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Es war das vierte Abenteuer dieser Art, das mir in meinem Leben begegnete. Es ist an sich nicht zu verwundern, daß einem solche Erlebnisse begegnen, wenn man allein reist und einen Wagen mietet. Dieses vierte Abenteuer hatte aber etwas Romantischeres an sich als die früheren.
Ich besaß ungefähr zweihundert Zechinen und war fünfundvierzig Jahre alt; ich liebte noch immer das schöne Geschlecht, obgleich mit viel weniger Feuer; ich hatte mehr Erfahrung und weniger Mut zu kühnen Unternehmungen; denn da ich mehr wie ein Papa als wie ein Jüngling aussah, so billigte ich mir selber nur noch wenig Rechte zu und machte geringe Ansprüche.
Das junge Madchen, das an meiner Seite saß, war freundlich und hübsch, einfach, aber sehr sauber nach englischer Art gekleidet, blond und zierlich. Ihr knospender Busen zeichnete sich unter einem Halstuch von feinem Musselin ab; ihre Gesichtszüge waren edel, ihre Haltung war sehr bescheiden. Ein Hauch jungfräulicher Unschuld umgab sie und flößte Zuneigung und zugleich Ehrerbietung ein.
»Ich hoffe, meine Gnädige, Sie sprechen Französisch?«
»Ich spreche auch ein bißchen Italienisch, mein Herr.«
»Ich schätze mich glücklich, daß das Schicksal mich dazu ausersehen hat. Sie nach Rom zu bringen.«
»Vielleicht bin ich glücklicher als Sie.«
»Wie man mir gesagt hat, sind Sie zu Pferde angekommen.«
»Allerdings; aber das war eine Torheit, die ich nicht wieder begehen werde.«
»Mir scheint, Ihr Gemahl hätte sein Pferd verkaufen und einen Wagen nehmen sollen.«
»Es gehört ihm nicht, mein Herr; er hat es in Livorno gemietet und muß es in Rom an eine ihm bezeichnete Adresse abliefern. Von Rom werden wir nach Neapel im Wagen fahren.«
»Sie reisen gern?«
»Sehr gern, aber es muß etwas bequemer sein.«
Bei diesen Worten wurde die Engländerin, deren Alabasterantlitz keinen Tropfen Blut zu enthalten schien, plötzlich purpurrot.
Ich erriet die Qual, die sie ausstand, und mehr als die Hälfte ihres Geheimnisses. Ich bat sie um Verzeihung, daß ich sie belästigt hätte, und schwieg dann länger als eine Stunde, indem ich scheinbar die Gegend betrachtete. In Wirklichkeit aber beschäftigten meine Gedanken sich mit ihr, denn sie begann mir eine lebhafte Teilnahme einzuflößen.
Obgleich die Lage meiner jungen Begleiterin mehr als zweideutig war, beschränkte ich mich darauf, sie zu beobachten, denn ich wollte Klarheit haben, bevor ich etwas unternahm. Geduldig wartete ich bis Buonconvento, wo wir zu Mittag aßen und wo der Gatte der Dame uns erwarten sollte.
Wir kamen um zehn Uhr an.
Die Fuhrleute fahren in Italien stets nur im Schritt; man geht schneller zu Fuß, denn sie machen nur drei Miglien in der Stunde, Man langweilt sich zu Tode, und wenn es warm ist, muß man um die Mitte des Tages fünf bis sechs Stunden Halt machen, um nicht krank zu werden.
Mein Fuhrmann sagte mir, er wolle nicht weiter fahren als bis San Quirico, wo der Gasthof sehr gut sei; er breche daher erst um vier Uhr wieder auf.
Wir hatten also sechs Stunden vor uns, um uns auszuruhen.
Meine Engländerin war erstaunt, ihren Gatten nicht zu sehen, und suchte ihn mit den Augen. Ich bemerkte es und fragte den Wirt, wo er sei. Dieser antwortete, er habe gefrühstückt, sein Pferd ausruhen lassen und ihn beauftragt, uns zu sagen, er werde uns im Nachtquartier erwarten, wo er ein gutes Abendessen bestellen werde.
Ich fand das sehr sonderbar, sagte aber nichts. Die arme Engländerin tadelte sein Verhalten und bat mich, seine Leichtfertigkeit zu entschuldigen.
»Ihr Herr Gemahl gibt mir dadurch einen Beweis seines Vertrauens, und ich kann ihm daher nichts übel nehmen, meine Gnädige, das ist so französische Art.«
Der Wirt fragte mich, ob der Fuhrmann die Ausgaben für mich bezahle. Als ich dies verneinte, bat die junge Engländerin mich, sich zu erkundigen, ob er Auftrag habe, die Rechnung für sie zu bezahlen.
Der Fuhrmann kam mit dem Wirt herein. Um die Dame zu überzeugen, daß er durchaus nicht verpflichtet sei, sie zu verpflegen, zeigte er ihr ein Papier, das sie mir zu lesen gab. Die Unterschrift lautete, wie ich sah, Comte de l'Etoile.
Als sie wieder mit mir allein war, bat die reizende Engländerin mich in bescheidenem Tone, dem man aber, ohne daß sie es wollte, einen tiefen Schmerz anmerkte, ich möchte dem Wirte sagen, daß er das Mittagessen nur für mich machen sollte.
Ich erriet mit leichter Mühe, welches Gefühl sie so handeln ließ, und meine Zuneigung zu ihr wurde noch größer.
»Madame,« sagte ich zu ihr im Tone innigster Teilnahme, »wollen Sie mich als einen langerprobten Freund ansehen? Ich errate, daß Sie kein Geld bei sich haben und daß Sie aus Zartgefühl Enthaltsamkeit üben wollen; aber das gebe ich nicht zu. Ihr Mann kann mir das Geld wiedergeben, wenn er es durchaus will. Wenn ich dem Wirt sagte, er solle das Mittagessen nur für mich zubereiten, so würde ich den Grafen entehren, vielleicht auch Sie und in erster Linie mich. Das werden Sie begreifen.«
»Mein Herr, ich fühle es: Sie haben recht. Wir müssen für zwei auftragen lassen, aber ich werde nicht essen, denn ich fühle mich krank und bitte Sie, mir zu gestatten, daß ich mich einen Augenblick aufs Bett lege.«
»Es tut mir außerordentlich leid, und ich bitte Sie, sich durchaus keinen Zwang anzutun. Dieses Zimmer ist ausgezeichnet; ich werde den Tisch im anderen decken lassen. Legen Sie sich in aller Bequemlichkeit zu Bette; schlafen Sie, wenn es Ihnen möglich ist; ich werde erst in zwei Stunden das Essen auftragen lassen. Ich hoffe, Sie werden sich dann besser fühlen.«
Ohne ihr Zeit zu einer Antwort zu lassen, ging ich hinaus, schloß die Tür und bestellte ein Mittagessen, wie ich es wünschte.
Diese Engländerin, deren Wuchs ich erst nach dem Aussteigen aus dem Wagen gesehen hatte, war eine vollendete Schönheit.
Ich war entschlossen, mich nötigenfalls mit ihrem Verführer zu schlagen, den ich nicht mehr für ihren Gatten hielt.
Ich legte mir die Sache so zurecht: ich war in eine Entführung verwickelt, und ihr guter Geist hatte sie unter meinen Schutz gestellt, um sie vor irgendwelchen Gefahren zu beschirmen, die ich selber nicht kannte, um sie zu retten, für sie zu sorgen und sie vielleicht der Schande zu entreißen, in die ihre unglückliche Lage sie stürzen konnte.
Mit solchen Vorstellungen schmeichelte ich meiner eben entstehenden Leidenschaft. Ich lachte über den Namen eines Grafen de l'Etoile, den dieser Taugenichts sich beilegte. Wenn ich daran dachte, daß möglicherweise der Abenteurer das arme junge Mädchen verlassen hatte, um sie für immer in meine Hände zu geben, so fand ich diesen Streich des Galgens würdig. Allerdings fühlte ich mich geneigt, sie niemals zu verlassen.
Ich hatte mich auf ein Bett gelegt, und während ich tausend Luftschlösser baute, schlief ich ein.
Die Wirtin kam leise herein, weckte mich und sagte, es habe drei Uhr geschlagen.
»Warten Sie einen Augenblick, bevor Sie das Essen bringen; ich werde nachsehen, ob die Dame schon wach ist.«
Ich öffnete leise die Tür und sah meine Engländerin eingeschlafen; als ich aber beim Zumachen der Türe ein kleines Geräusch verursachte, wurde sie wach und fragte mich, ob ich schon gegessen hätte.
»Ich werde überhaupt nicht zu Mittag essen, meine Gnädige, wenn Sie mir nicht die Ehre antun, mit mir zu speisen. Sie haben fünf Stunden geruht, und ich hoffe. Sie befinden sich besser.«
»Da Sie es wünschen, mein Herr, so werde ich kommen.«
»Schön! Das macht mich glücklich; ich werde das Essen auftragen lassen.«
Sie aß wenig, aber mit gutem Appetit, und war angenehm überrascht, Beefsteaks und einen Plumpudding zu finden. Diese Speisen hatte ich bestellt, nachdem ich den Wirtsleuten die Zubereitung angegeben hatte.
Als die Wirtin hineinkam, fragte sie sie, ob der Koch ein Engländer sei, und als sie erfuhr, daß ihre beiden Nationalgerichte von mir herstammten, war sie ganz gerührt vor Dankbarkeit. Mit heiterer Miene wünschte sie mir Glück zu meinem ausgezeichneten Appetit. Ich veranlaßte sie, von den ausgezeichneten Weinen, einem Monte Pulciano und einem Monte Fiascone, zu trinken. Sie tat mir Bescheid, aber mit Maß, so daß sie am Schluß der Mahlzeit ganz ruhig war, während ich einen etwas heißen Kopf hatte. Sie sagte mir auf italienisch, sie sei in London geboren und habe in ihrer Pension Französisch gelernt. Ich glaubte, vor Freude zu sterben, als sie auf meine Frage, ob sie die Cornelis kenne, mir antwortete, sie habe ihre Tochter in derselben Pension gekannt, in der auch sie erzogen sei.
