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Als ich mit dem Engländer hinfiel, hatte ich mir an einem Nagel oder Splitter den vierten Finger der linken Hand verletzt, und das Blut strömte hervor, wie wenn eine Ader getroffen wäre. Betty half mir ein Taschentuch um die Wunde zu binden, während Sir B. M. meinen Brief mit der größten Aufmerksamkeit las. Ich erblickte in Bettys Handlung ein Vertrauen, das mir sehr gefiel; sie bewies mir dadurch, daß sie der Aussöhnung mit ihrem Liebhaber sicher war.
Ich nahm meinen Nachtsack und meinen Rock und ging in das Nebenzimmer, um die Wäsche zu wechseln und mich anzuziehen. Ich war glücklich, daß eine so heikle Sache, die mir beinahe verhängnisvoll geworden wäre, allem Anschein nach einen glücklichen Ausgang fand, und bedauerte unter diesen Umständen keineswegs, daß meine Liebschaft ein so schnelles Ende nahm.
Ich war bereits seit einer halben Stunde angezogen; da ich sie jedoch ziemlich ruhig englisch miteinander sprechen hörte, so wollte ich sie nicht unterbrechen. Endlich klopfte der Engländer leise an meine Tür, trat mit traurigem Gesicht ein, streckte mir die Hand entgegen und sagte mir: »Ich bin vollkommen überzeugt, daß Sie nicht nur meine Betty gerettet, sondern sie auch von ihrer tollen Liebe geheilt haben. Sie werden mir verzeihen, mein Herr! Ich konnte ja nicht ahnen, daß der Mann, den ich bei meiner Freundin fand, ihr Befreier und nicht ihr Entführer war, ebensowenig, daß der Wagen, den ich vor der Tür sah, und mit welchem, wie man mir sagte, eine schöne Frau und ein Mann angekommen waren, von Rom herkam; hätte man mir diesen letzteren Umstand mitgeteilt, so wäre ich nicht einmal hinaufgekommen. Ich segne das Schicksal, daß Sie mich sofort von hinten packten; denn ich würde Sie getötet haben, sobald ich Sie gesehen hätte, und ich wäre in diesem Augenblick der unglücklichste aller Menschen. Seien Sie mein Freund, mein Herr, und umarmen Sie mich.«
Ich umarmte ihn sogleich und sagte, ich fände sein Benehmen vollkommen natürlich und hätte es an seiner Stelle auch nicht anders gemacht.
Wir gingen wieder in das andere Zimmer, wo wir Betty an das Bett gelehnt stehen sahen. Sie weinte herzbrechend.
Da das Blut immer noch aus meinem Finger heworströmte, ließ ich mir einen Wundarzt holen. Er fand, daß ich mir eine Ader verletzt hatte, und mußte mir einen regelrechten Verband anlegen.
Da Betty immer noch heiße Tränen weinte, glaubte ich dem Sir B. M. sagen zu müssen, sie verdiene seine Verzeihung.
»Wie, mein Herr? Glauben Sie, ich habe ihr nicht bereits vergeben? Ich wäre ja ein ganz gemeiner Mensch, wenn ich nicht anerkennen wollte, daß sie volle Vergebung verdient. Meine arme Betty hat ihren Irrtum eingesehen, sobald Sie ihr die Wahrheit handgreiflich nachgewiesen haben, und ich bin überzeugt, sie weint nur vor Kummer darüber, daß sie sich hat verführen lassen. Sie, mein Herr, können sie nicht so gut kennen wie ich; ich aber weiß, daß sie in Zukunft vor jedem Rückfall gesichert ist, gerade weil sie der Schwachheit einmal ihren Tribut gezahlt hat.«
Rührung ist ansteckend: Sir B. M. war tief gerührt, als er Betty in Tränen zerfließen sah. Er konnte sich nicht enthalten, seinen Tränen ebenfalls freien Lauf zu lassen, und auch ich konnte nicht anders, sondern weinte wie sie.
Als wir genug geweint und geschluchzt hatten, beruhigten wir uns ein wenig, denn die erschöpfte Natur verlangte Ruhe.
Sir B. M. war ein Mann von hochherzigstem Charakter. Er begann zu lachen und zu scherzen, und seine Liebkosungen beruhigten Betty. Wir speisten mit gutem Appetit zu Mittag, und der ausgezeichnete Muskatwein stellte vollends Zufriedenheit und Glück wieder her.
Da wir keine Eile mehr hatten, sagte Sir B. M. uns, wir würden gut tun, uns bis zum nächsten Tage auszuruhen; er war fünfzehn Posten geritten und konnte sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten.
Er erzählte uns: »Gestern kam ich in Livorno an. Als ich Betty nicht in ihrer Wohnung fand, erkundigte ich mich und erfuhr im Malteser Kreuz, von wo aus der Wagenverkehr nach Rom geht, daß der Kofferträger erzählt habe, der Offizier, dem der Koffer gehöre, habe ein Pferd gemietet und dafür eine Uhr als Pfand gelassen. Ich erkannte Bettys Uhr und wußte nun, daß Betty entweder mit ihrem Verführer zu Pferd war oder daß sie mit dem Wagen fuhr, worauf sich ihr Koffer befand. Überzeugt, daß ich sie unterwegs finden würde, zögerte ich keinen Augenblick, sie zu verfolgen. Ich versah mich mit zwei guten Pistolen; nicht um mich derselben gegen sie zu bedienen, denn die erste Regung meines Herzens war, sie zu beklagen, und die zweite, ihr zu verzeihen. Ich nahm die Pistolen in der festen Absicht mit, dem Menschen, der sie unglücklich gemacht hatte, das Hirn auszublasen, und bei diesem Entschluß soll es auch bleiben, bis ich mich für seine Schurkerei gerächt habe. Wir werden morgen nach Rom weiterreisen.«
Bei diesem Schluß seiner Erzählung strahlten Bettys Züge vor Freude; ich glaube, in diesem Augenblick wäre sie glücklich gewesen, mit eigener Hand das Herz des hinterlistigen Schurken durchbohren zu können, der sie an den Rand des Abgrundes gebracht hatte. Sie rief: »Wir werden ihn in Rolands Gasthof finden.«
Sir B. M. sah mich befriedigt an und schloß Betty in seine Arme, wie wenn er mich hätte auffordern wollen, die englische Seelengröße zu bewundern, die in ihrer Kraft allerdings die Schwäche des englischen Charakters bei weitem übertrifft.
»Ich verstehe Sie,« rief ich, »aber Sie werden nicht ohne mich reisen. Umarmen wir uns, und versprechen Sie mir, es mir zu überlassen, daß ich Ihnen Genugtuung verschaffe. Sonst fahre ich sofort ab, komme vor Ihnen in Rom an und rette den Unglücklichen, gegen den Sie beide so vielen Anlaß zur Beschwerde haben. Hätten Sie ihn getötet, bevor er Rom erreicht gehabt hätte, so wäre ihm ganz recht geschehen. In Rom aber wäre es etwas anderes, und Sie könnten es zu bereuen haben, wenn Sie sich Ihrer gerechten Entrüstung überließen. Sie kennen Rom nicht und kennen nicht die Gerechtigkeit der Priester. Also, Sir B. M,, geben Sie mir die Hand und Ihr Ehrenwort, daß Sie nichts ohne meine Zustimmung tun, oder ich verlasse Sie augenblicklich.«
Sir B. M. war ein Mann von meiner Größe, nur etwas magerer; er war fünf oder sechs Jahre jünger als ich, und der Leser kennt wohl schon seinen Charakter, ohne daß ich ihn zu beschreiben brauche.
Meine Rede war ein wenig despotisch und mußte ihn in Erstaunen setzen; er fühlte jedoch bald, was mich so sprechen ließ, und konnte, mir seine Hand nicht verweigern. Als er mich bei der Berührung unserer Hände als Bruder erkannte, leuchtete sein Auge vor Freude auf, und wir umarmten uns als gute Freunde.
»Ja, mein Herz,« sagte nun auch Betty, »überlassen wir unsere Rache dem Freunde, den der Himmel uns gesandt hat!«
»Ich bin damit einverstanden, in der Annahme, daß wir stets einig und gleicher Meinung sein werden.«
Nach diesen Worten trennten wir uns, da Sir B. M. der Ruhe bedürftig war. Ich begab mich zum Fuhrmann, um ihm seinen Lohn zu bezahlen und ihm zu sagen, daß wir am nächsten Tage wieder nach Rom zurückreisen würden.
