! Was schreist du so? … Siehst du denn nicht, daß es eine ganz normale Hand ist mit fünf Fingern, und daß der Daumen kürzer ist als die anderen … aus Holz, das älter ist als Jesus Christus?«
»Oh!« sagte sie in ihrer kecken, zutraulichen Art. »Schon eher eine echte Teufelshand!«
Er blickte hin.
»Du kannst recht haben damit.«
Fast bestürzt sah er aus.
»Die Hand Luzifers! … Vielleicht hat es wohl deshalb so kommen müssen.«
Einen Augenblick wurde er nachdenklich, während Maria, Cendron und Herr Ulrich erschrocken und wie gebannt die künstliche Hand betrachteten und sie dann von oben und unten betasteten, so vorsichtig, als gelte es die erste Berührung mit einem unbekannten Wesen.
Am Nachmittag fuhr ein Kahn durch den Kanal von Nivince weiter in die Brière hinein. Herr Ulrich bediente die Ruderstange.
Nach dem Essen war Augustin zu ihm gekommen und hatte ihm gesagt: »Sie könnten mir einen Dienst erweisen.« Am Ufer gab er ihm die Stange. Sie waren dann ins Boot gestiegen und losgefahren, erst durch den Wasserarm von Grand-Bande, dann durch den Kanal der Ardenttümpel, endlich durch eine Reihe kleinerer Wassergräben … Aber es war nichts aus ihm herauszubringen, was er vorhatte. Augustin gab auf keine diesbezügliche Frage eine Antwort. Er saß auf dem Fischkasten und beschränkte sich darauf, mit seiner schwarzen Hand den Weg zu weisen.
Es war das erstemal seit seiner Heimkehr, daß er wieder im Boot saß; und sichtlich machte es auf ihn einen gewaltigen Eindruck, wieder einmal mitten in seinem großen Fischteich zu sein.
Jetzt bei seiner ersten Wiederbegegnung lagen die Fluren der Brière, soweit man blicken konnte, schon ganz dürr und ausgebrannt zwischen den blauen Wassern.
Es war gerade die ausgiebigste Zeit für den Fischfang. Nicht selten, daß sich jetzt gleich dreißig oder vierzig Schleien auf einmal in den Netzen fingen. Nun hat der fette, schwarzblaue Aal aufgehört, im Süden zu laichen und ist wieder in die nördlichen Gewässer zurückgekehrt. Da fangen die Reußen beim Heraufheben zu erzählen an, vorausgesetzt, daß man sich auf ihre Sprache versteht: »Ich bin an keinem guten Platz gewesen, viel zu tief unten und nicht in der Windrichtung«, oder auch: »Ich bin durchlöchert, blöder Fischer, und du hast es nicht gemerkt. Sie sind gekommen, als du fort warst, die Fische, und haben sich die Würmer an den Legangeln geholt. Sie lassen dir einen schönen Gruß ausrichten.«
»Aber zum Kuckuck, Augustin! Wo wollen wir denn hin?«
»Fahr nur zu …!«
Das Gesicht des Alten war ernst. Aufmerksam sah er in die Ferne, dann wieder rund herum. Nur das Plätschern der Wellen unter dem Kiel war zu hören. Die tiefblaue Wasserfläche, über die der Kahn dahinglitt, war da und dort von einer zitternden Strömung durchbrochen. Die Luft sang in den Ohren; sie trug das feine Säuseln der dürren Rohrwedel mit sich. Alles lag still und verlassen da …
Sie waren jetzt sehr weit nach Norden gekommen in eine Gegend, die sonst kaum von Schiffen befahren wurde. Denn hier an diesen seichten Stellen ist alles von Wolfskerzen und diesen dickstieligen Rebendolden mit dem gelben Saft, von giftigem Schierling, Seerosen und Wassernüssen überwuchert. Sie bahnten sich zur Not einen Weg durch das blau blühende Sumpfgewirr und kamen dann in einen großen, klaren Weiher, der dicht von Riedgräsern und Schilfrohr umgeben war, so daß man nicht einmal die Kirchtürme der einzelnen Dörfer sehen konnte. Hier war man ganz verborgen. Nirgends gab es einen Durchblick und keine Spur von einem Menschen.
Er hob die schwarze Hand hoch.
Herr Ulrich hielt an.
»Geben Sie her!« sagte Augustin und ging zu ihm hin.
Seine Augenbrauen waren in diesem Augenblick finster zusammengeschoben; sein Mund war schmal wie eine Naht … Er nahm die Ruderstange und stand nun aufrecht hinten im Boot. Er sprach kein Wort; er schien zu träumen, auf etwas zu warten, sich zu bedenken … als ob er den Weiher mit den darauf schwimmenden Blasen Und den blauen, gekräuselten Wellen bis tief auf den Grund erforschen wollte … Wie ein Schwimmer, der mit lässiger Hand zwei- oder dreimal prüfend durchs Wasser fährt, so bewegte er mit dem Ende seiner Bootsstange die ruhige Fläche. Dann tauchte er sie plötzlich tief ein und machte heftige Anstrengungen, um das Boot vorwärts zu bringen.