»Sagen Sie mir, ob Sophie recht groß geworden ist?«
»Nein, sie ist klein, aber außerordentlich hübsch und sehr talentvoll.«
»Sie muß jetzt siebzehn Jahre alt sein.«
»Ganz genau; wir stehen im gleichen Alter.«
Bei diesen Worten wurde sie rot und schlug die Augen nieder.
»Fühlen Sie sich unwohl?«
»Nein, durchaus nicht. Ich wage Ihnen nicht zu sagen, daß Sophie Ihnen vollkommen ähnlich sieht.«
»Warum sollten Sie das nicht wagen? Man hat es mir mehrere Male gesagt. Ohne Zweifel ist es ein Zufall. Aber es ist schon lange her, seitdem Sie sie gesehen haben?«
»Zum letzten Male sah ich sie vor achtzehn Monaten; damals sollte sie zu ihrer Mutter zurückkehren – wie man sagte, um sich zu verheiraten; aber ich weiß nicht, mit wem.«
»Sie haben mir, Madame, eine sehr interessante Mitteilung gemacht.«
Als der Wirt mir die Rechnung brachte, sah ich darauf drei Paoli, die der Reiter für sich und sein Pferd ausgegeben hatte; der Wirt bemerkte: »Der Herr sagte mir, Sie würden bezahlen.«
Die schöne Engländerin errötete.
Ich bezahlte, und wir fuhren ab.
Im Grunde machte es mir große Freude, das junge Mädchen erröten zu sehen; denn dies bewies mir, daß sie mit dem Benehmen ihres angeblichen Gatten nichts zu tun hatte.
Ich empfand ein brennendes Verlangen, zu erfahren, welches Abenteuer sie aus London fortgeführt hatte, wie sie zu der Verbindung mit einem Franzosen kam und was sie in Rom wollte; aber ich befürchtete, ihr durch Fragen lästig zu fallen, und ich liebte sie bereits zu sehr, als daß ich ihr Kummer hätte machen mögen.
Da wir drei Stunden lang Seite an Seite im Wagen verbringen mußten, bis wir ins Nachtquartier kamen, so brachte ich das Gespräch auf die junge Cornelis, mit der sie ein Jahr in derselben Pension zugebracht hatte.
»War Miß Nancy Stein noch dort?« fragte ich sie.
Der Leser wird sich erinnern, daß dies das junge Mädchen war, das bei mir gespeist hatte, daß ich sie köstlich fand, obgleich sie erst zwölf Jahre alt war, und daß ich sie mit Küssen verschlungen hatte.
Als sie den Namen Nancy hörte, seufzte meine junge Engländerin und sagte mir: »Sie war dort, als ich eintrat, aber sie verließ die Anstalt sieben oder acht Monate darauf.«
»War sie immer noch schön?«
»Eine vollkommene Schönheit; aber ach, Schönheit ist oft eine verhängnisvolle Mitgabe. Nancy war meine vertraute Freundin geworden; wir liebten uns zärtlich. Vielleicht aber stimmten wir nur deshalb so vortrefflich überein, weil das gleiche Geschick uns erwartete, weil wir in eine ganz ähnliche Falle gehen sollten. Nancy, die zärtliche, allzu unschuldige Nancy, ist heute vielleicht noch unglücklicher als ich.«
»Noch unglücklicher? Was sagen Sie da!«
»Ach!«
»Können Sie sich über Ihr Geschick beklagen? Können Sie mit dem Empfehlungsbrief, den die Natur Ihnen gegeben hat, unglücklich sein?«
»Ach, mein Herr... aber ich beschwöre Sie, sprechen wir von etwas anderem.«
Die tiefste Erregung malte sich in ihren Augen. Ich bedauerte sie von Herzen und brachte das Gespräch wieder auf Nancy: »Möchten Sie mir wohl sagen, warum Sie Nancy für unglücklich halten?«
»Sie ist mit einem jungen Manne entflohen, der sie liebte und der sich keine Hoffnung machen durfte, sie von ihren Eltern zu erhalten. Seit ihrer Flucht hat man nichts mehr von ihr gehört, und so hat, wie Sie sehen, meine Freundschaft allen Anlaß, zu befürchten, daß sie sehr unglücklich ist.«
»Sie haben recht. Ich fühle, daß ich mich für sie aufopfern würde, wenn ich sie im Unglück finde.«
»Wo haben Sie sie kennen gelernt?«
»In meinem Hause. Sie speiste dort mit Sophie, und ihr Vater kam gegen Ende der Mahlzeit.«
»Oh, jetzt weiß ich! Wie, mein Herr, das sind Sie? Wenn Sie wüßten, wie oft ich sie mit Sophie Cornelis über Sie habe sprechen hören. Nancy liebte Sie ebenso innig wie ihren Vater und beglückwünschte Sophie zu der Freundschaft, die Sie für sie empfinden. Ich habe sie erzählen hören, Sie wären nach Rußland gegangen und hätten in Polen einen Zweikampf mit einem General gehabt. Ist das wahr? Ach, warum kann ich nicht meiner teuren Sophie alle diese Neuigkeiten melden! Darauf kann ich jetzt leider nicht hoffen!«
»Es ist alles wahr, Madame. Aber warum sollten Sie denn nicht nach England schreiben, an wen Sie wollen? Ich empfinde die lebhafteste Teilnahme für Sie; haben Sie Vertrauen zu mir, und ich verspreche Ihnen, Ihre Briefe an jede gewünschte Adresse zu befördern.«
»Ich bin Ihnen unendlich dankbar.«
Hierauf schwieg sie, und ich überließ sie ihren Gedanken.
Um sieben Uhr kamen wir in San Quirico an, wo der angebliche Graf de l'Etoile seine Frau sehr lustig und sehr verliebt empfing. Er bedeckte sie vor allen Leuten mit Küssen, so daß man ohne Zweifel glaubte, er sei ihr Mann, und ich ihr Vater. Ganz fröhlich und zufrieden erwiderte die Engländerin seine Liebkosungen. Ohne ihm den leisesten Vorwurf zu machen, ging sie mit ihm ins Haus; augenscheinlich erinnerte sie sich gar nicht mehr, daß ich auch noch da war. Ich entschuldigte sie mit Liebe und Jugend und mit der Leichtfertigkeit, die nun einmal diesem Alter von Natur eigen ist.
Nachdem ich ebenfalls mit meinem Nachtsack eingetreten war, ließ der Wirt uns sofort das Essen auftragen; denn der Fuhrmann wollte in aller Frühe abfahren, um vor der starken Hitze in Radicosani anzukommen, und wir hatten sechs starke Stunden zu fahren.
Unser Abendessen war ausgezeichnet. Der Graf, der sechs Stunden vor uns angekommen war, hatte es bestellt, und der Wirt hatte schöne Zeit gehabt, um es zurecht zu machen. Meine Engländerin schien in den Grafen de l'Etoile ebenso verliebt zu sein wie dieser in sie; offenbar bemerkte sie kaum, daß ich als dritter an ihrem Tische saß, oder vielmehr an dem meinigen. Dies kam mir sonderbar vor. Die Späße und manchmal etwas schlüpfrigen Witze des jungen Narren lassen sich nicht beschreiben; seine Schöne lachte darüber aus vollem Halse, und manchmal mußte ich mitlachen.
Mir war, wie wenn ich in einer Theaterloge säße, und ich hörte, beobachtete und dachte nach. Vielleicht, dachte ich bei mir selber, ist er ein leichtsinniger junger Offizier, ein reicher Herr von Stande, der alles nach seiner Art behandelt und für den nichts wichtig ist. Ich sah solche Leute nicht zum ersten Mal. Sie sind auf die Dauer unerträglich, für kurze Zeit jedoch unterhaltend; sie sind leichtfertig, frivol, zuweilen gefährlich, tragen ihre Ehre in der Tasche und legen ihr Ehrenwort auf eine Karte oder hängen es an eine Degenspitze.
Ich war nicht recht mit mir selber zufrieden, denn mir schien, der junge Mann behandele mich zu kavaliermäßig, halte mich für einen Dummkopf und beleidige mich, indem er mir vielleicht eine Ehre zu erweisen glaube.
Wenn die Engländerin wirklich seine Frau war, so wurde ich offenbar von oben herab behandelt, und ich hatte durchaus keine Lust, die Null zu spielen. Ich konnte mir nicht verhehlen, daß jeder, der uns beobachtete, mich für eine untergeordnete Persönlichkeit halten mußte.
In dem Zimmer, wo wir speisten, standen zwei Betten. Als die Aufwärterin hereinkam, um reine Bettücher aufzulegen, befahl ich ihr, mir ein anderes Zimmer anzuweisen. Der Graf forderte mich höflich auf, in demselben Zimmer zu schlafen; ich machte mir aber nichts aus ihrer Nachbarschaft und bestand darauf, sie allein zu lassen.
Ich ließ meinen Nachtsack in ein Zimmer bringen, wünschte ihnen guten Abend und schob den Riegel vor meine Tür. Da meine neuen Bekannten nur einen kleinen Koffer hatten, der hinten an meinen Wagen geschnallt war, so dachte ich mir, sie hätten ihr Gepäck auf einem anderen Wege vorausgeschickt, und das Köfferchen enthielte nur das durchaus Notwendige; da sie jedoch auch diesen nicht auf ihr Zimmer bringen ließen, so nahm ich an, sie seien so heroisch, sich ohne ihre Nachtsachen zu behelfen. Ich ging ganz ruhig zu Bett; für meine Reisebegleiterin interessierte ich mich jetzt viel weniger als während der ganzen Fahrt. Diese Ruhe gefiel mir.
In aller Frühe weckte mich der Wirt. Ich zog mich eilig an, und als ich hörte, daß meine Nachbarn sich ebenfalls ankleideten, öffnete ich meine Türe ein wenig und wünschte ihnen, ohne einzutreten, guten Morgen.