»Nach Rom! Sie haben also Ihre Brieftasche wiedergefunden? Es wäre besser gewesen, mein guter Herr, Sie hätten sie gar nicht erst gesucht!«
Der gute Mann glaubte, wie alle anderen Leute, die mich mit dem Arm in der Binde sahen, ich hätte mich geschlagen.
Da Sir B. M. zu Bett gegangen war, so verbrachte ich den ganzen Tag mit Betty, die im Gefühl ihres Glücks, einem so wackeren Mann anzugehören, ganz und gar von Dankbarkeit und Liebe durchdrungen war. Sie sagte mir, wir dürften uns des zwischen uns Vorgefallenen nur erinnern, um unser ganzes Leben lang treue Freunde zu sein, ohne daß irgendein Liebesverkehr die Reinheit dieses schönen Bandes befleckte. Ich stimmte dieser Bedingung ohne allzu große Überwindung bei.
Da ihr Herz vor Verlangen brannte, sich an dem hinterlistigen Komödianten für den ihr zugefügten Schimpf zu rächen, so gab ich mir alle Mühe, ihr begreiflich zu machen, daß sie im Gegenteil Herrn B. M. dahin bringen müßte, in einer Stadt wie Rom jeden Gedanken an Gewalttätigkeiten aufzugeben; denn solche könnten ihm teuer zu stehen kommen, und außerdem würde es nur seinem guten Ruf schaden, wenn sein Abenteuer bekannt würde. »Ich verspreche Ihnen, den Burschen ins Gefängnis setzen zu lassen, sobald wir angekommen sind. Dies wird Ihnen genügen müssen; denn der Halunke wird sich in seinen Erwartungen getäuscht sehen und wird statt des Gewinnes, den er erhoffte, nur Elend und Verdruß haben.«
Nachdem Sir B. M. sieben oder acht Stunden ununterbrochen geschlafen hatte, war er viel weniger zornig gegen den Verführer seiner Schönen und nahm meinen Plan unter der Bedingung an, daß er sich das Vergnügen machen dürfte, den Komödianten zu besuchen, denn ihm läge daran, den Burschen kennen zu lernen.
Nachdem wir diese vernünftige Abmachung getroffen und ein ausgezeichnetes Abendessen zu uns genommen hatten, legte ich mich allein zu Bett. Ich tat dies ohne Bedauern, denn ich empfand das Glück, eine gute Handlung vollbracht zu haben.
Am anderen Morgen fuhren wir gleich nach Sonnenaufgang ab. In Acquapendente beschlossen wir die Post zu nehmen und so in zwölf Stunden einen Weg zu machen, wozu wir sonst drei Tage gebraucht haben würden.
In Rom begab ich mich gleich nach unserer Ankunft auf das Zollamt und übergab dem Vorsteher die von dem Notar aufgenommene Urkunde, um Bettys Koffer herauszubekommen. Man brachte uns diesen am nächsten Tage in den Gasthof.
Da Sir B. M. es vollkommen mir überlassen hatte, die Geschichte mit dem Komödianten in Ordnung zu bringen, so begab ich mich zum Bargello, der in Rom eine wichtige Persönlichkeit ist und seine Obliegenheiten stets sehr schnell erledigt, wenn eine Angelegenheit ihm zur Genüge klar gemacht wird, und wenn die Antragsteller keine Kosten scheuen. Er ist denn auch reich und lebt mit einem gewissen Luxus; er hat sozusagen freien oder doch wenigstens bequemen Zutritt zum Kardinalvikar, zum Gouverneur und sogar zum Heiligen Vater.
Er bewilligte mir sofort eine geheime Unterredung. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und sagte zum Schluß: »Man verlangt weiter nichts, als daß der Spitzbube gefangen gesetzt wird und daß er seine Freiheit nur wieder erhält, um aus der Stadt ausgewiesen zu werden. Dieses Verlangen ist sehr gerecht, und Sie begreifen sofort, daß man dies alles leicht auf gesetzlichem Wege erreichen würde; da wir es jedoch eilig haben, so muß ich Sie bitten, alles auf sich zu nehmen, und damit Sie Ihre Erkundigungen recht schnell einziehen können, so biete ich Ihnen fünfzig Scudi an, die wir an Gerichtskosten sparen werden.«
Der Bargello verlangte zunächst den falschen Wechsel und die in dem Köfferchen des Abenteurers enthaltenen Sachen und Briefe.
Da ich den Wechsel bei mir hatte, so gab ich ihm diesen gegen Quittung und bat ihn, die Sachen im Gasthof abholen zu lassen.
Er sagte mir: »Sobald es mir gelungen ist, ihn in Gegenwart mehrerer zuverlässiger Zeugen zum Geständnis einiger der von Ihnen angeführten Vergehungen zu bringen, wird die Sache nicht lange dauern. Ich weiß bereits, daß der Mensch bei Roland wohnt und daß er auf dem Zollamt war, um den Koffer der Engländerin herauszubekommen. Es liegt gegen ihn genügend viel vor, um ihn für ein paar Jahre auf die Galeeren zu schicken, wenn man statt fünfzig Scudi hundert ausgeben will.«
»Das können wir noch sehen; zunächst haben wir am Gefängnis genug.«
Der Bargello war sehr erfreut, als er vernahm, daß das Pferd dem Komödianten nicht gehörte; er sagte mir, wenn ich gegen neun Uhr wieder vorsprechen wollte, könnte er mir ganz gewiß etwas Neues mitteilen.
Ich versprach es ihm.
Ich hatte in Rom sehr viel zu tun, vor allen Dingen den Kardinal Bernis aufzusuchen; ich verschob jedoch alles andere auf später, um mich nur mit dieser Angelegenheit zu beschäftigen, für die ich mich ganz besonders interessierte.
In unserem Gasthof fand ich einen Lohndiener, den Sir B. M. zu unserer Bedienung angenommen hatte. Er sagte mir, der Engländer sei schon zu Bett gegangen.
Da wir einen Mietswagen brauchten, ließ ich den Wirt kommen und war sehr überrascht, als ich Roland selbst vor mir sah.
»Wie? Ich glaubte. Sie seien noch am Spanischen Platz?«
»Ich habe mein Geschäft meiner ältesten Tochter überlassen; sie hat einen Franzosen geheiratet, der dort gute Geschäfte macht. Ich haben diesen Palazzo genommen, worin ich herrliche Zimmer habe.«
»Hat Ihre Tochter augenblicklich viele Fremde?«
Sie hat in diesem Augenblick nur einen einzigen Franzosen, einen gewissen Grafen de l'Etoile, der sein Gepäck erwartet und ein gutes Pferd besitzt, das ich ihm abzukaufen gedenke.«
«Ich rate Ihnen, bis morgen zu warten und unter keinen Umständen zu sagen, von wem Sie diesen Rat haben.«
»Warum soll ich warten?«
»Für den Augenblick kann ich Ihnen nicht mehr sagen.«
Dieser Roland war Vater der Teresa, die ich neun Jahre früher geliebt hatte und die mein Bruder Giovanni ein Jahr nach meiner Abreise, im Jahre 1762, heiratete. Er sagte mir, mein Bruder sei in Rom mit dem Fürsten Beloselski, dem russischen Gesandten am Dresdener Hof.
»Ich glaubte, mein Bruder könne nicht nach Rom kommen?«
»Er ist hier mit einem Geleitsbrief, den die Kurfürstin-Witwe von Sachsen vom Heiligen Vater erbeten hat. Er will, daß seine unglückselige Geschichte noch einmal abgeurteilt wird, und er hat unrecht; denn wenn er sie auch hundertmal wiederaufnehmen ließe, so würde er stets dieselbe Verurteilung erleiden. Kein Mensch sieht ihn, jedermann weicht ihm aus; selbst Mengs will ihn nicht sehen.«
»Mengs ist hier? Ich glaubte, er sei in Madrid?«
»Er hat einen Urlaub auf ein Jahr erhalten; aber seine Familie ist in Spanien geblieben.«
Nachdem ich alle diese verdrießlichen Nachrichten erhalten hatte – denn ich wünschte weder meinen Bruder noch Mengs zu sehen –, legte ich mich zu Bett, indem ich Befehl gab, mich zum Mittagessen zu wecken.