Jetzt wußte Herr Ulrich, warum sie so weit gefahren und weshalb sie diese einsame Stelle ausgesucht hatten.
Der Einheimische von der Brière macht kaum eine überflüssige Handbewegung. Darin unterscheidet er sich von den Leuten vom Festland, die es so wichtig haben, wenn sie ein Boot besteigen, daß man über sie lachen muß. Aber auch der Inselbewohner, der gleichmäßig abwechselnd einmal rechts, einmal links die Ruderstange einsetzt und eigentlich keinen weiteren Kunstgriff kennt, als sich vorm Wind in acht zu nehmen, um nicht durch die Strömung abgetrieben zu werden, ist doch auf die geschickte Zusammenarbeit seiner beiden Hände angewiesen …
Augustin steuerte sein Schiff wie ein Anfänger.
Der Kahn geriet ins Schilf.
Er stemmte sich fest auf die Beine und suchte den Kahn zu drehen. Herr Ulrich sah, wie er seine Muskeln anspannte, weil er anscheinend allem zugleich seinen Willen aufzwingen wollte: der Stange, die sich unter seiner Last bog, dem Schiff, das im Uferschlamm festgefahren war, dem Schlamm selbst, der bis in Schulterhöhe hochspritzte, dem Weiher, der sein Boot wieder flottmachen sollte.
Aber nichts von all dem gehorchte ihm.
Die Adern schwollen ihm auf der Stirne an. Seine Augen hatten sich so fest in den Vordersteven seines Kahnes verbohrt, daß es fast aussah, als wollte er ihn mit der Kraft seines Blickes fortbewegen. Aber er brachte ihn nicht vorwärts, er drehte sich immer wieder um seine eigene Achse.
Herrn Ulrich tat es leid, als er sah, wie er sich so vergeblich abquälte, und er riet ihm nach einer Weile, etwas zu rasten – er war übrigens andauernd in Sorge, daß der Kahn umschlagen würde –, aber der Alte hörte nicht darauf. Er mühte sich ab, suchte es zu zwingen und wieder flott zu werden … Endlich, nach langem Bemühen konnte er dadurch, daß er die Stange schräger ansetzte, einen gewissen Ausgleich für das Zusammenspiel seiner beiden Hände herbeiführen. Wie durch ein Wunder brachte er das Schiff wieder in die Fahrtrichtung, und fuhr langsam vorwärts. Man kam ein paar Meter weiter und schließlich war man wieder in der Mitte des Teiches … Er war am Ende seiner Kraft.
Außer Atem und schweißgebadet setzte er sich hin und starrte finster und schweigend ins Wasser.
Einsam und still war alles rings herum wie die schlammigen Sandbänke zur Zeit der Ebbe draußen im Meer … Es war, als ob alles Leben hier ganz erstorben sei. Augustin sah sehr erschöpft aus. Nur ab und zu hörte man ein Rascheln im Rohr oder das leise Gurgeln einer an der Oberfläche platzenden Luftblase, die von einem Fisch herrührte, und vielleicht auch noch ganz in der Ferne das Geräusch einer Sense.
Tatsächlich war in dem dichten, am Nordrand gelegenen Röhricht ein Mann mit Schilfschneiden beschäftigt, und der singende Ton des Wetzsteines beim Schärfen seiner Sense schallte weithin übers Wasser.
Der Mann mußte sich schwer plagen bei seiner Arbeit; denn das Schilf war hart, mit Iris und Herbstzeitlosen durchsetzt. Die breite Sense legte große Zeilen im Rohr nieder. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick durch die entstandene Lücke. Er sah da drüben auf dem Weiher das stilliegende Boot, das weder zum Fischen noch zum Jagen ausgefahren schien und nach jedem Ruderstoß eine Sekunde haltmachte, wie um sich auszuruhen. Er konnte sich nicht denken, was dieses Boot vorhatte.
Es war Jeanin. Seit früh morgens arbeitete er mit Feuereifer. Er fühlte sich zwischen dem hochgewachsenen Schilf viel wohler als in der Mühle des Müllers Gilles, von wo er erst kürzlich heimgekehrt war. In diese Mühle, die auf der Höhe bei Crossac ihre Flügel dreht, hatte er sich nach der Brandnacht am Steinhügel geflüchtet und die langen Monate der letzten Zeit mit Mehleinfassen und Eselstriegeln zugebracht. Zu einer Beschäftigung gezwungen, die er in Mayun nicht gelernt hatte, war ihm das Leben bei dem Müller recht sauer geworden. Dann aber, als er trotz allem einen größeren Abstand von diesen Ereignissen gewonnen hatte, bekam er allmählich Heimweh, weil er sich so verlassen und so weit weg von seinem Dorf fühlte, in das er sich nicht zurückgetraute.
