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VII.

Der Torfstich hatte sich dieses Jahr hinausgeschoben. Wegen des regnerischen Frühjahrs mußte man warten, bis die warmen Sommertage die Bodenfeuchtigkeit aufgesogen hatten. Aber Augustin wartete nicht erst diese Zeit ab, um seinen Eifer zu beweisen und um alle, aber auch sich selbst, davon zu überzeugen, daß er auch heute noch, genau wie früher, seinen Mann stellen konnte. Freilich gab es in dieser Hinsicht bei Ausübung seines Dienstes mancherlei Überraschungen für ihn. In der ganzen Zeit, während er sich mit aller Kraft darauf versteifte, gegen die Ungunst des Schicksals anzukämpfen, hatte er nicht die Muße gehabt, sich mit der Stimmung der Inselbewohner vertraut zu machen, noch viel weniger, daran Anteil zu nehmen. Erst die ausdrückliche Weisung seitens der Gemeindenverwaltung, Fremden nur die Benutzung der öffentlichen Wege zu gestatten, machte ihn auf die eigentliche Lage aufmerksam. Noch mehr wuchs sein Erstaunen, als er überall, wo er ging und stand, den Eindruck gewann, daß seine Landsleute sich anscheinend immer noch nicht beruhigt hatten. Das geistige Barometer stand unablässig auf Sturm. Das kleinste Ereignis gab zu Gerüchten Anlaß, und jedes Gerücht verbreitete sich über das Land so rasch wie ein Blitz, der mit seinen Feuergarben den Himmel aufreißt. Zwar waren die Grenzen bisher unversehrt geblieben; noch immer badeten sich die großen Weideflächen in den alten Moorwassern, und die kleinen Tamariskenbüsche auf den Gemeindewiesen nach der Seeseite hin bewahrten nach wie vor ihr friedliches Aussehen; aber dieser scheinbaren äußeren Ruhe war nicht zu trauen, dahinter verbargen sich wie unter einer Hülle die bösen Absichten einer feindlichen Welt. Wie ein ansteckendes Fieber lief die Furcht durchs Land. Manche gingen gar so weit, ihr Vieh zu verkaufen. – Und zugleich mit der Furcht waren alte, abergläubische Vorstellungen wieder lebendig geworden, die wie ein großer Schwarm schwarzer Unglücksvögel um ihre Köpfe flatterten. All die unguten Ereignisse in der jüngsten Zeit hatten die Luft verpestet … Die geheime Macht des Kapitals, die unheimliche Rolle, die es im Weltgetriebe spielt, um das drehten sich alle ihre Gespräche.

»Wenn fünf oder sechs Sous«, sagte man, »auch gar nicht lange brauchen, um von deiner Hand in meine Tasche zu wandern, so brauchen Millionen und aber Millionen Jahre dazu, um ihren Weg zu machen. Aber kommen werden sie doch …« Und wenn auch manche einen starken Rückhalt in dem Gedanken hatten, daß die Briefe beim Notar wachten, so konnte es zum Beispiel doch geschehen, daß jemand eines Tages zu Augustin sagte, dem es darüber fast die Sprache verschlug: »Was nützen uns alle die Briefe, wenn wir dadurch nur in einen Prozeß verwickelt werden, den wir dann doch verlieren uns alle zugrunde richten wird?«

Zuerst tat er so, als hörte er von all dem nichts, und ein finsterer Blick aus seinen schwarzen Augen war alles, was er darauf zu entgegnen hatte; aber es zuckte ihm förmlich in seiner Rachehand. Am liebsten hätte er diesen Feiglingen ins Gesicht geschlagen. Allmählich aber wurde auch er davon angesteckt. Er biß die Zähne zusammen, wurde wütend und kämpfte so leidenschaftlich dagegen an wie ein Hund, der über den Zaun springen will, um die Vorübergehenden anzufallen.

Überall konnte man ihn treffen: in den Torfgruben, wo er den Stich der schwarzen Erde überwachte, am Wasser, um die Transportschiffe zu zählen, in allen Häusern, wo er die Gefälle für das eingebrachte Schilf und den Ertrag der Fischzüge aufnotierte, so daß sein Notizbuch kaum alle die Zahlen fassen konnte. Und wenn er am Abend nach Sonnenuntergang von seinen Dienstgängen heimkehrte, dann stieg er noch einmal in seinen Kahn, um sich auf dem großen Kanal, der von der Inselspitze zur neuen Chaussee führt, zu üben. Die Wiesen an den beiden Uferseiten lagen dann bereits im Dunkeln, wenn er so im Wasser herumplätscherte oder aber geradezu einen Kampf aufführte. Mit leidenschaftlicher Ausdauer verfolgte er sein Ziel. Er hatte sich einen Ring anfertigen lassen, der in die Holzhand eingeschraubt werden konnte und an dem die Ruderstange ihren Halt fand. Er machte Fortschritte. Immer weiter dehnte er seine Fahrten aus: erst bis zum Sauzierskanal, dann bis zum Sauziersweiher, dann zum Ardentweiher und immer weiter, bis er schließlich dank seiner körperlichen Ausdauer und mit Gottes Hilfe eines Abends bis zum Steinhügel kam.