Eine Stunde darauf riß man mich aus meinem Schlaf, weil jemand da wäre, der einen Brief zu meinen eigenen Händen zu bestellen hätte. Es war einer von den Leuten des Vargello, der die Sachen des Schauspielers l'Etoile abholen sollte.
Beim Mittagessen berichtete ich dem Sir B. M. über alles, was ich getan hatte, und wir kamen überein, daß er mich am Abend zum Bargello begleiten sollte.
Am Nachmittag besuchten wir im Wagen die hauptsächlichsten Villen, und nachdem wir Betty nach dem Gasthof gebracht hatten, begaben wir uns zum Bargello, der uns sagte, unser Mann sei bereits in sicherem Gewahrsam, und wenn uns etwas daran liege, so werde er zu den Galeren verurteilt werden.
»Bevor ich einen Entschluß fasse,« sagte Sir B. M. zu ihm, »möchte ich mit ihm sprechen.«
»Das können Sie morgen tun. Er hat ohne Widerrede alles gestanden, und zwar mit lachendem Munde, denn er stellt die Sache als einen Eulenspiegelstreich dar und behauptet, ihm könne deshalb nichts geschehen, denn das Fräulein sei freiwillig mit ihm gereist. Ich habe ihm den Wechsel zurückgegeben; er nahm ihn mit der größten Gleichgültigkeit in Empfang. Er sagte mir, er sei allerdings Schauspieler von Beruf, nichtsdestoweniger aber von adligem Stande; das Pferd könne er nach seinem Belieben verkaufen, denn die von ihm als Pfand hinterlassene Uhr sei mehr wert als das Tier.«
Ich hatte vergessen, dem Bargello zu sagen, daß die versetzte Uhr Betty gehörte.
Nachdem wir diesem ehrenwerten Beamten der summarischen Justiz Roms fünfzig römische Scudi anvertraut hatten, gingen wir zu Betty, um mit ihr zu Abend zu essen; wir fanden sie damit beschäftigt, ihren wiedererlangten Koffer auszupacken und ihre Sachen zu ordnen.
Sie freute sich, als sie hörte, daß der Spitzbube im Gefängnis war, aber sie verspürte durchaus keine Lust, ihn dort zu besuchen.
Am nächsten Nachmittag suchten wir ihn auf. Der Bargello hatte uns einen Advokaten gegeben; dieser verlangte schriftlich von dem Häftling die Bezahlung der Reisekosten und seiner Verhaftung, sowie einer Geldentschädigung für die von ihm getäuschte Person, falls er nicht etwa binnen sechs Wochen durch eine Bescheinigung des französischen Gesandten seinen gräflichen Stand nachwiese.
Wir fanden l'Etoile mit diesem Schriftstück in der Hand, das einer seiner Mitgefangenen ihm ins Französische übersetzte.
Sobald er mich erblickte, sagte der Bursche mir lachend, ich sei ihm von unserer Wette her fünfundzwanzig Zechinen schuldig; denn er habe Betty bei mir schlafen lassen.
Der Engländer, dem wir den Sachverhalt mitgeteilt hatten, sagte ihm: »Sie lügen; aber ich weiß, daß Sie bei ihr geschlafen haben.«
»Sind Sie Bettys Liebhaber?«
»Ja; und wenn ich dich bei ihr getroffen hätte, hätte ich dir eine Kugel durch den Kopf geschossen; denn du hast sie doppelt betrogen: du bist ja nur ein Bettelkomödiant.«
»Ich habe dreitausend Scudi!«
»Ich hinterlege sechstausend als Bürgschaft, wenn der Wechsel nicht falsch ist. Bis dies festgestellt ist, bleibst du eingesperrt, und wenn er falsch ist, wie ich glaube, so wirst du auf den Galeren dafür büßen.«
»Ich nehme den Vorschlag an.«
»Ich werde mit dem Advokaten darüber sprechen.«
Wir begaben uns zu dem Advokaten, denn dem Engländer lag daran, den frechen Menschen auf den Galeren zu sehen. Es kam jedoch keine Einigung zustande, denn der Unverschämte wollte wohl den Wechsel herausgeben, aber er verlangte, daß bis zum Eintreffen der Antwort der Engländer ihm täglich einen Scudi aussetzen solle, damit er im Gefängnis leben könne.
Da er nun einmal da war, so wollte Sir B. M. sich Rom ansehen; er mußte sich daher vom Kopfe bis zu den Füßen neu kleiden lassen und Wäsche kaufen; denn er hatte sich so wie er war in den Sattel gesetzt. Betty dagegen hatte alles, was sie brauchte, denn ihr Koffer war ein riesiges Ding. Ich wich nicht von ihrer Seite; denn ich wollte ihre Abreise abwarten, um mir mein Leben nach meinem Gefallen einzurichten. Ich liebte Betty, ohne ihrer zu begehren, und hatte an dem Geist des Engländers Gefallen gefunden, denn er war ein sehr liebenswürdiger Mann. Er wollte anfangs nur vierzehn Tage in Rom zubringen und dann nach Livorno zurückkehren; in der Zwischenzeit war aber sein Freund Lord Baltimore eingetroffen, und dieser überredete ihn, einige Tage in Neapel zu verbringen.
Der Lord, der eine sehr hübsche Französin und zwei Bediente bei sich hatte, übernahm es, alle Vorkehrungen zur Reise zu treffen, und bestand darauf, daß ich mitkäme; denn ich hatte den Vorzug gehabt, ihn in London kennen zu lernen.
Mit Freude benutzte ich die Gelegenheit, Neapel wiederzusehen.
Das erste, was ich dort erfuhr, war der Tod des Herzogs von Matalone und die Wiedervermählung seiner Witwe mit dem Herzog von Caramanica.
Da durch diesen Tod die Bekanntschaften, die ich durch den Herzog gemacht hatte, nutzlos für mich wurden, so dachte ich nur noch daran, mich mit meinen Reisegefährten zu belustigen, wie wenn ich noch niemals in Neapel gewesen wäre. Lord Baltimore war bereits mehrere Male dort gewesen, aber seine Geliebte kannte es noch gar nicht und wollte gerne alles sehen, ebenso Betty und deren Geliebter. Ich diente ihnen daher als Cicerone; denn Mylord und ich wußten viel besser Bescheid als diese lästigen Schwätzer.
Gleich am Tage nach unserer Ankunft sah ich zu meiner unangenehmen Überraschung den allzu bekannten Chevalier Goudar, mit dem ich in London verkehrt hatte, dem Lord Baltimore einen Besuch abstatten.
Der berüchtigte Wüstling und seine Frau hatten ein Haus am Posilippo; diese Frau aber war keine andere als die schöne Irländerin Sara, die frühere Aufwirterin in einer Londoner Bierschenke, deren der Leser sich gewiß noch erinnert. Da Goudar wußte, daß ich sie kannte, so hielt er es für notwendig, mich zu ihren Gunsten einzunehmen, indem er uns alle für den nächsten Tag zum Mittagessen einlud.
Sara war nicht im geringsten verlegen, als sie mich sah, ich aber war wie versteinert. Sie war mit der größten Eleganz gekleidet, benahm sich ausgezeichnet mit dem gewandtesten und edelsten Anstand, sprach elegant Italienisch und war von einer entzückenden Schönheit; ich war wie betäubt, denn die Verwandlung war geradezu wunderbar.
Innerhalb einer Viertelstunde sahen wir die Gäste ankommen: es waren fünf oder sechs Damen von höchstem Range, zehn oder zwölf Herzöge, Fürsten, Marchesen und etliche Fremde von allen möglichen Nationen.
Bevor wir uns an den Tisch setzten, der für mehr als dreißig Personen gedeckt war, nahm Madame Goudar vor dem Klavier Platz und sang einige Lieder mit einer Sirenenstimme und mit einer Sicherheit, die die Gesellschaft, die sie bereits kannte, nicht überraschte, die aber mich und meine Reisegefährten in Staunen versetzte, denn es war herrlich.
Diese Art von Wunder hatte Goudar bewirkt. Es war der Erfolg der Erziehung, die er ihr sechs oder sieben Jahre lang hatte geben lassen.