Manchmal am Abend, wenn die Mühle klapperte, stand er an der Fensterluke, von wo aus man das ganze Torfgebiet übersehen konnte, und schaute wie aus Wolkenhöhen auf die Wiesen in der Ferne, die Seen und all die von ihren Wasserarmen umgebenen Inseln. Er erkannte Fédrun an seinen Lichtern, verspürte aber gar keine Lust, sich heimlich einen Kahn zu nehmen, um dorthin zu fahren; denn noch immer war es ihm, als blitze dort ein Feuerstrahl aus einem Tamariskenbusch auf. Noch immer glaubte er Pulver zu riechen, was sich in seiner Erinnerung zugleich mit dem Gestank von Jauche verband.
Der allabendliche Anblick der Lichter von Mayun, der heimatlichen Öllämpchen, machte ihn ganz wund vor lauter Sehnsucht. Das Verlangen, heimzukehren, zehrte an ihm wie eine Krankheit. Er hatte keinen Appetit mehr. Er mußte in einem fort an das Haus nahe bei der Tränke denken. Immer wieder sagte er sich, daß er es niemals wiedersehen würde. Wahrscheinlich hätte er sich auch zeitlebens nicht mehr heimgetraut und wäre in der Mühle geblieben, bis ihm die Haare grau geworden wären, hätte ihn nicht jene merkwürdige Begegnung, an die er auch heute nur mit Schaudern zurückdenken konnte, zum Fortgehen bestimmt. Es war an einem Abend. Er brachte mit seinem Pferd ein paar Säcke auf die Insel Oliveau, um sie dort beim Müller abzuliefern. Schon war er über Mariandais hinaus, durchquerte gerade die Einöde von Grandes-Prées, da rutschte einer der Säcke, die so schwer waren, daß er sie nicht allein aufheben konnte, vom Rücken des Pferdes herunter auf die Straße. Ratlos stand er da. Auf einmal bemerkte er am Fuße eines Kreuzes einen Mann knien, der dort zu beten schien. Er ging auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Heda! Wollt Ihr mir nicht helfen, meinen Sack wieder aufzuladen, der heruntergefallen ist?« Der Mann drehte sich zu ihm hin, stand wortlos auf, ging zu dem Sack und lud ihn ganz allein dem Tiere wieder auf. »Aber so was, guter Mann, ein Krüppel seid Ihr bei Gott nicht! Ich dank' recht schön.« Der jedoch musterte ihn von oben bis unten, hob den einen Arm hoch und hielt ihm eine Hand vors Gesicht, die, o Schrecken, nicht aus Fleisch und Blut war. – »Der gehört den Lebenden«, sagte die Gestalt zu ihm, »und die Nacht den Toten.«
Wie gelähmt vor Schrecken, konnte er seinen Weg nicht mehr fortsetzen. Er war sofort mit seinem Pferde wieder zur Mühle zurückgekehrt. Am nächsten Morgen nahm er von dem Müller Abschied.
Sein alter Onkel hatte ihn voll Freude wieder aufgenommen. Er saß noch immer auf seinem Schemel und tat seine Arbeit zwischen seinen Faulbaumruten. Aber an der Art, wie er die Gerten bog, die Henkel an den Körben anbrachte, den Korb zwischen den Knien hielt, konnte man merken, daß ein Druck von ihm gewichen war.
Nichts ist bezeichnender für die Denkweise der Mayuner, als daß die Leute, wenn ihnen Jeanin begegnete, sich nicht einmal nach ihm umdrehten. Die Strafe hatte die Schuld mitsamt der Erinnerung an das Vergehen getilgt. Seine Kameraden aus dem Dorf kamen ihm mit der gleichen Ungezwungenheit wie ehedem entgegen, und auch die Mädchen, diese hübschen Dinger, wandten sich nicht hochnäsig ab.
Die Arbeit machte ihm jetzt wieder Spaß. Mit Eifer ging er seinen Geschäften nach. So war es zum Beispiel keine Kleinigkeit, das alte Dach wieder auszubessern, das schon seit Jahren ganz morsch geworden war; und schon bei der leisesten Andeutung des Onkels hatte er sich aufgemacht, um das Schilf dafür herbeizuholen. Ein paar Stunden hatten ausgereicht, um so viel zu mähen, als man dazu braucht. Nun war er fertig damit. Er bündelte es und lud es auf seinen großen Kahn.
Mit einem herrlichen Sonnenuntergang ging der Tag zur Neige. Ein wahrer Feuerregen ergoß sich vom Himmel, an dem lange Wolkeninseln mit glühenden Rändern schwebten. Die ganze Brière war in einen violetten Schimmer getaucht. Jeanins Hände waren von der Sonne rotgebrannt, und mit kräftigen Ruderstößen brachte er seinen Kahn heim, auf dem die grünen Garben hoch aufgeschichtet lagen. Er schaute sinnend auf den feurigen Widerschein über den Wassern. Von den Leuten aber, die so lange auf dem Teiche verweilt hatten, war nichts mehr zu sehen; ihr Kahn war verschwunden.