Was war das für ein herrliches Gefühl, als er dort anlegte! Dieser Steinhügel ging ihm im Kopf herum, seit man ihm von dem Brand erzählt hatte. Möglich, daß der Kerl und das Feuer wiederkamen. Auf diese Gegend mußte man also sein besonderes Augenmerk richten. Die ganze Nacht brachte er dort zu. Er hatte sich unter freiem Himmel in sein Boot gelegt und behütete wie ein Wachtposten den Schlaf seiner geliebten Brière … Freilich, als er dann beim Morgengrauen nach einem kurzen Schlaf erwachte, war er ganz blutig; denn die Blutegel waren in den Kahn gekrochen und hatten sich an seiner Haut festgesaugt.

Sein Heim war wieder recht wohnlich geworden. Es fehlte weder der große, zwölfpfündige Brotlaib im Kasten, noch die zwei oder drei dicken Aale, die er sich bei den Fischern gekauft und in den Kamin gehängt hatte, um sie schmackhaft zu räuchern. Ja, er hatte es sogar fertiggebracht, sie selber dafür herzurichten, was ihm ohne seine künstliche Hand ganz unmöglich gewesen wäre. Erst hatte er sie getötet, indem er sie mit dem Kopf gegen einen Stein schlug; dann preßte er sie mit seiner Holzhand auf dem Knie fest wie in einem Schraubstock. Jetzt brauchte er ihnen nur noch die Kehle durchzuschneiden, die Haut abzuziehen, das Fleisch einzuritzen, sie mit Salz abzureiben, die Haut wieder darüberzuziehen und sie an den Nagel zu hängen.

Julie kam von Zeit zu Zeit und ging ihm zur Hand. Am Sonntag half sie beim Anziehen der Schuhe und machte ihm sein Bett. Alle Tage schickte sie Cendron, der die Gänse auf die Weide treiben mußte. Der Junge ließ sie aus dem Stall heraus, streute ihnen etwas Hafer hin; und wenn sie sich dann den Kropf vollgefüllt hatten, flogen sie mit großem Geschrei über die Weiden davon.

Allerdings, beim Bau eines Bootes, das das alte, jetzt vollkommen schadhafte ersetzen sollte, konnte Julie ihm nicht helfen. So mußte er also diese Arbeit einem Zimmermann anvertrauen, er, der alle seine Boote selbst gebaut hatte, weil nach seiner Überzeugung niemand dieses Handwerk so gut verstand wie er. Ebenso erging es ihm mit seinen Schuppen; er war außerstande, sie auszubessern, ja nicht einmal das Dachwerk konnte er wieder in Ordnung bringen. Aber weil er bei so vielen Dingen, die er früher selber gemacht hatte, auf fremde Hilfe angewiesen war, verlor er langsam wieder die Sicherheit, sein Schicksal gemeistert zu haben. Das Gefühl der Freude, das ihn eine Zeitlang hochgehalten hatte, war bald geschwunden; und der Blick in die Zukunft wäre ihm unerträglich gewesen, wenn ihn nicht der unerbittliche Gedanke, die böse Absicht und der Durst nach Rache davon abgelenkt hätten.

An einem schönen Nachmittag befand sich Augustin draußen auf der Straße zwischen Fédrun und Pendille. Der Bürgermeister, ein paar Straßenaufseher und mehrere ältere Leute standen in Gruppen beisammen. Sie diskutierten heftig über die ganz unerhörte Neuerung, die da geplant war. Es sollte nämlich ein Telegraphenamt auf der Insel St. Joachim eingerichtet werden. Schweigend stand er dabei und verbiß seinen Groll, während alle zu gleicher Zeit aufeinander einredeten und die Schwalben schreiend darüber hinflogen. Plötzlich sah er – was äußerst selten und höchstens zweimal im Jahre passierte – auf der Straße einen kleinen Wagen daherkommen, der mit einer grünen, mit Rundhölzern gesteiften Plane überdeckt war. Das Vordach hing so tief herab, daß man nur zur Hälfte das Gesicht des Kutschers Ribeyron sehen konnte, des einzigen Fuhrunternehmers der ganzen Gegend. Statt nun seine Gangart beizubehalten, als er sich der Gruppe näherte, trieb er sein Pferd mit der Peitsche an, als habe er einen besonderen Grund, rasch vorbeizukommen.

Augustin war ganz sonderbar zumute, als sein Blick dem des Kutschers begegnete. Er konnte es nicht unterlassen, stehenzubleiben und der Kutsche nachzuschauen, die rasch in der Richtung nach Fédrun davonfuhr.


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