Um ein unbestreitbares Recht auf sie zu haben, hatte er sie geheiratet. Hierauf hatte er sie nach Paris, Wien, Venedig, Florenz, Rom und nach anderen Orten geführt; da er jedoch nirgends ein Glück fand, wie er es beanspruchte, so hatte er sich in Neapel niedergelassen. Hier hatte seine Frau, um Einlaß bei der großen Gesellschaft zu finden, auf seine Veranlassung ihren Ketzerglauben abgeschworen; unter den Auspizien der Königin hatte er eine Katholikin aus ihr gemacht. Das Scherzhafte bei dieser Komödie war, daß die Irländerin Sara von Geburt an katholisch war und niemals aufgehört hatte, es zu sein.
Abgeschmackt fand ich es, daß der ganze Adel, ja sogar der Hof, zu Sara ging, daß aber die schöne Irländerin nirgendwohin ging, weil sie nicht eingeladen wurde. Das war die echte adelige Schmarotzerei, die man in allen Ländern trifft.
Goudar, der mir das alles erzählte, vertraute mir an, daß er sich nur durch das Glücksspiel halte. Pharao und Biribi bestritten die Kosten seiner Haushaltung; andere Mittel hatte er nicht, aber offenbar brachte das Spiel ihm viel ein, denn bei ihm war alles prächtig.
Er lud mich ein, mich bei diesem Geschäft zu beteiligen, und ich lehnte dies nicht ab, da ich sicher war, an dem Gewinn teilzunehmen, den ich der Gesellschaft verschaffen konnte, indem ich mich klug benahm. Ich wußte, was man in solchen Fällen zu tun hat. Meine Börse näherte sich zusehends der Erschöpfung, und ich hatte keine anderen Mittel, um auch weiterhin so leben zu können, wie ich es bisher getan hatte.
Nachdem ich diesen Entschluß gefaßt hatte, entschuldigte ich mich bei Betty und Sir B. M., daß ich nicht mit ihnen nach Rom zurückkehren könnte. Er bestand darauf, mir alles zu ersetzen, was ich für sie ausgegeben hätte. Ich war nicht in der Lage, den Großmütigen zu spielen, und nahm daher sein Anerbieten an.
Zwei Monate nach ihrer Abreise erfuhr ich in Rom vom Bargello, daß l'Etoile auf Fürsprache des Kardinals Bernis aus dem Gefängnis befreit worden war und Rom verlassen hatte. Im folgenden Jahre hörte ich in Florenz, daß Sir B. M. nach England zurückgekehrt war; dort wird er ohne Zweifel sofort nach dem Tode seiner Frau seine Betty geheiratet haben.
Der berühmte Lord Baltimore, Herr von Boston, verließ Neapel einige Tage nach meinen neuen Freunden, um nach seiner Gewohnheit in Italien umherzureisen. Drei Jahre später ging er durch seine angelsächsische Waghalsigkeit zugrunde. Gegen jede Regel der Vorsicht reiste er im Monat August durch die Pontinischen Sümpfe. Er verbrachte eine einzige Nacht in Piperno und starb an der schlechten Luft, die während der heißen Jahreszeit diese vergifteten Gegenden beherrscht.
Ich blieb nach wie vor in Neapel in dem Gasthof zu den Crocielle, weil dort alle reichen Fremden abstiegen; so konnte ich leicht Bekanntschaft mit ihnen machen und ihnen das Glück verschaffen, bei der schönen Goudar ihr Geld zu verlieren. Allerdings tat mir dies im innersten Herzen weh, aber ich mußte mich der Macht der Umstände fügen.
Fünf oder sechs Tage nach Bettys Abreise begegnete ich zufällig dem Abbate Gama; ich fand ihn sehr gealtert, aber fröhlich und gesund. Nachdem wir uns eine halbe Stunde über unsere beiderseitigen Abenteuer unterhalten hatten, sagte er mir, die Streitigkeiten zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Hofe von Neapel seien durch Ganganellis, tapfere Haltung beigelegt; er werde daher nach Rom zurückkehren. Vor seiner Abreise wolle er mich aber einer Person vorstellen, die ich mit Freuden wiedersehen werde.
Ich dachte an Donna Leonilda oder deren Mutter Donna Lucrezia; wie überrascht war ich aber, als ich Agata sah, die Tänzerin, die ich in Turin geliebt hatte, nachdem ich mich von der Corticelli losgesagt hatte! Der Abbate hatte ihr nichts vorher gesagt, und so war die schöne Frau ebenso überrascht wie ich.
Wir waren beide über unser Wiedersehen entzückt und erzählten uns sofort alle Abenteuer, die wir seit unserer Trennung erlebt hatten.
Sie hatte in Neapel nur ein Jahr lang getanzt. Ein Advokat hatte sich in sie verliebt und sie geheiratet, und sie zeigte mir vier schöne Kinder, die sie ihm geschenkt hatte. Der Gatte kam zum Abendessen, und da sie ihm viel von mir erzählt hatte, so fiel er mir um den Hals, sobald sie ihm meinen Namen nannte. Er war ein geistvoller Mann, wie die meisten Paglietti von Neapel. Wir speisten wie alte Freunde miteinander, und während der Abbate Gama sich sofort nach dem Essen empfahl, blieb ich noch bis Mitternacht bei ihnen. Ich mußte ihnen versprechen, am nächsten Tage in ihrer Familie zu speisen.
Obgleich Agata sehr schön war und in der Blüte ihrer Jahre stand, entzündete sie doch nicht wieder das Feuer, womit ich einst für sie geglüht hatte; so war nun einmal mein Charakter, außerdem war ich zehn Jahre älter. Ich freute mich meiner Kühle, denn es wäre mir unlieb gewesen, den Frieden einer glücklichen Ehe zu stören.
Da ich mich ziemlich nahe beim Posilippo befand und an Goudars Bank stark beteiligt war, so begab ich mich von Agata zu Goudar, bei dem ich ein Dutzend Spieler um den grünen Tisch versammelt fand. Dies war in der Ordnung, aber der Anblick des Bankhalters überraschte mich sehr: es war der Graf Medini.
Erst vor drei oder vier Tagen hatte man diesen Medini aus dem Hause des französischen Gesandten, Herrn von Choiseul, gejagt, weil man ihn beim Falschspiel ertappt hatte. Ich hatte mich ebenfalls von früher her über ihn zu beklagen, und der Leser erinnert sich vielleicht noch, daß wir uns auf Degen geschlagen hatten. Ich warf einen Blick auf das Geld der Bank und sah, daß sie in den letzten Zügen lag; denn sie mußte ungefähr sechshundert Unzen stark gewesen sein, und er hatte kaum noch hundert vor sich liegen. Ich war mit einem Drittel beteiligt.
Ich prüfte das Gesicht des Spielers, der diese Verwüstung angerichtet hatte, und erriet sofort, daß Medini mit ihm unter einer Decke steckte. Man sah den Gauner zum ersten Male bei Goudar.
Als die Taille zu Ende war, kam Goudar zu mir und sagte, der Spieler sei ein reicher Franzose, den Medini vorgestellt habe, und ich solle mich nicht ärgern, daß er an diesem Tage gewinne, denn er könne ein anderes Mal viel mehr verlieren.
»Ich frage nicht, wer der Spieler ist«, antwortete ich; »denn dies kann mir gleichgültig sein, da ich in aller Form erklärt habe, ich wolle mich nicht an der Bank beteiligen, wenn Medini abziehe.«
»Ich habe Medini diesen Grund vorgehalten und wollte die Bank um ein Drittel verkleinern, aber er spielte den Beleidigten und sagte mir, im Falle des Verlustes werde er Ihnen Ihren Anteil zurückerstatten, aber die Bank müsse unangetastet bleiben.«
»Gut. Aber wenn er mir nicht morgen früh mein Geld wiedergibt, geschieht irgendein Unglück. Auf alle Fälle ist es Ihre Sache, mich zu entschädigen, denn ich habe mit aller Bestimmtheit erklärt, daß ich auf jede Beteiligung verzichte, wenn Medini die Bank halte.«
»Gewiß können Sie Ihre zweihundert Unzen von mir verlangen; aber ich denke, Sie werden Vernunft annehmen: denn es wäre grausam, wenn ich zwei Drittel verlieren sollte.«
Ich glaubte Goudar nicht; denn ich wußte, daß er ein noch größerer Gauner war als Medini. Ich wartete daher mit Ungeduld das Ende des Spieles ab, um die Sache ins reine zu bringen. Um ein Uhr war alles zu Ende. Der glückliche Spieler entfernte sich goldbeladen, und Medini sagte mit einer ganz unangebrachten Heiterkeit, dieser Sieg würde dem Sieger teuer zu stehen kommen.