Eine Viertelstunde später hörte ich einen Wortwechsel auf dem Hof. Ich öffnete mein Fenster und sah, daß der Franzose und der Fuhrmann sich stritten. Der Fuhrmann hielt das Pferd am Zügel, und der vorgebliche Graf machte die größten Anstrengungen, um ihm diesen aus der Hand zu reißen.
Ich erriet den Anlaß des Streites: offenbar hatte der Franzose kein Geld, und der Fuhrmann verlangte vergeblich den Lohn, auf den er Anspruch hatte.
Voraussehend, daß sie sich an mich wenden würden, bereitete ich mich darauf vor, unbarmherzig meine Pflicht zu tun, als l'Etoile zuerst bei mir eintrat und mir sagte: »Der Lümmel versteht mich nicht; da er jedoch vielleicht recht hat, so bitte ich Sie, ihm zwei Zechinen zu geben, die ich Ihnen in Rom wiedererstatten werde. Der Zufall fügt es, daß ich kein Geld habe. Er hat nichts zu befürchten, denn er hat meinen Koffer in Händen; aber er behauptet, er brauche bares Geld. Tun Sie mir den Gefallen, mein Herr; in Rom werden Sie erfahren, wer ich bin.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, läuft der Bursche die Treppe hinunter. Der Fuhrmann bleibt. Ich stecke den Kopf zum Fenster hinaus und sehe – kaum zu glauben – den Grafen in seidenen Strümpfen sich auf das Pferd schwingen und davon sprengen. Seine wirkliche oder angebliche Gattin stand völlig sprachlos vor mir, und der Fuhrmann schien zur Salzsäule erstarrt zu sein.
Ich setzte mich auf mein Bett und rieb mir die Hände. Plötzlich mußte ich laut auflachen, so scherzhaft und komisch erschien mir der ganze Auftritt.
»Lachen Sie, Madame, lachen Sie! Von allem Gefühl abgesehen – Ihre Traurigkeit ist wirklich nicht am Platz.«
»Ich gebe zu, es ist lächerlich, aber ich habe nicht den Mut, darüber zu lachen.«
»Nun, so setzen Sie sich doch wenigstens.«
Hierauf zog ich zwei Zechinen aus meiner Börse, gab sie dem armen Teufel von Fuhrmann und sagte ihm, es würde nichts schaden, wenn wir eine Viertelstunde später abführen; ich wollte erst Kaffee trinken.
Das traurige Gesicht meiner Engländerin tat mir leid. »Ich begreife«, sagte ich zu ihr, »Ihren gerechten Kummer, und ich will sogar zugeben, daß er Ihnen zum Lobe gereicht; aber ich bitte Sie, sich während dieser Reise zusammenzunehmen. Ich werde für alles aufkommen. Ich bitte Sie nur um eine einzige Gunst; wenn Sie mir diese verweigern, werde ich ebenso traurig sein wie Sie, und das wird nicht unterhaltend sein.«
»Was kann ich Ihnen zu Gefallen tun?«
»Sagen Sie mir auf Ihr Ehrenwort als Engländerin, ob dieser sonderbare Herr Ihr Gatte oder nur Ihr Liebhaber ist.«
»Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen: er ist nicht mein Gatte, aber er wird es in Rom sein.«
»Ich atme auf. Er wird es niemals sein, und um so besser für Sie. Ich bin überzeugt, er hat Sie verführt. Sie sind in ihn verliebt; aber von dieser Krankheit werden Sie bald genesen.«
»Das ist unmöglich; er müßte mich denn betrügen.«
»Er hat sie bereits betrogen. Ich bin überzeugt, daß er Ihnen gesagt hat, er sei reich, von vornehmem Stande und werde Sie glücklich machen. Dies ist alles falsch.«
»Aber wie können Sie das wissen?«
»Meine reizende Miß, ich weiß das, wie ich so viele andere Sachen weiß, die die Erfahrung den Menschen lehrt. Ihr Liebhaber ist ein liederlicher, schamloser Narr, der Sie vielleicht heiraten wird, aber nur, um Ihr Herr zu werden und um durch den Handel mit Ihren Reizen sein Glück zu machen oder doch wenigstens sein Leben zu fristen.«
»Er liebt mich, das muß ich doch wissen.«
»Gewiß liebt er Sie, aber nicht mit einer ehrlichen und zartfühlenden Liebe. Er kennt mich nicht, hat mich zum ersten Male gesehen, niemals von mir sprechen hören, denn er kennt meinen Namen nicht. Trotzdem liefert er Sie mir auf Gnade und Ungnade aus; er überläßt Sie mir. Glauben Sie, ein zartfühlender Mensch könnte seine Geliebte auf solche Weise im Stich lassen, wenn er sich auch nur das geringste aus ihr machte?«
»Er ist nicht eifersüchtig. Wie Sie wissen, sind die Franzosen überhaupt nicht eifersüchtig.«
»Ein französischer Ehrenmann ist nichts anderes als ein englischer oder italienischer Ehrenmann; wenn er Sie liebte, hätte er Sie wohl ohne einen Heller Geld in der Gewalt eines Unbekannten gelassen, der unter der Drohung, Sie auf der Straße stehen zu lassen, von Ihnen Gefälligkeiten hätte verlangen können, die Ihnen widerstrebt hätten? Was würden Sie jetzt machen, wenn ich ein roher Mensch wäre? Sprechen Sie, Sie laufen keine Gefahr.«
»Ich würde mich verteidigen.«
»Schön; aber dann würde ich Sie hier sitzen lassen, und was würden Sie dann anfangen? Obgleich Sie hübsch und gefühlvoll sind, so gibt es doch Männer, die für Sie nur etwas tun würden, wenn Sie ihnen Ihre Gefühle zum Opfer brächten. Der Mensch, den Sie zu Ihrem Unglück lieben, kennt mich nicht und setzt Sie dem Hunger und der Schande aus. Beruhigen Sie sich, Ihnen wird nichts geschehen; denn ich bin gerade der Mann, der Ihnen notwendig war; aber Sie müssen das als eine Art Wunder ansehen. Wenn Sie glauben, daß meine Worte vernünftig sind, so sagen Sie mir, ob Sie finden, daß dieser Abenteurer Sie liebt? Er ist ein Ungeheuer. Ich bin in Verzweiflung, Ihre Tränen fließen zu sehen und durch meine Rede Ihre Trauer verschuldet zu haben. Aber, liebe Miß, dies war notwendig, und ich bereue nicht, grausam gewesen zu sein, denn ich werde so gegen Sie handeln, daß ich gerechtfertigt dastehe. Ich wage es. Ihnen zu sagen, daß Sie mir außerordentlich gefallen, und daß ich mich hauptsächlich wegen des Gefühles, das Sie mir einflößen, für Sie interessiere; aber seien Sie überzeugt, ich werde nicht einen einzigen Kuß verlangen, und ich werde Sie auch in Rom nicht verlassen. Bevor wir jedoch dort ankommen, werde ich Ihnen beweisen, daß der angebliche Graf nicht nur Sie nicht liebt, sondern auch, daß er ein abgefeimter Gauner ist.«
»Sie werden mir dies beweisen?«
»Ja, Miß, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Aber trocknen Sie Ihre Tränen und lassen Sie uns versuchen, den Tag so wie gestern zu verbringen. Sie glauben gar nicht, wie glücklich ich mich schütze, daß der Zufall Sie unter meinen Schutz gestellt hat. Ich will Sie von meiner Freundschaft überzeugen, und wenn Sie mich dafür nicht durch ein wenig Liebe belohnen, so werde ich mein Leiden mit Geduld tragen.«
Der Wirt kam mit der Rechnung über die ganze Zeche. Ich hatte dies erwartet und bezahlte, ohne ein Wort zu sagen und ohne das arme verirrte Schaf anzusehen; denn ich machte mir beinahe einen Vorwurf daraus, ihr zuviel gesagt zu haben: ich erinnerte mich, daß eine zu starke Arznei den Kranken tötet, anstatt ihn zu heilen.
Ich brannte vor Verlangen, ihre Geschichte zu erfahren, und hoffte, sie dahin bringen zu können, daß sie sie mir vor unserer Ankunft in Rom erzählte.
Nachdem wir ein paar Tassen Kaffee getrunken hatten, fuhren wir ab und reisten Seite an Seite, ohne ein Wort miteinander zu sprechen, bis zum Gasthof zur Scala, wo wir ausstiegen.
Von der Scala bis Radicosani ist der Weg bergig und schwierig. Der Fuhrmann hätte ein Beipferd nehmen müssen und würde trotzdem vier Stunden zu dem Weg gebraucht haben. Natürlich mußte es ihm sehr angenehm sein, wenn er mit leerem Wagen fahren konnte; da ich mir dadurch das Vergnügen verschaffte, länger in der Scala bleiben zu können, so entschloß ich mich, zwei Postpferde zu nehmen und erst um zehn Uhr abzufahren.
»Wäre es nicht besser, wenn Sie die Post sofort nähmen?« fragte die Engländerin mich; »denn von zehn bis zwölf Uhr wird die Hitze stark sein.«
»Allerdings; aber der Graf de l'Etoile, den wir unfehlbar in Radicofani treffen würden, würde mich nicht gern sehen.«
»Warum denn nicht? Im Gegenteil.«
Ein Gefühl des Mitleids hielt mich ab, ihr zu antworten; denn hätte ich ihr den Grund genannt, so würde sie sicher geweint haben. Ich sah, daß die Liebe sie blind machte und sie verhinderte, in dem von ihr angebeteten Mann einen Schurken zu sehen, weil sie nicht die Kraft hatte, ihren eigenen Instinkt als richtig zu erkennen. Durch sanfte Beredsamkeit konnte ich sie nicht heilen; ich mußte sie ohne Schonung von der Wahrheit überzeugen. Sie litt an einem Geschwür, das ich mit einem glühenden Eisen ausbrennen mußte, ohne mich durch ihren Schmerz erweichen zu lassen. War es aber ein tugendhaftes Gefühl, das mich zu solcher Handlungsweise antrieb? Legte ich mir aus schöner Teilnahme für die junge Unschuld eine solche ebenso heikle wie peinliche Aufgabe auf? Gewiß kamen alle diese Momente in Betracht, denn sie erregte mein Mitleid; aber ich bin nicht so eitel, mich mit Pfauenfedern schmücken zu wollen, und sage daher ganz offen: wäre die Engländerin nicht schön, sondern häßlich und mürrisch gewesen, so hätte ich sie vielleicht ihrem unglücklichen Schicksal überlassen. Im Grunde arbeitete ich also nur für mich selber.