»Wollen Sie mir wohl meine zweihundert Unzen wiedergeben?« sagte ich zu ihm. »Goudar hat Ihnen doch jedenfalls gesagt, daß ich nicht am Spiel beteiligt sei?«
»Ich gestehe, daß ich Ihnen diese Summe schulde, wenn Sie durchaus nicht beteiligt sein wollen; aber ich bitte Sie, mir zu sagen, warum Sie nicht die Bank mithalten wollen, wenn ich abziehe?«
»Weil ich kein Vertrauen zu Ihrem Glück habe.«
»Sie begreifen wohl, daß der von Ihnen angeführte Grund bei den Haaren herbeigezogen ist, und daß ich ihn sehr übel auslegen könnte?«
»Ich gedenke Sie durchaus nicht daran zu hindern, ihn nach Ihrem Belieben auszulegen; aber es steht bei mir, zu denken, was mir gut scheint. Ich will zweihundert Unzen haben und überlasse Ihnen alle künftigen Siege über Ihren Sieger. Sie brauchen sich nur mit Herrn Goudar auseinanderzusetzen, und Sie, Herr Goudar, werden mir morgen Mittag diese Summe übergeben.«
»Ich werde sie Ihnen erst übergeben können, wenn Graf Medini sie mir gegeben hat; denn ich habe kein Geld.«
»Ich bin sicher, mein werter Herr, morgen Mittag werden Sie es haben. Adieu!«
Ohne auf seine Gründe zu hören, die nur schlecht sein konnten, ging ich nach Hause. Ich fand die Gaunerei augenscheinlich und war entschlossen, mich von der Spielhölle loszusagen, sobald ich, auf gütlichem Wege oder mit Gewalt, mein Geld zurückerlangt hätte.
Am anderen Morgen um neun Uhr erhielt ich von Medini einen Brief, worin er mich bat, ich möchte bei ihm vorsprechen, um die Angelegenheit zu erledigen. Ich ließ ihm antworten, er möchte sich mit Goudar auseinandersetzen und mich entschuldigen, wenn ich nicht zu ihm ginge.
Eine Stunde später trat er in mein Zimmer und bot seine ganze Beredsamkeit auf, damit ich von ihm einen in acht Tagen zahlbaren Wechsel über zweihundert Unzen annähme. Ich schlug das rundweg ab und wiederholte, ich wollte nur mit Goudar zu tun haben, und verlangte von diesem mein Geld bis Mittag; ich wäre zu allem entschlossen, wenn er es mir nicht wiedergäbe, denn er hätte es von mir nur in Verwahrung. Medini wurde laut und rief, mein Widerstand sei eine Beleidigung für ihn. Ich ergriff ein Pistol, schlug es auf ihn an und befahl ihm, augenblicklich hinauszugehen. Er tat das erbleichend und ohne ein einziges Wort zu sagen.
Um zwölf Uhr mittags ging ich zu Goudar, ohne Degen, aber mit zwei guten Pistolen in der Tasche. Ich fand bei ihm Medini, der mir sofort den Vorwurf machte, ich hätte ihn in meiner Wohnung ermorden wollen.
Ich antwortete ihm nicht, hielt mich immer auf meiner Hut und sagte Goudar, er solle mir meine zweihundert Unzen wiedergeben.
Goudar verlangte sie von Medini.
Und nun wäre der Streit losgegangen, wenn ich diesen nicht dadurch verhindert hätte, daß ich die Treppe hinuntereilte, nachdem ich Goudar gesagt hätte, ich würde gegen ihn einen Krieg führen, der ihn zugrunde richten sollte, wenn mein Geld mir nicht unverzüglich zugestellt würde.
Als ich auf der Schwelle der Torfahrt war, sah ich die schöne Sara, die mich von ihrem Fenster aus bat, die Hintertreppe hinaufzugehen und mit ihr unter vier Augen zu sprechen.
Als ich sie bat, mich zu entschuldigen, sagte sie, sie werde herunterkommen. Einen Augenblick darauf war sie bei mir und sagte: »Sie haben recht, mein lieber Freund, wenn Sie Ihr Geld verlangen; aber mein Mann hat augenblicklich kein Geld und darum müssen Sie zwei oder drei Tage warten. Ich bürge Ihnen für die Bezahlung.«
»Es tut mir leid, meine Gnädige, in diesem Augenblick nichts für eine so liebenswürdige Dame wie Sie tun zu können; aber nichts kann mich beruhigen als mein Geld, und Sie werden mich nicht wieder in Ihrem Hause sehen, dem ich hiermit den Krieg erkläre.«
Kaum hatte ich dies gesagt, so zog sie von ihrem Finger einen Solitär, den ich kannte und der mindestens vierhundert Unzen wert war. Sie bat mich, diesen Ring als Pfand anzunehmen.
Ich nahm ihn, machte ihr meine Verbeugung und ging. Ohne Zweifel war sie sehr erstaunt, denn sie war in einem Morgengewande von so verführerischer Unordnung, daß sie wohl kaum eine Abweisung zu befürchten brauchte.
Sehr zufrieden mit meinem Siege ging ich zu dem Advokaten, Agatas Mann, bei dem ich zu Mittag essen sollte. Ich erzählte ihm die Geschichte mit allen Einzelheiten und bat ihn, jemanden ausfindig zu machen, der mir zweihundert Unzen auf den Ring gäbe. Er sagte, er werde das selber machen, schrieb mir eine Quittung in aller Form und gab mir sofort zweihundert Unzen; hierauf schickte er in meinem Namen an Goudar ein Briefchen und teilte ihm mit, daß der Ring bei ihm hinterlegt sei.
Nachdem diese Sache in Ordnung gebracht war, fand ich meine gute Laune wieder.
Vor dem Essen nahm Agata mich mit sich in ihr Zimmer, öffnete einen schönen Juwelenkasten und zeigte mir die herrlichen Ohrgehänge und die anderen Schmucksachen, die ich ihr geschenkt hatte, als ich reich und in sie verliebt war. Dazu sagte sie: »Ich bin jetzt reich und verdanke Ihnen mein ganzes Glück, mein lieber Freund; Sie würden mich daher glücklich machen, indem Sie alles wiedernehmen, was Sie mir gegeben haben. Fassen Sie dies nicht als Beleidigung auf! Mein Herz ist voller Dankbarkeit, und was ich Ihnen sage, ist heute morgen zwischen meinem guten Manne und mir verabredet worden.«
Um mir alle Bedenken zu nehmen, zeigte sie mir hierauf alle Diamanten, die ihr Gemahl ihr geschenkt hatte. Sie hatten früher seiner ersten Frau gehört und besaßen einen sehr beträchtlichen Wert. Voller Dankbarkeit und Bewunderung für ein so edles und zartfühlendes Benehmen konnte ich keine Worte finden, um ihr meine Gefühle auszudrücken, aber ich drückte ihr innig die Hände, und meine Blicke sagten ihr deutlich genug, was ich in meinem Herzen fühlte.
In diesem Augenblick trat ihr Gatte ein. Es war wirklich alles zwischen ihnen verabredet worden; denn der brave Mann ergriff freundschaftlich meine Hand und sagte mir, ich dürfte nicht zögern, den Vorschlag seiner Frau anzunehmen, die mir dadurch ihre und seine aufrichtige Freundschaft bewiese. Mit diesen Worten umarmte er mich zärtlich.