Also, fahre wohl, Tugend!
Ich wollte, vielleicht auch unbewußt, einem anderen einen leckeren Bissen entreißen, um ihn mir anzueignen. Allerdings sagte ich mir das nicht und täuschte mich vielleicht selber darüber; denn ich hätte vor mir selber Abscheu gehabt, wenn ich meine Gedanken entblößt hätte. Indem ich später darüber nachdachte, habe ich erkannt, daß ich in aller Unschuld den Heuchler spielte. Ist dies ein allgemeines Laster, das der ganzen Menschheit gemeinsam ist? Ist der Egoismus, ohne daß wir es wissen, beständig die Triebfeder unserer Handlungen? Dieses Gefühl ist zwar nicht schmeichelhaft; ich gestehe jedoch, daß ich es glaube.
Als der Fuhrmann fort war, lud ich Betty ein, mit mir einen Spaziergang zu machen. Die Landschaft ist dort so schön, daß die Poesie kaum etwas Köstlicheres schaffen könnte. Sie sprach die florentinische Mundart mit etwas englischem Akzent, aber mit einer so silberhellen Stimme, daß der Mangel als ein Vorzug erschien. Ich war von ihr entzückt. Ich sehnte mich danach, auf ihre beweglichen Lippen Küsse der Liebe zu drücken; aber ich hielt meine Gefühle im Zaum und schonte sie.
Wir waren zwei Stunden spazieren gegangen und hatten auf das angenehmste von tausend verschiedenen Dingen geplaudert, als wir plötzlich alle Kirchenglocken läuten hörten. Betty sagte mir, sie habe niemals einen katholischen Gottesdienst gesehen, und es war mir eine Freude, ihr dieses Vergnügen verschaffen zu können. Es war ein örtlicher Feiertag, wie es deren in Italien so viele gibt. Sie wohnte dem Hochamt mit der größten Bescheidenheit bei und machte alles, was sie die Leute machen sah, so daß kein Mensch auf den Gedanken gekommen wäre, sie könnte Protestantin sein. Als wir hinausgingen, sagte sie zu mir: der katholische Gottesdienst sei für zärtliche Seelen geschaffen; er sei viel mehr geeignet, Liebe zur Religion zu erwecken als der englische Kultus. Sie war überrascht von dem Luxus und der südlichen Schönheit der italienischen Bäuerinnen, die sie den englischen weit überlegen fand. Sie fragte mich nach der Zeit, und ich sagte gedankenlos zu ihr, ich wundere mich, daß sie keine Uhr habe. Sie antwortete mir errötend, der Graf habe sie ihr abverlangt, um sie dem Wirt, von dem er das Pferd gemietet habe, als Pfand zu lassen.
Ich bereute meine unfreiwillige Indiskretion; denn ihre Röte verriet brennende Scham, und ich bedauerte diese veranlaßt zu haben. Die arme Betty wußte, daß sie schuldig war, und sie verstand nicht zu lügen.
Um zehn Uhr fuhren wir mit drei Pferden ab, und da ein leichter frischer Wind die Hitze milderte, so kamen wir ganz angenehm mittags in Radicofani an.
Der Wirt, der zugleich Postmeister war, fragte mich, ob ich die drei Paoli bezahlen werde, die der Franzose für sich und sein Pferd verzehrt habe; er sei abgeritten und habe gesagt, sein, Freund werde bezahlen.
Da ich Betty nicht betrüben wollte, so sagte ich ihm, ich würde bezahlen. Dies beruhigte ihn; aber es war noch nicht alles.
»Der Herr«, fuhr der Postmeister fort, »hat mit dem blanken Degen drei von meinen Postillonen geschlagen. Der eine von ihnen, den er im Gesicht verwundet hat, ist ihm nachgeritten, und es wird ihm sicherlich teuer zu stehen kommen. Er hat sie geschlagen, weil sie ihn nicht wollten abreiten lassen, bevor er bezahlt hätte.«
»Sie haben unrecht getan, ihm Gewalt antun zu wollen, denn er sieht nicht wie ein Spitzbube aus, und Sie hätten ihm ohne weiteres glauben müssen, daß ich Sie bei meiner Ankunft bezahlen würde.«
»Sie irren sich; ich war durchaus nicht verpflichtet, ihm zu glauben; denn ich bin hundertmal auf diese Art betrogen worden. Wenn Sie speisen wollen, so ist Ihr Tisch gedeckt.«
Ich sah die arme Betty in Verzweiflung. Ihr Gesicht verriet die ganze Unruhe ihrer Seele; aber sie schwieg, und ich achtete sie deshalb. Anstatt ihr daher Vorhaltungen über den neuen Streich ihres Geliebten zu machen, suchte ich sie durch scherzhafte Reden zu erheitern und forderte sie auf, tüchtig zu essen und den ausgezeichneten Muskatwein zu trinken, von dem der Wirt uns eine riesige Flasche vorgesetzt hatte. Da ich sah, daß sie vergeblich sich bemühte, ihre Unruhe zu bezwingen, um mir einen Gefallen zu tun, so rief ich den Fuhrmann und sagte ihm, ich wolle sofort nach dem Essen wieder abfahren. Dieser Befehl übte eine Zauberwirkung auf sie aus.
»Wir fahren nur bis Centino«, antwortete der Fuhrmann; »wir können bis zur Abendkühle warten.«
»Nein; der Gatte der Signora braucht vielleicht Hilfe. Der verwundete Postillon hat ihn verfolgt, er spricht schlecht Italienisch, und Gott weiß, was alles noch kommen kann.«
»Gut. Wir werden fahren.«
Betty sah mich mit einem Gesicht an, worin sich die lebhafteste Dankbarkeit spiegelte, und um mir diese zu beweisen, tat sie, wie wenn sie großen Appetit hätte. Sie hatte bereits bemerkt, daß dies ein Mittel war, mir zu gefallen.
Während wir aßen, ließ ich einen von den geschlagenen Postillonen heraufkommen und mir von ihm die Geschichte erzählen. Der Bursche sprach ohne Umstände: er gestand, Hiebe mit der flachen Klinge erhalten zu haben, aber er rühmte sich, den Herrn mit einem Steinwurf getroffen zu haben, den er jedenfalls gespürt hätte.
Ich gab ihm einen Paolo und versprach ihm einen Taler, wenn er nach Centino gehen und gegen seinen Kameraden aussagen wollte; er nahm mich beim Wort und begann sofort zugunsten des Grafen zu reden, worüber Betty herzlich lachte. Er sagte, die Wunde im Gesicht sei nur ein Kratzer, über die er sich nicht beklagen dürfe, denn er habe gar kein Recht gehabt, den Reisenden festzuhalten. Um uns zu trösten, versicherte er uns, der Franzose habe nur drei oder vier Steinwürfe erhalten. Für Betty war dies gar kein Trost, aber ich sah, daß die Geschichte eine komische Wendung nahm und daß nichts dabei herauskommen würde. Der Postillon ritt ab, und wir folgten ihm eine halbe Stunde später. Bis Centino war Betty ziemlich ruhig, aber sie wurde sehr traurig, als sie bei der Ankunft dort vernahm, daß Graf l'Etoile nach Acquapendente geritten sei; der anklagende Postillon sei ihm dahin gefolgt, und der verteidigende Postillon habe denselben Weg eingeschlagen. Vergeblich sagte ich ihr, sie habe nichts zu befürchten; der Graf habe den Mund auf dem richtigen Fleck und werde sich zu verteidigen wissen. Sie antwortete mir nur durch tiefe Seufzer.
Ich hatte sie im Verdacht, daß sie befürchtete, ich würde mich ein wenig für die gehabten Mühen und verauslagten Kosten bezahlt machen, wenn sie die Nacht mit mir verbrächte. Ich hatte richtig geraten.
»Wünschen Sie, Betty, daß wir sofort nach Acquapendente weiterfahren?«
Als sie diese Worte hörte, strahlte ihre Stirn von unverhofftem Glück; sie öffnete mir die Arme, und ich drückte sie an mein Herz.
O Natur! Was kommt es für mich darauf an, welcher Quelle der süße Kuß entstammt? Ich rief den Fuhrmann und sagte ihm, ich wolle sofort nach Acquapendente fahren.
Der Kerl antwortete mir grob, seine Pferde wären im Stall, und er würde nicht anspannen; aber ich könnte ja die Post nehmen.
»Schön. Bestelle zwei Pferde.«
Ich glaube, in diesem Augenblick hätte Betty, von Zärtlichkeit durchdrungen, mir alles gewährt; denn sie wußte nicht, wie sie mir ihre Dankbarkeit ausdrücken sollte, und ließ sich in meine Arme sinken. Ich drückte sie zärtlich an mich und sagte ihr, ich könne keinen anderen Willen haben als den ihrigen. Ich bedeckte sie mit Küssen, doch ohne ihr andere Zärtlichkeiten zu bezeigen, und sie schien mir wegen meiner Zurückhaltung dankbar zu sein.
Als die Pferde angespannt waren, bezahlte ich dem Wirte das Abendessen, das er für uns zurecht gemacht zu haben behauptete, und wir fuhren ab.
Wir brauchten nur drei Viertelstunden bis Acquapendente, wo wir den tollen Menschen ganz lustig und zufrieden vorfanden. Er eilte auf seine Dulcinea zu und schloß sie verliebt in seine Arme, und Betty war trunken vor Glück, daß sie ihn heil und gesund wiederhatte. Er sagte uns triumphierend, er habe die sämtlichen Spitzbuben von Radicofani verprügelt und dafür nur ein paar unbedeutende Steinwürfe empfangen, da er seinen Kopf geschickt vor ihnen geschützt habe.