Wir begaben uns wieder zur Gesellschaft, die aus einem Dutzend guter Freunde bestand; aber der einzige, der meine Aufmerksamkeit fesselte, war ein sehr junger Mann, der offenbar in Agata verliebt war. Er hieß Don Pasquale Latilla. Er besaß alles, was ein Mann braucht, um geliebt zu werden: Geist, Liebenswürdigkeit, Manieren und ein sehr hübsches Gesicht. Wir machten uns bei Tisch näher miteinander bekannt. Unter den Angehörigen des schönen Geschlechts entzückte mich vor allen ein junges Mädchen. Sie war erst vierzehn Jahre alt, aber wie eine Achtzehnjährige entwickelt. Agata sagte mir, sie studiere Musik, um sich dem Theater zu widmen, denn sie sei arm.
»Arm und so schön?«
»Ja, denn sie will sich nur ganz und gar hingeben, und wenn ein Mann sie haben wollte, müßte er für alles aufkommen; in Neapel aber sind Männer solcher Art sehr selten.«
»Es ist unmöglich, daß sie keinen Liebhaber hat!«
»Wenn es der Fall ist, so weiß wenigstens kein Mensch etwas davon. Du kannst ihre Bekanntschaft machen und sie besuchen; dann wirst du es bald erfahren.«
»Wie heißt sie?«
»Callimene. Sie wohnt am Platz beim Eierschloß. Die Dame, die in diesem Augenblick mit ihr spricht, ist ihre Tante, und ich errate, daß sie von dir sprechen.«
Wir setzten uns zu Tisch. Das Essen war ausgezeichnet: reichlich und verständig zubereitet. Agata strahlte vor Freude, daß sie mich von ihrem Glück überzeugen konnte. Der alte Abbate Gama war ganz stolz darauf, daß er mich eingeführt hatte; Don Pasquale Lattila konnte nicht eifersüchtig sein auf die Aufmerksamkeiten, die sein Abgott für mich hatte, denn ich war ein Fremder und konnte Anspruch darauf machen; und Agatas Mann glänzte durch seinen Geist und durch die Abwesenheit der gewöhnlichen Vorurteile, durch die der natürliche und lebhafte Geist seiner Landsleute noch sehr verdunkelt wird.
Während man mich so von allen Seiten mit Aufmerksamkeiten überhäufte, beschäftigte ich mich beständig mit Callimene. Ich wünschte sie geistreich zu finden und richtete daher oft das Wort an sie; sie antwortete mir höflich, aber immer so kurz, daß ich ein scherzhaftes Gespräch nicht anknüpfen konnte.
Ich fragte sie, ob Callimene ihr Familienname oder ihr Rufname sei.
»Es ist mein Taufname.«
»Der Name ist griechisch, und Sie wissen ohne Zweifel, was er bedeutet.«
»Nein.«
»Rasende Schönheit oder schöner Mond.«
«Ich freue mich, zu vemehmen, daß ich mit meinem Namen nichts gemein habe.«
»Haben Sie Brüder und Schwestern?«
»Ich habe nur eine verheiratete Schwester, die Sie vielleicht kennen.«
»Wie heißt sie und wo ist sie verheiratet?«
»Ihr Mann ist Piemontese, aber sie lebt von ihm getrennt.«
»Sollte es etwa Madame Slopis sein, die mit dem Ritter Acton reist?«
»Ganz recht.«
»Ich werde Ihnen angenehme Nachrichten über sie geben.«
Nach Tisch fragte ich Agata, in welcher Eigenschaft das reizende Geschöpf bei ihr zu Mittag äße.
»Mein Mann ist ihr Pate und tut für sie, was er kann.«
»Wie alt ist sie genau?«
»Vierzehn Jahre.«
»Das ist ein Wunder! Welch eine Schönheit«
»Aber ihre Schwester ist noch schöner.«
»Ich kenne sie nur dem Namen nach.«
In diesem Augenblick meldete man Goudar, der mit dem Herrn Advokaten eine geheime Unterredung zu haben wünschte.
Der Advokat empfing ihn in einem Nebenzimmer, und als er eine Viertelstunde darauf wieder kam, sagte er mir, er habe die zweihundert Unzen empfangen und dafür den Ring herausgegeben.
So war also die Geschichte erledigt. Ich war sehr froh darüber. Allerdings war ich mit Goudar auf ewig erzürnt, aber daraus machte ich mir sehr wenig.
Es wurde Karten gespielt, und Agata brachte mich mit Callimene zusammen, die mich durch ihren reizenden Charakter entzückte, der ebenso völlig ungekünstelt war wie ihre Schönheit.
Ich sagte ihr alles, was ich von ihrer Schwester wußte und versprach ihr, mich in Turin zu erkundigen, wo sie sich augenblicklich aufhielte. Ich sagte ihr, daß ich sie liebte, und fragte sie, ob sie mir erlaubte, sie zu besuchen. Ich war von ihrer Antwort sehr befriedigt.
Am anderen Morgen hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als ihr guten Tag zu sagen. Ich fand sie mit ihrem Lehrer am Klavier. Ihr Talent war mittelmäßig, aber die Liebe ließ es mich hervorragend finden.
Als der Lehrer fort war, blieb ich mit ihr allein. Die reizende Kleine entschuldigte sich tausendmal wegen ihres armseligen Morgenrockes und wegen der armseligen Möbel. Sie bedauerte unendlich, daß es ihr unmöglich sei, mir ein anständiges Frühstück oder Mittagessen anzubieten.
»Dies alles trägt nur dazu bei, in meinen Augen Ihren Wert zu erhöhen; ich fühle mich unglücklich, daß ich nicht imstande bin. Ihnen ein Ihrer würdiges Vermögen anzubieten.«
Während sie anhörte, was ich zum Lobe ihrer Schönheit sagte, erlaubte sie mir, sie mit Küssen zu bedecken; als ich aber weitergehen wollte, hielt sie mich zurück, indem sie mir gleichzeitig einen Kuß gab, wie wenn sie mich besänftigen wollte. Ich machte eine Anstrengung, mich zu beherrschen, und es gelang mir, ruhig zu bleiben. Dann bat ich sie, mir aufrichtig zu gestehen, ob sie einen Geliebten habe.
»Ich habe keinen.«
»Haben Sie einen gehabt?«
»Niemals.«
»Nicht einmal vorübergehend, so aus Laune?«
»O nein, nie!«
»Wie? Sie sind so schön und, wie ich glaube, auch sinnlich, und es sollte in Neapel kein Mann sein, der es verstanden hätte, Ihnen Wünsche einzuflößen?«
»Niemand; denn niemals hat einer dies versucht. Niemand hat bis jetzt so zu mir gesprochen wie Sie! Das können Sie mir glauben.«
»Ich glaube Ihnen, und ich sehe, daß ich meine Abreise beschleunigen muß, um nicht der unglücklichste aller Menschen zu werden.«
»Wieso denn?«
»Indem ich Sie liebe, ohne daß ich hoffen kann, Sie zu besitzen.«
»Lieben Sie mich und bleiben Sie! Warum sollten Sie es nicht dahin bringen, daß ich Sie liebe? Mäßigen Sie nur Ihre Erregung; denn Sie werden begreifen, daß ich nicht in Sie verliebt werden kann, wenn ich sehe, daß Sie sich nicht selber beherrschen können.«
»Wie jetzt zum Beispiel?«
»Ja. Wenn ich Sie ruhig sehe, werde ich denken, Sie mäßigen sich mir zuliebe, und Liebe entspringt oft aus Dankbarkeit.«
Sie sagte mir damit auf feine Weise, daß sie mich noch nicht liebte, daß es aber wohl allmählich dahin kommen könnte, und ich begriff, daß der von ihr angedeutete Weg der beste war, um mich zum Ziel zu führen. Ich befand mich in dem Alter, wo ein Mann sich leicht entschließt, geduldig vorzugehen.
Nachdem ich sie zärtlich umarmt hatte, fragte ich sie beim Abschied, ob sie Geld nötig hätte.
Über diese Frage errötete sie; gleich darauf aber sagte sie mir, ich möchte ihre Tante, die im Nebenzimmer wäre, danach fragen.
Ich ging allein hinein und war ein wenig verlegen, als ich zwei sehr bescheidene Kapuziner bei ihr fand, die sie mit einem einfachen und scherzhaften Geplauder unterhielten, während sie nähte; dicht bei ihnen waren drei junge Mädchen damit beschäftigt, Wäsche zu nähen.