»Wo ist denn der Postillon mit der Schmarre?« fragte ich ihn.
»Er sitzt unten mit seinem Kameraden, der ihm nachgeritten war, und sie trinken auf meine Gesundheit. Sie haben mich alle beide um Verzeihung gebeten.«
»Ja, weil der Herr dem zweiten einen Scudo gegeben hat!« rief Betty.
»Einen Scudo? Wie schade! Sie hätten ihm nichts geben sollen.«
Vor dem Abendessen zeigte der Graf l'Etoile uns die Spuren der Steinwürfe an seinen Schenkeln und Rippen; der Bursche war ein sehr hübscher Junge und konnte wohl einem heißblütigen Mädchen den Kopf verdrehen. Bettys verzücktes Wesen ärgerte mich allerdings; doch ertrug ich es mit großer Geduld, da sie mir bereits ein anderes Zeichen der Dankbarkeit gegeben hatte.
Beim Essen trieb l'Etoile wieder dieselben tollen Späße wie am Tage vorher. Er wollte durchaus, daß ich im selben Zimmer schlafen sollte; ich fühlte jedoch, daß meine Nachbarschaft Betty sehr belästigt haben würde, die bisher nichts von den Orgien wußte, an die der Elende sie gewöhnen wollte. Ich weigerte mich daher standhaft.
Am nächsten Morgen sagte der schamlose Mensch mir, er werde uns ein gutes Abendessen in Viterbo bestellen, und ich werde ihm dafür eine Zechine leihen, damit er sein Mittagessen in Montefiascone bezahlen könne. Mit diesen Worten zeigte er mir nachlässig einen Wechsel von dreitausend Scudi auf einen Bankier in Rom.
Ich lehnte es ab, den Wechsel zu lesen, sondern sagte ihm, ich sei überzeugt, und gab ihm die gewünschte Zechine, obwohl ich mir dachte, daß ich sie niemals wiedersehen würde.
Betty war inzwischen in ein ganz freundschaftliches Verhältnis zu mir gekommen. Als wir in Montefiascone waren, sagte sie mir: »Wie Sie sehen, mein Herr, befindet mein Freund sich nicht durch Zufall oder Leichtsinn in Geldverlegenheit; denn er hat einen Wechsel auf einen hohen Betrag.«
»Ich halte ihn für falsch.«
»Ah, das ist aber boshaft von Ihnen!«
»Nein. Ich schließe dies aus seinem Benehmen; und ich schwöre Ihnen, ich wäre glücklich, wenn ich mich täuschte; aber ich bin überzeugt, ich täusche mich nicht. Vor zwanzig Jahren hätte ich ebenso wie Sie den Wechsel für echt gehalten, aber jetzt ist das etwas anderes. Wenn dieser Wechsel auf Rom wirklich gut ist, warum hat er ihn dann nicht in Siena, in Florenz, in Livorno diskontiert?«
»Vielleicht hat er keine Zeit dazu gehabt; ei hatte es so eilig. Ach, wenn Sie alles wüßten!«
»Ich will, reizende liebe Betty, weiter nichts wissen, als was Sie mir zu sagen für gut befinden werden. Unterdessen aber wiederhole ich Ihnen, daß alles, was ich Ihnen gesagt habe, nicht auf Verdacht und unbestimmter Vermutung beruht, sondern auf Wahrheiten, die aus allem von mir Gesehenen hervorgehen.«
»Sie verharren also bei dem Gedanken, daß er mich nicht liebt?«
»Ich verharre bei der Behauptung, daß er Sie nur auf eine Art liebt, die Ihren Haß verdient.«
»Wieso?«
»Würden Sie nicht einen Mann hassen, der Sie nur liebt, um mit Ihren Reizen Handel zu treiben?«
»Es tut mir leid, daß Sie dies glauben.«
»Ich kann Ihnen dies schon heute abend beweisen, wenn Sie es wünschen.«
»Tun Sie mir diesen Gefallen; aber ich verlange einen vollen, klaren Beweis. Er wird mich auf das tiefste schmerzen, aber Sie erweisen mir damit den allergrößten Dienst.«
»Und wenn ich Sie davon überzeugt habe, können Sie dann wohl aufhören, ihn zu lieben?«
»Ganz gewiß, ich habe mich nur in ihn verliebt, weil ich ihn für einen rechtschaffenen Menschen hielt.«
»Sie irren sich. Sie werden ihn selbst dann noch lieben, wenn ich Ihnen seine schurkische Gesinnung nachgewiesen habe; denn dieser Mensch hat Sie völlig bezaubert. Wenn es anders wäre, würde Ihnen die Sache ebenso klar sein wie mir.«
»Was Sie da sagen, kann wahr sein; aber weisen Sie mir klar und deutlich nach, daß Ihre Behauptungen richtig sind, und überlassen Sie es mir. Sie zu überzeugen, daß ich imstande sein werde, ihn zu verachten.«
»Auf heute abend also! Aber sagen Sie mir zuvor noch, ob Sie ihn schon seit langer Zeit kennen.«
»Ungefähr seit einem Monat; aber wir sind erst seit fünf Tagen beisammen.«
»Haben Sie ihm vorher irgendwelche Gunst gewährt?«
»Nicht einen einzigen Kuß. Er war beständig unter meinem Fenster, und ich habe annehmen müssen, daß er mich innig liebe.«
»Daß er Sie liebt, meine Teuerste, gebe ich zu; es wäre auch schwierig. Sie nicht zu lieben; aber er liebt Sie nicht wie ein zartfühlender Gatte, sondern wie ein schamloser Wüstling.«
»Aber wie können Sie denn eigentlich einen Menschen im Verdacht haben, den Sie nicht kennen?«
»Wollte Gott, ich kennte ihn nicht! Ich bin gewiß, da er nicht zu Ihnen gehen konnte, so hat er Sie überredet, zu ihm zu kommen und mit ihm zu entfliehen.«
»Das ist wahr. Er hat an mich geschrieben, und ich werde Ihnen seinen Brief zeigen, worin er mir versichert, daß er mich in Rom heiraten wird.«
»Und wer bürgt Ihnen für seine Beständigkeit?«
»Seine Zärtlichkeit.«
»Haben Sie zu befürchten, daß Sie verfolgt werden?«
»Nein.«
»Hat er Sie einem Vater, einem Liebhaber, einem Bruder entführt?«
»Einem Liebhaber, der erst in acht oder zehn Tagen nach Livorno zurückkehren wird.«
»Wohin ist er gereist?«
»Nach London, wo er Geschäfte hat; er hatte mich unter die Obhut einer Frau gestellt, der er vertraute.«
»Ich weiß genug, liebe Betty, und beklage Sie tief. Sagen Sie nur, ob Sie den Engländer lieben, und ob er würdig ist, Sie zu besitzen.«
»Ach, ich habe einzig und allein ihn geliebt, bis ich nach seiner Abreise, in den Boboli-Gärten diesen Franzosen sah, der mich zu meinem Glück oder Unglück dem anderen untreu machte. Jener betete mich an und wird in Verzweiflung sein, wenn er mich nicht vorfindet.«
»Ist er reich?«
»Nicht sehr reich, aber wohlhabend. Er ist Geschäftsmann.«
»Ist er jung?«
»Nein, er ist ein Mann von Ihrem Alter; er ist freundlich, höflich, gut und wartete nur auf den Tod seiner Frau, um mich zu heiraten. Seine Frau stirbt an der Schwindsucht.«
»Ich bedauere ihn. Haben Sie ihm ein Kind geschenkt?«
»Nein. Aber ich sehe, daß Gott mich nicht für ihn bestimmt hatte; denn Herr de l'Etoile hat mich unwiderstehlich unterjocht.«
»An solche Unwiderstehlichkeit glauben alle, die aus Liebe einen falschen Schritt tun.«
»Jetzt wissen Sie alles, und ich bin recht froh, daß ich Ihnen nichts verheimlicht habe, denn gestern habe ich erkannt, daß Sie mein wahrer Freund sind.«
»Daß ich das bin, werden Sie in Zukunft noch besser einsehen als jetzt, liebe Betty. Sie bedürfen meiner sehr, und ich verspreche Ihnen, Sie nicht zu verlassen. Ich liebe Sie; das habe ich Ihnen gesagt und wiederhole es Ihnen gerne; trotzdem werden Sie mich nur um Ihre Freundschaft mich bewerben sehen, solange Sie diesen Franzosen lieben.«
»Ich nehme Ihr Wort an und verspreche Ihnen dafür, Ihnen nichts zu verbergen.«
»Sagen Sie mir, warum Sie kein Gepäck haben?«
»Ich bin zu Pferde entflohen; aber mein Koffer, der voll von Wäsche und anderen Sachen ist, wird zugleich mit dem des Grafen zwei Tage nach uns in Rom eintreffen. Ich habe ihn am Tage vor meiner Flucht aus meiner Wohnung herausschaffen lassen, und ich kenne den Mann, der ihn in Empfang nahm: er war vom Grafen geschickt worden.«
»Ade Ihr Koffer!«
»Ach, lieber Freund, Sie sehen überall lauter Unglück.«
»Es genügt, liebe Betty, wenn meine Voraussicht nicht die Macht hat, Unglück hervorzurufen; ich werde mich glücklich schätzen, wenn ich mich täusche. Obgleich Sie zu Pferde gereist sind, hätten Sie doch, wie mir scheint, einen Reisemantel und einen Nachtsack mit einigen Hemden mitnehmen müssen.«
»Das alles befindet sich in dem kleinen Koffer, den ich heute Abend werde auf mein Zimmer bringen lassen.«
Wir kamen um sieben Uhr in Viterbo an und fanden dort den Grafen in sehr lustiger Stimmung.
Da ich sie schon hier überzeugen sollte, daß sie sich einem Schelme anvertraut hatte, so begann ich mich zu stellen, als wenn ich von Betty ganz entzückt wäre. Ich übertrieb das Glück, das ich gehabt hätte, indem ich mit ihr zusammengetroffen wäre, beneidete ihn um sein Glück, daß er einen solchen Schatz besäße, und rühmte besonders den Heroismus, den er dadurch zeigte, daß er mich mit ihr allein ließe, ohne zu befürchten, daß ich sie zur Untreue verführte.
Der Windbeutel stimmte in das Lob ein, das ich seiner Gattin zollte.
Er sagte, die Eifersucht liege seinem Charakter so fern, daß er gar nicht begreifen könne, wie ein Verliebter auf eine Frau eifersüchtig sein und wie er sie beständig lieben könne, ohne zu sehen, daß sie anderen Männern Begierden einflöße.
Über dieses Thema verbreitete er sich ausführlich, und ich hütete mich wohl, ihm zu widersprechen. Ich war zufrieden, den Burschen auf diesen Gegenstand gebracht zu haben, und behielt mir den zweiten Teil meines Beweises bis nach dem Abendessen vor.
Während des Essens ließ ich ihn tüchtig trinken und suchte ihn in eine angenehme Stimmung zu bringen, indem ich eine Menge Bemerkungen machte, die alle darauf hinausliefen, daß er ein geistreicher Mann und über Vorurteile erhaben sei. Als nach Tisch das Gespräch auf die Liebe kam, sagte er, zwei Liebende, die wirklich glücklich sein wollten, müßten vor allen Dingen die gegenseitige Gefälligkeit bis aufs äußerste treiben. »So muß zum Beispiel Betty, die mich liebt, mir den Genuß Fannys schaffen, wenn sie ahnen kann, daß mich auch nur eine einfache Laune zu dieser zieht, und ich, der ich Betty anbete, muß ihr den Genuß verschaffen, mit Ihnen zu schlafen, wenn ich entdecke, daß sie Sie liebt.«
Betty hörte die törichten Behauptungen ihres Abgottes mit großem Erstaunen an, sagte aber kein Wort.
»Ich gestehe, mein lieber Graf,« antwortete ich ihm, »Ihr System ist großartig und scheint mir einzig in seiner Art zu sein, um die allgemeine Glückseligkeit auf Erden zu begründen; aber es ist eine Chimäre. Alles, was Sie gesagt haben, ist theoretisch ganz prachtvoll, praktisch aber unsinnig und nicht auszuführen. Ich glaube, daß Ihr Mut groß ist, aber ich halte Sie nicht für tapfer genug, um ruhig die Gewißheit zu erdulden, daß ein anderer die Reize Ihrer Geliebten genießt. Ich wette um diese fünfundzwanzig Zechinen hier, daß Sie Ihrer Frau nicht erlauben werden, mit mir zu schlafen.«
»Erlauben Sie mir, über Ihre Zweifel zu lachen: Ich wette fünfzig, daß ich sogar die Kraft habe, beim großen Werk ruhiger Zuschauer zu bleiben. Jedenfalls nehme ich die Wette an. Betty, meine liebe Betty, laß uns diesen Ungläubigen bestrafen: ich bitte dich, lege dich mit ihm zu Bett.«
»Du scherzest wohl?«
»Nein, ich bitte dich darum. Ich werde dich nur um so mehr lieben.«
»Ich glaube, du bist verrückt. Ganz gewiß werde ich so etwas nicht tun.«
Nun nahm der Graf sie in seine Arme, liebkoste sie auf das zärtlichste und bat sie, unter Anführung von höchst sophistischen Gründen, ihm doch diesen Beweis von Liebe zu geben, nicht so sehr wegen der fünfundzwanzig Zechinen, als um mich zu lehren, wieweit er über jedes Vorurteil erhaben sei. Um sie zu verführen, scheute er sogar vor unerlaubten Liebkosungen nicht zurück. Betty wies diese sanft, aber entschlossen zurück und sagte ihm, sie werde niemals tun, was er von ihr verlange; übrigens habe er die Wette bereits gewonnen. Dies konnte wahr sein. Endlich bat ihn das arme Mädchen mit einer zärtlichen Umarmung, er möchte doch davon aufhören und sie lieber töten als sie zu einer Handlung zwingen, die ihr niederträchtig erscheine.
Dieser Ton, diese Worte, die den unglückseligen Wüstling hätten zum Erröten bringen sollen, versetzten ihn nur in Wut. Er stieß sie zurück und gab ihr die gemeinsten Schimpfnamen. Zum Schluß rief er zornig, ihr Widerstand sei nur Heuchelei, und er sei fest überzeugt, sie habe mir bereits alles gewährt, was ein verlorenes Mädchen wie sie einem Manne gewähren könne.
Betty zitterte und wurde bleich wie der Tod. Aufs äußerste empört, lief ich nach meinem Degen, den ich ihm durch den Leib gerannt haben würde, wenn der feige Schuft nicht ins Nebenzimmer geflohen wäre, dessen Tür er mit dem Riegel verschloß.
Ich war in Verzweiflung, die unschuldige Ursache der Verlegenheit zu sein, worin dies reizende Mädchen sich befand, und setzte mich neben sie, um sie nach Möglichkeit zu beruhigen.
Ihr Zustand machte mir Sorge. Ihre gepreßten Atemzüge drohten sie zu ersticken, ihre stieren Augen traten aus ihren Höhlen hervor, ihre bleichen Lippen zitterten, ihre Zähne knirschten. Im Gasthof schlief alles; ich konnte keine Hilfe herbeirufen und hatte zu ihrer Erleichterung nur Wasser und tröstende Worte.
Nachdem sie eine Stunde lang in höchster Erregung gewesen war, verfiel sie vor Erschöpfung in eine dumpfe Betäubung. Länger als zwei Stunden blieb ich neben ihr sitzen und beobachtete alle ihre Bewegungen. Ich hoffte, der Schlaf würde ihr neue Kräfte geben, denn es wäre höchst unangenehm gewesen, wenn sie krank geworden wäre und in dem Gasthof hätte bleiben müssen.
Bei Tagesanbruch hörte ich l'Etoile abreisen. Das war mir sehr angenehm. Betty erwachte aus ihrer Betäubung, als jemand an die Türe klopfte und uns zurief, wir möchten uns ankleiden; die Leute glaubten, wir lägen zu Bett.
»Sind Sie imstande weiter zu reisen, meine liebe Betty?«
»Ich befinde mich ganz wohl, lieber Freund, aber ich habe es sehr nötig, ein bißchen Tee zu trinken.«
Da die einfache Art der Zubereitung dieses Getränkes in Italien fast unbekannt ist, so nahm ich den Tee, den sie mir gab, und machte ihn selber zurecht.
Als ich wieder nach oben kam, fand ich sie am Fenster stehen und die frische Morgenluft einatmen. Sie schien ruhig zu sein, und ich faßte Hoffnung, sie geheilt zu haben. Sie trank einige Tassen von dem Lieblingsgetrank der Engländer, und ihr schönes Gesicht gewann wieder die Frische, die sie durch die entsetzliche Nacht verloren hatte.
Als sie in dem Zimmer, wo wir zu Abend gegessen hatten, Laute hörte, fragte sie mich, ob ich die Börse, die auf dem Tisch liegen geblieben wäre, wieder an mich genommen hätte. Ich hatte sie vergessen, als ich dem Grafen die Wette vorschlug. Ich fand meine Börse wieder, und daneben lag ein Papierstreifen mit den Worten: Wechsel über dreitausend Taler. Der Betrüger hatte ihn aus seiner Tasche gezogen, um die Wette anzunehmen, und hatte ihn vergessen, als er aus dem Zimmer floh. Der Wechsel war in Bordeaux auf einen in Paris ansässigen Weinhändler gezogen und an den Grafen de l'Etoile giriert. Er lautete auf Sicht und war bereits sechs Monate alt; einen größeren Unsinn konnte man sich nicht denken.
Ich brachte Betty diesen Wechsel, aber sie sagte mir, sie verstehe nichts davon und bitte mich um Gottes Willen nicht mehr über den Elenden mit ihr zu sprechen. Und in einem Ton, der sich unmöglich beschreiben läßt, setzte sie hinzu: »Seien Sie menschlich und verlassen Sie ein armes Mädchen nicht, das mehr unglücklich als schuldig ist!«
Ich versicherte ihr wiederholt auf mein Ehrenwort, daß ich wie ein Vater für sie sorgen würde, und wir fuhren ab.
Meine arme Engländerin war traurig und niedergeschlagen und schlief vor Erschöpfung bald ein; ich folgte ihrem Beispiel. Wir erwachten beide sehr erstaunt, als der Fuhrmann uns zurief, wir seien in Monterosi. Er war sechs Stunden lang gefahren und hatte achtzehn Miglien zurückgelegt, ohne daß wir ein einziges Mal aufgewacht wären.
Wir konnten bis vier Uhr uns ausruhen, und dies war uns sehr angenehm; denn wir mußten darüber nachdenken, welchen Entschluß wir fassen sollten.
Vor allen Dingen erkundigte ich mich, ob der Unglückliche durchgekommen wäre. Ich erfuhr, er habe eine bescheidene Mahlzeit eingenommen und bezahlt, und er habe gesagt, er werde in Storta übernachten.
Wir speisten mit ziemlich gutem Appetit, und Betty bekam dadurch neue Kräfte. Nach dem Essen sagte sie zu mir, wir müßten uns noch einmal, aber zum letzten Male, mit ihrem unwürdigen Verführer beschäftigen.