Die Tante wollte aufstehen, um mich zu begrüßen; ich hielt sie davon ab, erkundigte mich nach ihrer Gesundheit und machte ihr lächelnd ein Kompliment über ihre Gesellschaft. Sie lächelte ebenfalls, die Kapuziner aber blieben wie Bildsäulen auf ihren Plätzen, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Ich nahm einen Stuhl und setzte mich ihr ganz dicht gegenüber.
Die Tante streifte, wie man zu sagen pflegt, das fünfzigste Jahr, wenn sie nicht schon rittlings quer darüber saß; ihre Manieren waren höflich, ihr Benehmen anständig und ihre Züge zeigten die Spuren einer Schönheit, die der Rost der Jahre angefressen hatte.
Obwohl ich völlig frei von Vorurteilen bin, war die Gegenwart der beiden Bocksbärte, die in ihren Kutten schwitzten und infolgedessen ekelhafte Gerüche ausströmten, mir im höchsten Grade unbequem. Es kam mir als eine Beleidigung vor, daß sie so hartnäckig blieben. Ich wußte wohl, daß sie Menschen waren wie ich, und daß sie trotz ihrem Bocksbart und ihrer schmierigen Kutte dieselben Neigungen haben mußten wie ich; aber ich fand ihre Frechheit unverzeihlich, denn sie verachteten offenbar mein Recht, sie schlecht zu behandeln. Ich konnte sie nicht beleidigen, ohne die Dame zu beleidigen, und das wußten die Burschen; sie wußten, daß ich Rücksicht auf die Dame nehmen mußte. Niemand weiß solche Berechnungen besser auszunützen als ein Mönch.
Nachdem ich ganz Europa durchzogen habe, kann ich sagen, daß ich nur in Frankreich eine anständige Geistlichkeit gefunden habe, die sich in den Grenzen ihres Standes zu halten weiß.
Nach einer Viertelstunde konnte ich es nicht mehr aushalten und sagte der Tante, ich hätte ihr etwas unter vier Augen mitzuteilen; ich glaubte, nun würden die beiden Satyrn verschwinden; aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Tante stand auf und führte mich in das andere Zimmer.
Auf meine Frage, die ich so schonend wie möglich stellte, antwortete sie mir: »Ach, ich brauche nur allzu dringend zwanzig Dukaten (ungefähr achtzig Franken), um meine Miete zu bezahlen.«
Ich drückte ihr diesen Betrag in die Hand und sah sie tief von Dankbarkeit durchdrungen; aber ich entfernte mich, ohne ihr Zeit zu lassen, mir diese auszudrücken.
An diesem Tage hatte ich ein eigentümliches Erlebnis, das ich meinen Lesern, wenn ich jemals welche haben sollte, mitteilen muß.
Als ich allein auf meinem Zimmer speiste, meldete man mir einen Venetianer, der mich zu kennen behauptete und mit mir zu sprechen wünschte.
Ich ließ ihn eintreten und sah ein Gesicht, das mir nicht unbekannt war, auf das ich mich aber nicht besinnen konnte.
Der Mann war von meiner Größe; aus seinen Zügen sprachen Hunger, Elend und Erschöpfung; er hatte einen außerordentlich langen Bart und einen kahlen Kopf. Er trug eine eselsgraue Kutte und um den Leib einen dicken Strick, woran sich ein Rosenkranz und ein schmutziges Taschentuch befanden, über seinen Rücken hing eine große Kapuze herab; in der linken Hand hielt er einen viereckigen Korb und in der rechten einen langen Stock. Dieser Mensch, der mir noch heute vor den Augen steht, sah nicht aus wie ein Diener Gottes, ein reuiger Sünder, ein demütiger Almosenempfänger, sondern wie ein Verzweifelter, ein Rasender, ein Mörder.
»Wer sind Sie? Es kommt mir vor, wie wenn ich Sie irgendwo einmal gesehen habe, aber...«
»Ich werde Ihnen sagen, wer ich bin, und Sie werden überrascht sein, wenn Sie meine Leiden vernehmen; zuvor aber lassen Sie mir etwas zu essen geben, denn ich sterbe vor Hunger; seit drei Tagen habe ich nur eine schlechte Suppe gegessen.«
»Gern. Lassen Sie sich unten etwas zu essen geben, und kommen Sie dann wieder; denn während des Essens könnten Sie ja doch nicht mit mir sprechen.«
Mein Lakai ging mit ihm hinunter, um ihm etwas zu essen geben zu lassen; als er wieder hinaufkam, befahl ich ihm, mich nicht mit dem Mann allein zu lassen; denn dieser flößte mir Angst ein.
Trotzdem war ich ungeduldig, seine Geschichte zu hören, denn ich war überzeugt, daß ich ihn kennen mußte.
Nach dreiviertel Stunden kam er wieder; er sah aus wie ein Kranker, dem ein Fieberanfall das Gesicht entflammt hat.
»Setzen Sie sich und sprechen Sie frei heraus!«
«Ich bin Albergoni.«
»Wie?«
Dieser Albergoni war ein Edelmann aus Padua, mit dem ich fünfundzwanzig Jahre früher sehr eng befreundet gewesen war.
Albergoni hatte wenig Vermögen, aber viel Geist und eine große Neigung zur Genußsucht und zur Satire. Er machte sich über die Behörden und über die betrogenen Ehemänner lustig, feierte Venus und Bacchus als ein wahrer Athlet, frönte der Päderastie und war ein entschlossener Spieler. Außerdem war dieser jetzt abstoßend häßliche Mann bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren schön wie ein Antinous gewesen.
Er erzählte mir folgendes:
»Eine Gesellschaft von etlichen jungen Tollköpfen, zu denen ich gehörte, hatte ein Kasino auf der Zuecca, wo wir köstliche Stunden verbrachten, ohne einem Menschen etwas zuleide zu tun. Irgend jemand bildete sich ein, unsere Gesellschaften seien unerlaubten Vergnügungen gewidmet, man machte uns im tiefsten Geheimnis den Prozeß, das Kasino wurde geschlossen, und gegen die Mitglieder wurden Haftbefehle erlassen. Alle flohen, außer mir und einem gewissen Branzandi. Nachdem wir zwei Jahre lang auf den Ausgang unseres Prozesses gewartet hatten, kam endlich das ungerechte Urteil heraus. Mein unglücklicher Leidensgefährte wurde verurteilt, enthauptet, um dann verbrannt zu werden; ich erhielt zehn Jahre carcere duro. Im Jahre 1765 wurde ich in Freiheit gesetzt und zog mich nach Padua zurück, wo ich ruhig leben zu können hoffte; aber man quälte mich unaufhörlich, und um mir diesen Aufenthalt zu verekeln, klagte man mich abermals desselben Verbrechens an. Ich glaubte, dem Blitzstrahl nicht trotzen zu können, und begab mich nach Rom; zwei Jahre darauf verurteilte der Rat der Zehn mich zu lebenslänglicher Verbannung. Man kann eine solche Strafe geduldig ertragen, wenn man seinen Lebensunterhalt hat; aber mein hinterlistiger Schwager hat sich meines Vermögens bemächtigt, und das ungerechte Tribunal hat ihn dabei begünstigt. Ein römischer Sachwalter ist beauftragt worden, mir eine Pension von täglich zwei Paoli anzubieten unter der Bedingung, daß ich in rechtsgültiger Form auf alle Ansprüche irgendwelcher Art verzichte. Ich habe diese unbillige Bedingung abgelehnt und Rom verlassen, um hier bei Neapel Eremit zu werden. Seit zwei Jahren treibe ich dieses traurige Gewerbe; aber ich kann es nicht länger aushalten, das Elend tötet mich.«
»Kehren Sie nach Rom zurück; ich glaube mit zwei Paoli täglich werden Sie dort leben können.«
»Ich bin entschlossen, lieber zu sterben, als in solche Schmach einzuwilligen.«
Ich bedauerte ihn aufrichtig, mußte ihm aber leider sagen, daß ich nicht reich sei. Ich lud ihn jedoch ein, während meines ganzen Aufenthaltes in Neapel in meinem Gasthof auf meine Rechnung zu essen; ich würde den Wirt benachrichtigen. Zugleich gab ich ihm eine Zechine.
Drei oder vier Tage darauf sagte mein Bedienter mir, der Unglückliche habe sich das Leben genommen.