»Seien Sie mir ein Vater! Raten Sie mir nicht, sondern befehlen Sie mir, was ich tun soll, und verlassen Sie sich auf meinen Gehorsam. Sie haben vieles, vielleicht alles erraten, nur nicht den Abscheu, den mir der hinterlistige Verbrecher eingeflößt hat, der mich allmählich in die tiefste Schande hineingebracht haben würde, wenn Sie nicht gewesen wären.«
»Können Sie auf die Verzeihung Ihres Engländers rechnen?«
»Ich glaube, ja.«
»Dann müssen Sie nach Livorno zurückkehren. Finden Sie diesen Rat gut, und trauen Sie sich die Kraft zu, ihn zu befolgen? Aber wenn Sie ihn annehmen, so müssen Sie ihn sofort ausführen. Natürlich denke ich nicht daran, ein junges, hübsches, anständiges Mädchen wie Sie allein oder in der Gesellschaft von Leuten zu lassen, für die ich nicht bürgen könnte wie für mich selber. Wenn das Ihnen die Überzeugung gibt, daß ich Sie liebe und Ihrer Achtung würdig bin, so bin ich glücklich und verlange keinen anderen Lohn. Ich werde mit Ihnen verkehren, wie ein Vater mit seiner Tochter, wenn es Ihnen widerstrebt, mir ein lebhafteres Gefühl zu bezeigen, das nicht von Herzen kommen würde. Verlassen Sie sich auf mein Wort; ich halte mich für verpflichtet, Sie wieder mit den Männern auszusöhnen, indem ich Ihnen beweise, daß es ebenso ehrenhafte gibt, wie Ihr Verführer gemein und niederträchtig ist.«
Eine gute Viertelstunde lang saß Betty in tiefem Schweigen da. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf auf ihre Hände gelegt und sah mich fest an. Sie sah weder traurig noch erstaunt aus, aber offenbar waren ihre Gedanken sehr beschäftigt. Es war mir lieb, daß sie sich ihre Antwort reiflich überlegte, damit sie zu einem endgültigen Entschluß käme. Endlich sagte sie: »Glauben Sie nicht, mein würdiger und teurer Freund, mein Schweigen sei ein Zeichen der Unentschlossenheit. Wenn dies der Fall wäre, so würde ich mich selber verachten. Ich bin verständig genug, um die Weisheit Ihrer Ratschläge zu schätzen und um die edle Quelle zu erkennen, aus der sie entspringt. Ich nehme Ihren Rat an und erkenne es als eine große Wohltat der Vorsehung, daß ich das Glück gehabt habe, einem Mann von Ihrem Charakter in die Hände gefallen zu sein und Ihre Teilnahme in so hohem Maße erregt zu haben, daß Sie für mich alles tun, was ein Vater für eine herzlich geliebte Tochter tun könnte.«
»Wir wollen also nach Livorno zurückkehren und augenblicklich abfahren.«
»Was mich noch schwanken läßt, ist die Ungewißheit, wie ich mich versichern kann, daß Sir B. M. mir verzeihen wird. Ich zweifle nicht an seiner Verzeihung, aber es ist schwierig, an ihn heranzukommen, denn er ist wohl freundlich, zärtlich und liebevoll, aber auch kitzlich im Ehrenpunkt und läßt sich leicht von der allerersten Aufwallung hinreißen. Dieser verhängnisvolle Augenblick muß vermieden werden, denn er würde mich vielleicht töten, und dann wäre ich an seinem Untergang schuld.«
»Darüber können Sie unterwegs nachdenken und mir dann Ihre Absichten mitteilen.«
»Er ist sehr klug und wird sich von einer Lüge nicht täuschen lassen. Ich glaube, ich muß ihm alles schriftlich gestehen, ohne ihm auch nur das geringste zu verbergen; denn wenn ich irgend etwas beschönigen wollte, so würde ihn dies aufregen, und wenn er mutmaßen könnte, daß man ihn betrügen wolle, so würde er in eine unzähmbare Wut geraten. Wenn Sie meinen, daß Sie ihm schreiben wollen, so dürfen Sie ihm ja nicht sagen, daß ich seine Verzeihung verdiene; er muß selber urteilen, ob ich derselben würdig bin oder nicht. Er wird meine Reue aus dem Brief ersehen, den ich ihm schreiben werde; es wird ein Brief voller Tränen sein, und er wird darin meine Seele finden; aber er darf nicht wissen, wo ich mich befinde, bevor er nicht ausgesprochen hat, daß er mir vergibt; alsdann wird weiter nichts mehr zu befürchten sein. Edel und ehrenhaft, wie er ist, wird er sein Wort halten und bis an seinen Tod mit mir leben, ohne mir jemals meinen Fehltritt vorzuwerfen. Wie unglücklich fühle ich mich, daß ich mich so gegen ihn habe vergehen können!«
»Nehmen Sie es mir nicht übel – aber ich möchte Sie fragen, ob Sie ihm schon früher einmal ...«
»Niemals, lieber Freund! Das schwöre ich Ihnen.«
»Wie ist seine Vergangenheit?«
»Seine erste Frau hat ihm großen Kummer bereitet. Er hat sich ihretwegen zweimal auf den Antillen geschlagen; er war damals Offizier. Nachdem er sich zum zweiten Male verheiratet hatte, zwangen dringende Gründe ihn, sich scheiden zu lassen. Ich lernte ihn vor zwei Jahren in unserer Pension kennen, wohin er mit Nancys Vater kam. Als ich dann das Unglück hatte, meinen Vater zu verlieren und als dessen Gläubiger sich seines ganzen Vermögens bemächtigten, mußte ich die Pension verlassen, weil ich das Kostgeld nicht bezahlen konnte. Nancy, Sophie und alle meine Freundinnen waren hierüber untröstlich, denn ich war allgemein beliebt. Da übernahm Sir B. M. es, für meinen Unterhalt zu sorgen, und setzte mir eine kleine Rente aus, die mich für mein ganzes Leben gegen Armut schützt. Die Dankbarkeit bewirkte, was die Liebe vielleicht nicht bewirkt hätte, und ich bat ihn, mich mitzunehmen, als ich erfuhr, daß er England auf längere Zeit verlassen würde. Meine Bitte setzte ihn in Erstaunen, und als echter Ehrenmann sagte er mir, er liebe mich zu sehr, als daß er hoffen könne, nur die Gefühle eines Vaters für mich zu haben, wenn er mich mitnähme. Es schien ihm unmöglich zu sein, daß ich ihn anders als mit töchterlicher Liebe lieben könnte. Wie Sie begreifen werden, beseitigte diese Erklärung alle Schwierigkeiten. Ich antwortete ihm: ›Einerlei, auf welche Art Sie mich lieben, ich werde glücklich sein, wenn ich etwas zu Ihrem Glücke beitragen kann.‹ Er gab mir hierauf aus eigenem Antriebe ein schriftliches Versprechen, mich zu heiraten, sobald er es gesetzlich könnte. Wir verließen England, und ich habe ihm niemals den geringsten Anlaß zu Klagen gegeben.«
»Ich bin fest überzeugt, er wird Ihnen verzeihen, meine liebe Betty. Aber trocknen Sie Ihre Tränen und lassen Sie uns abfahren, und kein Mensch wird erfahren, daß wir miteinander bekannt gewesen sind. Ich werde Sie sicheren und ehrlichen Händen anvertrauen und die Stadt nicht früher verlassen, als bis Sie wieder bei Sir B.M. sind, den ich bereits liebe. Sollte etwa dieser Herr unerbittlich sein, so verspreche ich Ihnen, Sie niemals zu verlassen und Sie, wenn Sie es wünschen, nach England zu bringen.«
»Aber wie können Sie Ihre Geschäfte aufgeben?«
»Ich will nicht lügen, um mir ein besonderes Ansehen zu geben, liebe Betty: ich habe in Rom nichts zu tun, so wenig wie anderswo. Es macht mir nichts aus, ob ich nach Rom oder nach London gehe, wohl aber liegt mir daran, Ihr Unglück zu verhindern.«
»Was soll ich tun, um Ihnen meine Dankbarkeit zu bezeugen?«
Ich ließ den Fuhrmann kommen und sagte ihm, ich müsse durchaus nach Viterbo zurückfahren. Er machte Einwendungen, die ich damit behob, daß ich ihm ein paar Piaster gab und Postpferde nahm, um die seinigen nicht zu ermüden.
Wir kamen um sieben Uhr in Viterbo an, und ich fragte in scheinbarer Aufregung, ob man nicht meine Brieftasche gefunden hätte, die ich auf meinem Bett vergessen zu haben behauptete. Die Magd versicherte, es habe kein Mensch außer ihr das Zimmer betreten, und da die angeblich verlorene Brieftasche sich nicht wiederfand, so bestellte ich mit ruhiger Miene ein Abendessen, hörte jedoch nicht auf, über mein Unglück zu jammern. Ich sagte zu Betty, ich müßte nach meiner Meinung so handeln, damit der Fuhrmann keine Schwierigkeiten machte, mich mit ihr nach Siena zurückfahren zu lassen; denn er hätte sich für verpflichtet halten können, sie ihrem angeblichen Gatten zu übergeben.
Wir ließen den kleinen Koffer heraufkommen; mit leichter Mühe sprengte ich das Schloß, und Betty nahm ihren Mantel und ihre paar Sachen heraus. Hierauf untersuchten wir die Sachen, die dem Abenteurer gehörten und die vielleicht alles waren, was er besaß: einige zerlumpte Hemden, zwei oder drei Paar geflickte Seidenstrümpfe, eine Hose, ein Beutel mit Puder, ein Topf Schminke und etwa zwanzig Hefte, lauter Komödien oder komische Opern; außerdem ein Paket Briefe, die augenscheinlich sehr interessant sein mußten; Betty machte daher den Vorschlag, wir sollten sie zusammen lesen.
Das erste, was uns an diesen Briefen auffiel, waren die Adressen: an Herrn l'Etoile, Schauspieler in Marseille, in Bordeaux, in Bayonne, in Montpellier usw.
Die arme Betty tat mir leid. Sie sah sich von einem elenden Possenreißer betrogen und schämte sich darüber so sehr, daß sie Herzkrämpfe bekam.
»Wir wollen diese Wische morgen lesen, meine liebe Betty; heute wollen wir an etwas anderes denken.«
Das arme Mädchen atmete auf.
Schnell aßen wir zu Abend, und dann bat mich Betty, sie einen Augenblick allein zu lassen, damit sie sich zu Bett legen und die Wäsche wechseln könnte.