Man fand in seiner Kammer fünf Lotterienummern, die er Medini und mir zum Dank für die ihm erwiesenen Wohltaten vermachte. Diese fünf Nummern brachten der Lotterie von Neapel viel Geld ein; denn jedermann spielte darauf, nur ich nicht. Keine einzige der Zahlen kam heraus; aber diese Enttäuschung heilte keinen Menschen; denn es besteht nun einmal das Vorurteil, daß die Nummern, die jemand unmittelbar vor seinem Selbstmord aufschreibt, unfehlbar seien. Dieses Vorurteil ist bei dem unwissendsten, wenn auch zugleich geistreichsten Volk Europas unausrottbar eingewurzelt.
Ich besuchte die Leiche des Unglücklichen, bei dessen Anblick sich mir das Herz umdrehte. Hierauf ging ich in ein Kaffeehaus, wo ein Klugsprecher seine Ansicht über den Selbstmord zum besten gab und behauptete, der Tod durch Erhängen müsse köstlich sein, denn jeder Mann, der sich aufhänge, habe im Augenblick des Todes eine Erektion. Er hatte vielleicht recht, andererseits könnte die Erektion auch von einer schmerzhaften Erregung erzeugt sein, und ich dachte daher damals, wie ich noch heute denke: um diese Frage entscheiden zu können, müßte man alles selber durchgemacht haben.
Als ich das Kaffeehaus verließ, hatte ich das Glück, einen kleinen Taschentücherdieb bei der Hand zu erwischen, als er mir gerade ungefähr das zwanzigste im Laufe eines Monats stehlen wollte, überall, besonders aber in Neapel, gibt es eine ganze Menge kleiner Schlingel, die nur von diesem Gewerbe leben und deren Geschicklichkeit erstaunlich ist.
Als der Bursche sich erwischt sah, bat er mich, keinen Lärm zu machen; er werde mir alle Taschentücher wiedergeben, die er mir gestohlen habe, im ganzen sieben oder acht.
»Du hast mir mehr als zwanzig weggenommen.«
»Nicht ich, sondern einer meiner Kameraden. Kommen Sie mit mir, vielleicht finden Sie sie alle wieder.«
»Ist es weit?«
»Am Schloßplatz. Aber lassen Sie mich los, man beobachtet uns.«
Der kleine Spitzbube führte mich nach einem elenden Wirtshaus und ließ mich in ein Zimmer eintreten, wo ein sehr beweglicher Mann mich fragte, ob ich alte Sachen kaufen wollte. Als er erfuhr, daß ich Taschentücher wünschte, die mir gestohlen worden wären, öffnete er einen großen Schrank und zeigte mir mindestens zweihundert, unter denen ich ein Dutzend von den meinigen fand, die ich für eine Kleinigkeit zurückkaufte.
Einige Tage später kaufte ich ohne alle Gewissensbedenken mehrere andere von ihm, obwohl ich bestimmt wußte, daß sie gestohlen waren.
Dieser ehrliche neapolitanische Händler, ein richtiger Jude in seinem Beruf, hielt mich offenbar für unfähig, ihn zu verraten; denn zwei oder drei Tage vor meiner Abreise aus Neapel sagte er mir im Vertrauen: wenn ich ihm für zehn- oder zwölftausend Dukaten Waren abkaufen wollte, könnte ich in Rom oder anderswo das Vierfache daran verdienen.
»Was sind das für Waren?«
»Uhren, Tabaksdosen, Ringe, die ich hier nicht zu verkaufen wage.«
»Und Sie fürchten nicht, entdeckt zu werden?«
»Ich habe nicht viel zu befürchten; auch vertraue ich mich nicht aller Welt an.«
Ich dankte ihm, weigerte mich aber, seine Kleinodien zu sehen; denn ich fürchtete, der Versuchung nicht widerstehen zu können, für zehn zu kaufen, was fünfzig wert war. Dies hätte mich in einen Abgrund stürzen können.
In meinen Gasthof zurückgekehrt, fand ich dort neu angekommene Fremde, von denen einige mir bekannt waren. Bartoldi war von Dresden mit zwei jungen Sachsen angekommen, deren Mentor er war. Die jungen Herren waren schön, reich und sahen ganz danach aus, wie wenn sie das Vergnügen liebten.
Bartoldi war ein alter Bekannter von mir. Er hatte in der italienischen Komödie des vorigen Königs von Polen den Harlekin gespielt. Nach dem Tode des Herrschers war Bartoldi zum Kommissionsrat für die Opera buffa ernannt worden. Die Kurfürsten-Witwe, die eine große Musikkennerin war, liebte diese Oper sehr.
Die anderen Fremden, die zu gleicher Zeit mit großem Gefolge angekommen waren, waren Miß Chudleigh, die inzwischen Herzogin von Kingston geworden war, ein Lord und ein Chevalier, deren Namen ich vergessen habe.
Die Herzogin erkannte mich sofort und war ohne Zögern damit einverstanden, daß ich ihr den Hof machen wollte. Eine Stunde darauf machte Herr Hamilton ihr einen Besuch, und ich war entzückt, seine Bekanntschaft zu machen. Wir speisten alle zusammen. Herr Hamilton war ein genialer Mann; trotzdem hat er sich schließlich mit einem jungen Mädchen verheiratet, die das Talent besaß, ihn in sie verliebt zu machen. Dieses Unglück stößt oft klugen Leuten zu, wenn sie alt werden. Sich zu verheiraten, ist immer eine Dummheit; aber wenn ein Mann sie zu einer Zeit begeht, wo seine körperlichen Kräfte abnehmen, so wird sie unverzeihlich; denn die Frau, die er heiratet, kann – besonders wenn sie jung ist – nur Gefälligkeiten für ihn haben, die er stets teuer bezahlen muß; wenn aber zufällig die Frau in ihn verliebt ist, so tötet sie ihn. Vor sieben Jahren war ich dicht daran, diese Dummheit zu begehen; ich danke Gott, daß ich meine Absicht nicht ausführte.
Nach unserem Mittagessen stellte ich der Herzogin die beiden Sachsen vor, die ihr Nachrichten von ihrer sehr guten Freundin, der Kurfürstin-Witwe, gaben; hierauf gingen wir zusammen ins Theater. Zufällig befand Madame Goudar sich in der Loge neben der unsrigen, und Hamilton amüsierte die Herzogin, indem er ihr die Geschichte der schönen Insulanerin erzählte; sie war jedoch nicht neugierig, deren Bekanntschaft zu machen.
Nach dem Abendessen machte die Herzogin eine Partie Quinze mit den beiden Engländern und den beiden Sachsen. Das Spiel war klein, der Verlust mittelmäßig, und die beiden Sachsen waren siegreich. Ich hatte nicht mitgespielt, beschloß jedoch, am nächsten Tage mich ebenfalls an dem Spiel zu beteiligen.
An diesem Tage speisten wir alle bei dem Fürsten von Francavilla, der uns ein herrliches Mahl gab. Gegen Abend führte er uns nach einem ihm gehörenden kleinen Bade am Meere und zeigte uns ein Wunder. Ein Priester warf sich nackt in das Wasser und schwamm, ohne irgendwelche Bewegung zu machen, wie ein Fichtenbrett. Es war nichts Künstliches dabei, denn es ist unzweifelhaft, daß er diese Fähigkeit der Einrichtung seines inneren Organismus verdankte. Hierauf gab der Fürst der Herzogin ein sehr interessantes Schauspiel: er ließ gleichzeitig alle seine Pagen, Jünglinge von fünfzehn bis siebzehn Jahren und schön wie Liebesgötter, ins Wasser springen. Sie tauchten fast gleichzeitig aus den Wellen empor und schwammen vor unseren Augen, indem sie durch tausend verschiedene Stellungen ihre Kraft und ihre Anmut zeigten. Alle diese jungen Adonisse waren die Mignons des liebenswürdigen und prachtliebenden Fürsten, der in der Liebe Ganymed der Hebe vorzog.
Die Engländer fragten den Fürsten, ob er ihnen dasselbe Schauspiel mit Nymphen an Stelle der Adonisse geben würde, und er versprach es ihnen für den nächsten Tag in einem ungeheuern Marmorbassin zu geben, das er mitten im Garten seines prachtvollen Hauses in der Umgegend von Portici hatte herstellen lassen.