»Bitte, tun Sie das, und wenn Sie es wünschen, werde ich mein Bett in einem Nebenzimmer zurecht machen lassen.«
»Nein, mein großmütiger Freund! Ich muß ja Ihre Gesellschaft lieben, denn Sie haben mich von Ihrer Freundschaft überzeugt. Was wäre ohne Sie aus mir geworden?«
Ich kam erst wieder herein, als ich annahm, daß sie im Bett läge. Als ich mich ihr näherte, um ihr Gute Nacht zu sagen, umarmte sie mich mit solcher Dankbarkeit, daß ich fühlte, die Schäferstunde habe für mich geschlagen.
Mit dem übrigen will ich dich verschonen, lieber Leser. Ich war glücklich und konnte mich versichern, daß ihr Glück dem meinigen nichts nachgab.
Wir waren in der Morgenfrühe eben eingeschlafen, als der Fuhrmann an unsere Tür klopfte.
Ich kleidete mich in aller Eile an, um ihn zu empfangen, und sagte zu ihm: »Höre, ich muß durchaus meine Brieftasche wieder haben und hoffe sie in Acquapendente zu finden ...«
»Ei, schon gut, mein werter Herr!« sagte der Bursche mit seiner italienischen Mimik. »Bezahlen Sie mich, wie wenn wir bis Rom gewesen wären, und geben Sie mir täglich eine Zechine, so fahre ich Sie, wenn Sie wollen, bis nach England!«
»Da, ich sehe, du bist ein vernünftiger Mann.«
Ich gab ihm Geld, und wir machten einen neuen Vertrag. Um sieben Uhr machten wir in Montefiascone Halt, um an Sir B. M. zu schreiben, sie englisch, ich französisch.
Ich hatte bereits bei mir beschlossen, Betty zum Korsen Rivarola zu bringen; diesen hatte ich als einen klugen Mann schätzen gelernt, und er hatte eine schöne und anständige Frau.
Betty zeigte eine Zufriedenheit und Sicherheit, die mich entzückte. Sie sagte mir, sie sei voller Hoffnung, und lachte, indem sie sich vorstellte, was für ein Gesicht der Komödiant machen würde, wenn er sich in Rom allein fände. Sie hoffte, wir würden dem Fuhrmann begegnen, der ihren Koffer hätte, und könnten ihn dann leicht herausbekommen.
»L'Etoile kann uns nachsetzen.«
»Er wird es nicht wagen.«
»Das glaube ich ebenfalls; für alle Fälle aber werde ich ihm einen Empfang bereiten, daß ihm die Lust vergehen soll, die Sache noch weiter zu treiben; denn wenn er nicht umkehrte, würde ich ihm eine Kugel durch den Kopf schießen.«
Bevor ich meinen Brief an Sir B. M. zu schreiben begann, erinnerte Betty mich noch einmal daran, daß ich ihm nichts verschweigen sollte.
»Auch nicht die Belohnung, die du mir gewährt hast?«
»Oh! Diese muß ein Geheimnis unserer Herzen bleiben.«
In kaum drei Stunden waren wir mit unseren Briefen fertig. Betty war mit meinem Brief zufrieden, und der ihrige, den sie mir übersetzte, war ein Meisterwerk an Kunst und Gefühl; ich war überzeugt, daß sie damit ihren Zweck vollkommen erreichen würde.
Ich gedachte sofort nach der Ankunft in Siena die Post zu nehmen, um sie schleunigst vor der Ankunft ihres Geliebten in Sicherheit zu bringen.
Was mich in Verlegenheit setzte, war der Wechsel des Narren; denn mochte er echt oder falsch sein, so mußte ich jedenfalls versuchen, ihm denselben zuzustellen, und ich wußte nicht, wie ich das machen sollte.
Sofort nach dem Essen fuhren wir wieder ab, trotz der Hitze, und waren in Acquapendente mit Einbruch der Nacht, die wir in den Wonnen einer gegenseitigen Liebe verbrachten.
Als ich am Morgen aufstand, sah ich vor dem Gasthof einen beladenen Frachtwagen, der gerade eben nach Rom abfahren wollte.
Mir fiel ein, dies könnte wohl der Wagen sein, worauf Bettys Koffer sich befände; ich bat sie daher aufzustehen und sich zu vergewissern.
Wir gingen hinunter, und meine schöne Engländerin erkannte den Koffer, den sie ihrem Entführer anvertraut hatte.
Wir baten den Fuhrmann um die Herausgabe dieses Koffers, aber er ließ sich nicht erbitten, und da die Gründe, die er anführte, richtig waren, so mußten wir uns damit zufrieden geben. Das einzige, was er uns bewilligen konnte, war die Zusicherung, daß der Koffer auf dem römischen Zollamte einen Monat lang unter Verschluß bleiben sollte, damit sie ihre Ansprüche geltend machen konnte. Ein Notar wurde gerufen, um die Beschlagnahme zu beglaubigen, für die der Fuhrmann die Bürgschaft übernahm. Dieser, der ein sehr ehrlicher und verständiger Mann zu sein schien, versicherte uns, er hätte kein anderes Gepäck mit der Adresse des Grafen de l'Etoile empfangen. Wir gewannen daher die Überzeugung, daß unser Komödiant nur ein Landstreicher war, der auf gewinnreiche Abenteuer auszog, und daß die Lumpen, die wir bei uns hatten, seine ganze Habe ausmachten.
Nach der glücklichen Erledigung dieser Angelegenheit wurde Betty ganz reizend.
»Der Himmel«, rief sie, »wird nichts dagegen haben, daß alles in Ordnung kommt, und mein Erlebnis wird dazu dienen, daß ich mich in Zukunft vor jedem tollen Streich in acht nehme, denn die Lektion war derb genug, und es hätte noch schlimmer ausfallen können, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, Ihnen zu begegnen.«
»Ich wünsche Ihnen Glück, daß es mir gelungen ist, Sie so schnell von einer Leidenschaft zu heilen, die Ihnen Ihre Vernunft hätte kosten können.«
»Ach, die Vernunft einer Frau ist ein recht zerbrechliches Gefäß. Ich schaudere, wenn ich nur an das Scheusal denke. Trotzdem glaube ich, ich wäre nicht so schnell wieber zu mir gekommen und hätte nicht die Überzeugung gewonnen, daß er mich nicht liebte, wenn der Elende nicht seiner Heuchelei müde geworden wäre, und wenn er mir nicht so verächtlich und zornig gesagt hätte, er sei überzeugt, ich habe Ihnen bereits gewährt, was eine verlorene Dirne dem ersten besten gewähren könne. Diese abscheulichen Worte nahmen die Siegel von meinen Augen, indem sie meine Entrüstung erregten und mir den ganzen Umfang meiner Schande zeigten. Ich glaube, ich hätte Ihnen geholfen, ihm mit Ihrem Degen das Herz zu durchbohren, wenn nicht der Feigling die Flucht ergriffen hätte. Es ist mir jedoch sehr angenehm, daß die Furcht ihm den guten Gedanken gab, hinauszulaufen – nicht seinetwegen, aber weil wir in großer Verlegenheit gewesen wären, wenn ein solches Unglück eingetreten wäre.«
»Sie haben recht: es ist ein großes Glück; aber er wird doch irgendwo gehängt werden.«
»Das ist seine Sache; aber ich bin überzeugt, er wird es niemals wagen, sich vor Ihnen oder vor mir sehen zu lassen.«
Wir kamen gegen zehn Uhr in Radicofani an und setzten uns an einen Tisch, um den für Sir B. M. bestimmten Briefen noch eine Nachschrift hinzuzufügen.
Wir saßen am selben Tisch, Betty gegenüber der geschlossenen Tür und ich so dicht bei der Tür, daß ein Eintretender mich nur hätte sehen können, wenn er sich umgedreht hätte.
Betty war sehr anständig vollkommen bekleidet; ich aber hatte wegen der erstickenden Hitze meinen Rock ausgezogen; obgleich ich aber in Hemdsärmeln war, hätte ich mich doch in Italien in diesem Aufzuge vor der anstandigsten Frau sehen lassen können.
Plötzlich hörte ich schnelle Schritte auf dem Gange. Unsere Türe wurde gewaltsam aufgestoßen, ein wütender Mensch drang in unser Zimmer und rief bei Bettys Anblick: »Ah! Da bist du!«
Ich ließ ihm keine Zeit, sich umzudrehen und mich zu erblicken, sondern sprang auf ihn zu und packte ihn kräftig an den Schultern; hätte ich ihm die Zeit gelassen, sich umzudrehen, so würde er mich mit der Pistole, die er in der Hand hielt, totgeschossen haben.
Als ich auf ihn zusprang, hatte ich unwillkürlich die Tür geschlossen, und in dem Augenblick, wo er mir zurief: »Laß mich los, Verräter!« hatte Betty sich vor ihm auf die Knie geworfen und ihm gesagt: »Du irrst dich – er ist mein Retter!«
Sir B.M. aber schrie in seiner Wut immerzu: »Laß mich los, Schurke!«
Da er dabei die Pistole in der Hand hatte, so dachte ich natürlich nicht daran, seiner Aufforderung Folge zu leisten.
Während er sich aus Leibeskräften bemühte, sich frei zu machen, und ich mich ebensosehr anstrengte, um ihn festzuhalten, fiel er hin, und ich auf ihn.
Von draußen wurde gegen die Tür gedrängt, denn der Wirt und die Kellner waren auf den Lärm herbeigeeilt; da wir aber gegen die Tür gefallen waren, so konnte man diese nicht öffnen.
Betty hatte die Geistesgegenwart, ihrem Engländer die Pistole zu entreißen; sobald ich sah, daß er keinen Schaden anrichten konnte, ließ ich ihn los, indem ich zu ihm sagte: »Mein Herr, Sie irren sich!«
Betty warf sich wieder auf die Knie und versicherte immer wieder, er irre sich, ich sei ihr Retter, er möge sich doch beruhigen.
»Wieso dein Retter?« sagte B. M.
Betty nahm den Brief und sagte: »Lies diesen Brief!«
Ohne aufzustehen, las der Engländer meinen Brief; während er las, öffnete ich zuversichtlich die Tür und sagte dem Wirt, er möchte das Mittagessen für drei anrichten und die Leute von unserer Tür fortschicken, denn alles wäre in Ordnung.